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Süßer Tod, selge Ruh

Hello, Freunde des süßen Todes, der selgen Ruh,

Merkel, Steinmeier, Dobrindt an der Absturzstelle. Medien in endlosen Sondersendungen. Talkshows mit veränderten Themen, Kabarett wird verschoben. Geschlossen zeigt die todessehnsüchtige Nation ihre – Unfähigkeit zu trauern.

Sie reden nicht über den Tod, sondern über Flugzeuge. Endlos spekulieren sie über Absturzgründe, drehen jedes Wrackteil, jeden Stein am Unfallort um, analysieren jeden Flugzeugabsturz der letzten Jahre, befragen Techniker und Experten. Über den Tod reden sie nicht. Kohorten von Seelenhirten fallen in der Unfallstelle ein, um das Unglück der Menschen für ihren „gnädigen Gott“ auszubeuten. Sie sind bestürzt über das Unfassliche, verordnen nationale Trauerposen. Über den Tod reden sie nicht. Sie geben sich erschüttert, weil eingetreten ist, was sie sonst zu rühmen pflegen: das unberechenbare Risiko, hier ward‘s Ereignis. Über den Tod reden sie nicht. Sie geben sich bestürzt, weil das Funktionieren des perfekten Alltags einen tiefen Riss erhielt. Über den Tod reden sie nicht. Sie lieben das Abenteuer, das Spiel mit dem Tod. Doch wenn der Tod zuschlägt, sind sie fassungslos.

Das Unfassliche vereint die Nation. Im Leben zertrennt, ist das Volk im Tod vereint. Todessehnsucht grassiert unter den Deutschen, die sich bestrafen müssen für ihre Herzenshärtigkeit, mit der sie sich über andere Nationen erheben. Gefühllosigkeit und Strafbedürfnisse, Hybris und selbstzerfleischende Demut sind die schwankenden Pole der Kollektivseele, die man glaubte, längst überwunden zu haben, um

im Reich der Unvergleichlichen anzukommen.

Das ist die Borniertheit des Individualismus, dass er sich für unvergleichlich hält. Jeder Mensch ist einmalig – aber vergleichlich. Wären wir unvergleichlich, könnten wir den Anderen nicht als alter ego entdecken. Wir müssen uns vergleichen, um unsere Ähnlichkeit und einmalige Unähnlichkeit wahrzunehmen. Nichts Menschliches ist mir fremd: was wäre das für ein unbarmherziger Richter, der in den Schandtaten seiner Angeklagten nicht die eigenen entdeckte.

Tat twam asi, Das bist Du. Wie könnten wir menschliche Geschwister sein, wenn wir nicht alle Menschen wären. Die indische Weisheit bezieht die Vergleichbarkeit auf die ganze Natur. Welch tröstlicher Gedanke, dass wir im Tode dorthin zurückkehren, woher wir gekommen sind: in die Arme der Natur.

Natürliche Gleichheit ist kein Einwurf gegen die Einmaligkeit jedes Einzelnen, die erst sichtbar wird, wenn wir uns als vergleichbare Naturwesen betrachten. Der moderne Individualismus, die Unvergleichlichkeit als Quelle obszöner Ungleichheiten, ist das Fundament neoliberaler Monaden. Hier darf jeder sich über jeden erheben, jeder sich von jedem abgrenzen, um sich selbst für gottähnlich zu halten und alle anderen in den Schatten zu stellen.

Die imaginäre Unvergleichlichkeit dient den Herren der Welt als Legitimation ihrer ökonomischen Allmacht über den schäbigen Rest der Welt. Die Schwachen und Obdachlosen, denen sie Almosen zuwerfen, haben keinen Zutritt zu ihren gleißnerischen Banketten, auf denen sie den goldenen Klingelbeutel kreisen lassen. Den Anblick der schäbigen Loser ertragen sie nicht, wenn sie ihren autistischen Individualismus in Glanz und Gloria feiern.

„Die Anhäufung von Reichtum dient den Wohlhabenden dazu, ihre Stellung in der Gesellschaft zur Schau zu stellen“, so Thorstein Veblen, der unbestechliche amerikanische Kritiker der „Plünderer und krankhaft räuberischen“ Tycoons.

Der moderne Individualismus lässt den Menschen kein gleiches Naturwesen sein. Gott zerschneidet die Menschheit und selektiert nach Gnade und Barmherzigkeit, nach Erbarmungslosigkeit und ewigem Zorn.

Vor Gott sind nicht alle Menschen gleich. Als isolierte Einzelne sind sie zu Heil und Unheil determiniert. Nicht einmal die Familie gilt als Gewähr der Gleichheit. Seine leibliche Mutter fährt der hochfahrende Sprössling an: „Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?“ Nicht Natur entscheidet über die Verbundenheit der Kreaturen, sondern die Unterwerfung unter den naturfeindlichen Himmel: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“ „Wer den Willen meines Vaters in den Himmeln tut, der ist mir Bruder und Schwester.“

Der „persönliche“ Gott entscheidet in Willkür über die „persönliche“ Individualität, auf die kein Mensch aus natürlicher Abstammung und Tüchtigkeit ein Recht besitzt. Die einen werden Gefäße des Zorns, die anderen Gefäße der Gnade. „Gott sieht jeden Menschen als Einzelnen an“. Und nicht als Teil einer elementaren Gemeinschaft, die sich gegenseitig stützt und bestärkt.

Eine naturgegebene und selbsterarbeitete Solidarität der Menschen ist ausgeschlossen. „Denn ich bin gekommen, jeden Menschen von jedem Menschen zu entzweien“. Sie sollen nicht untereinander verbunden sein, um sich gegenseitig zu unterstützen. Sie sollen atomisierte Unvergleichliche sein, aus denen Er auswählt, die Er auswählt und verwirft, die Er verwirft.

Der neoliberale Individualismus ist ein religiöser Heilsindividualismus, in welchem Eltern gegen Kinder ausgespielt werden, Schwestern gegen Brüder und alle gegen alle. Das zoon politicon muss im Kern zerstört werden.

Warum hassen liberale Individualisten den Staat? Weil er die irdische Gemeinschaft vernunftfähiger Wesen ist, die keinen Gott benötigen, um auf der Agora zu streiten und zu entscheiden.

Warum faseln alle von einem Staat, obgleich es in Demokratien keinen Staat geben kann? Es gibt kein Väterchen Staat, das übers Ohr geschlagen werden könnte. Es gibt keinen überheblichen Staat, der unbefugt in die Belange der Menschen eingriffe. Es gibt nur den Willen des Volkes, der sich selbst bestimmt. Ist der Wille töricht, war das Volk töricht, das den törichten Willen wählte. Ist der Wille klug und weise, ist er die Frucht eines klugen und weisen Volkes. Alles ist die Schuld, alles das Verdienst des Volkes.

Kommt es zu eigenmächtigen staatlichen Wucherungen, die unabhängig vom Willen des Volkes agieren und sich zu Herren über alle anderen erheben, müssen sie als Krebsgeschwüre demokratiefeindlicher Cliquen herausoperiert werden. Hayeks individualistische Ökonomie, die sich über den Willen des Volkes erhebt, muss zurechtgestutzt und in Schranken verwiesen werden.

Neoliberale hassen die solidarischen Fähigkeiten des zoon politicon. Sie wollen den Staat zerschlagen, um ihren nicht gewählten ökonomischen Staat zu etablieren, in dem sie als ungekrönte Despoten agieren. Augustins Verfluchung des Staats als Räuberhorde wurde zum Fundament der neoliberalen Feindschaft gegen den demokratischen Staat.

Eine intakte Demokratie kann kein religiös motivierter, wirtschaftlich ungleicher Individualismus sein. Selbstbewusste Demokraten sind einander gleich oder ähnlich. Weshalb sie fähig sind, eine gleiche Wahrheit zu suchen und sich zu einer gleichen Moral durchzukämpfen.

Auf dem Fundament der Gleichheit kann sich jeder zur einmaligen Persönlichkeit weiter entwickeln. Wahre Persönlichkeiten bereichern die Polis mit qualitativer Einmaligkeit; neoliberale Charaktermasken schädigen die Polis mit quantitativer Unvergleichlichkeit. Ihnen geht es nur gut, wenn es anderen schlecht geht.

Mündige Persönlichkeiten erfreuen sich an der Mündigkeit ihrer MitbürgerInnen. Propagandisten der Ungleichheit ertragen keine Selbstdenker in ihrem despotischen Ambiente.

Die deutsche Demokratie ist keine Gemeinschaft mündiger Persönlichkeiten. Durch Unvergleichlichkeitszwänge zum ökonomischen Wettbewerb dressiert und getrieben, sehnen sie sich nach der Einheit – im Tode. Im Leben getrennt, im Tode vereint. Wenn die Welt immer mehr von Krieg und Kriegsgeschrei widerhallt, fühlen die Deutschen die Mängel ihrer gesellschaftlichen Zerrissenheit.

Doch ihr subkutanes Fühlen bleibt folgenlos. Die Gründe ihrer Zerrissenheit zu erforschen und politische Mittel für eine solidarische Gesellschaft ausfindig zu machen, sind sie nicht fähig.

Der gestrige Tag des Flugzeugunglücks wurde zum Tag einer nationalen Todessehnsucht, die sich hinter der Maske ihrer Unfähigkeit zu trauern zu einem medialen Tsunami aufschaukelte. Nein, ihr Wohlstand ist nicht sicher. Nein, ihre neue europäische Macht ist läppische Anmaßung, die sie schnell die Freundschaft verbündeter Nationen kosten kann. Ist der steinharte Boden alltäglicher Sicherheit erst einmal aufgebrochen, schlüpfen die Dämonen der unerledigten Hauptprobleme aus dem Schlund der Verdrängung.

Was tut Merkel & Co gegen die Klimakatastrophe? Was ist mit den unzähligen Opfern des westlichen Wohlstands in der ganzen Welt? Wohin mit den Flüchtlingen, die Deutschland zu überfluten scheinen? Was ist mit Syrien, was mit der Ukraine und Russland? Was wird aus Israel-Palästina, was aus Obama-Netanjahu? Was ist mit den Chinesen, die im Dauersmog verkommen? Wohin treiben die ehedem linken südamerikanischen Staaten? Wird das Amazonas-Becken, die Lunge der Welt, nicht noch immer abgeholzt? Was wird aus den vielen unstabilen Staaten Afrikas?

Ein nationales Unglück – und das Elend der Welt lässt sich nicht mehr mit ritualisierten Verdrängungskünsten ignorieren. Dämonen kommen selten allein.

Schon immer schwankten die Deutschen zwischen nationalen Hochgefühlen und allgemeiner pessimistischer Weltdeutung. Der Untergang des Abendlands, ein deutscher Welterfolg, steht wieder vor der Tür. War der militaristische Geist zweier Weltkriege nicht ein äußerstes, verzweifeltes Mittel, um den Untergang der Welt durch Exekutieren des „Bösen“ zu verhindern?

Wie oft konnte man in den letzten Tagen den Schreckens-Satz hören: das hätte ich mir vor kurzem noch nicht vorstellen können, dass Putin mit Atomwaffen droht. Dass der Kalte Krieg wieder ausgebrochen ist. Dass die Welt in zunehmender Geschwindigkeit in Blöcke zu zerbrechen scheint. Dass Weltfrieden und eine gerechte Menschheit als utopische Traumtänzereien verhöhnt werden. Wie konnte das passieren? Schlafwandeln wir erneut in eine globale Katastrophe? Bewusstseinslos und unschuldig sein wollend? Ach, ich bin der Welt so müde, komm, ach komm, du süßer Tod.

Komm, süßer Tod, komm selge Ruh!

Komm führe mich in Friede,

weil ich der Welt bin müde,

ach komm! ich wart auf dich,

Komm, süßer Tod, komm, selge Ruh!

O Welt, du Marterkammer,

ach! bleib mit deinem Jammer

auf dieser Trauerwelt,

der Himmel mir gefällt,

der Tod bringt mich darzu.

Komm, selge Ruh!

Wenn die Utopie eines gemeinsamen Weltfriedens verpönt und verboten ist, bleibt nur die Utopie eines kollektiven Todes. Wer das Glück im Leben verpasst, muss es vom nationalen Tod, ja vom apokalyptischen Desaster eines alles auslöschenden Weltenbrandes erwarten.

Deutschland kennt den Liebestod als nationales Ereignis. Wagner war der Prophet eines gewissen Hitler, der sich der Welt als Messias beweisen wollte. Sei es durch gewalttätigen Triumph über die Feinde, sei es durch Abschlachten des eigenen Volkes, wenn es scheitern sollte, der Welt den wahren Erlöser zu präsentieren. Hitler konnte Wagners Opern fast auswendig, in denen der Triumph der Erwählten nur im Tode möglich schien. Aus Tristan und Isolde:

O sink hernieder, Nacht der Liebe,

gib Vergessen, daß ich lebe;

nimm mich auf in deinen Schoß,

löse von der Welt mich los!

So stürben wir, um ungetrennt –

ewig einig, ohne End’,

ohn’ Erwachen – ohn’ Erbangen –

namenlos in Lieb’ umfangen,

ganz uns selbst gegeben,

der Liebe nur zu leben!

Ohne Nennen, ohne Trennen,

neu Erkennen, neu Entbrennen;

ewig endlos, ein-bewußt:

heiß erglühter Brust

höchste Liebeslust!

Entweder deutsches Himmelreich auf Erden – oder der kollektive Tod als Erlösung von der miserablen Welt. Die Nationalsozialisten waren die militaristischen Vollstrecker der romantischen Sehnsucht nach der überirdischen Vollendung. In den Hymnen der Nacht hatte Novalis dem „Alles oder Nichts“ der Nationalsozialisten poetisch vorgearbeitet:

Was hält noch unsre Rückkehr auf,
Die Liebsten ruhn schon lange.
Ihr Grab schließt unsern Lebenslauf,
Nun wird uns weh und bange.
Zu suchen haben wir nichts mehr –
Das Herz ist satt – die Welt ist leer.

Hinunter zu der süßen Braut,
Zu Jesus, dem Geliebten –
Getrost, die Abenddämmrung graut
Den Liebenden, Betrübten.
Ein Traum bricht unsre Banden los
Und senkt uns in des Vaters Schoß.

Mit Wohlstand betrügen sich die Deutschen über ihre Lebensunfähigkeit hinweg. Warum so viele Depressionen im Land der gescheiterten Welterlöser? Sie schaffen es immer weniger, sich mit dem Ramsch toter Dinge und des kalten Zasters zufrieden zu geben. In der Depression öffnet sich der mephistophelische Schlund zur höllischen Wahrheit. „Leben ist eine Krankheit des Geistes, die Begeisterung für den Tod ein philosophischer Akt.“

„Ist es nicht klug, für die Nacht ein geselliges Lager zu suchen?

Darum ist klüglich gesinnt, wer auch Entschlummerte liebt.“

Nacht steht für den Tod, geselliges Lager für das Volk, das im gemeinsamen Tod die Erfüllung sieht. Von Nekrophilie – der zwanghaften Sehnsucht nach dem Tode – sprechen die Seelenexperten.

Für den kapitalismuskritischen Psychoanalytiker Erich Fromm ist Nekrophilie „eine Charakterorientierung, die in Verkehrung der biophilen Kräfte des Menschen im modernen Sozialcharakter eine zunehmende Tendenz zur Zerstörung zeigt. Nekrophilie und Destruktivität sind nach Fromm die „Folge ungelebten Lebens“ (und – im Gegensatz zu Freud – nicht Ausdruck eines biologisch fixierten Destruktions- oder Todestriebes). Kennzeichen der Nekrophilie im sozialen Sinne ist nach Fromm eine Vergötterung der Technik. Symbole des Nekrophilen sind Fassaden aus Beton und Stahl, die Megamaschine, die Vergeudung von Ressourcen im Konsumismus und die Art, wie der Bürokratismus Menschen als Dinge behandelt. In seinem Werk Anatomie der menschlichen Destruktivität lieferte Fromm eine Analyse der Nekrophilie und porträtierte Adolf Hitler als klinischen Fall von Nekrophilie.“

Da die Deutschen (nur die Deutschen oder die ganze westliche Welt?) nicht leben können, müssen sie den Tod als Erlösung herbeisehnen. Der französische Politiker Clemenceau hasste die Deutschen, weil sie in den Tod vernarrt waren. „Krankheit und Tod gehören zum menschlichen Vergnügen“, schrieb Novalis. In dem Augenblick, in welchem ein Mensch die Krankheit oder den Schmerz zu lieben anfinge, „läge die reizendste Wollust in seinen Armen.“

Die Deutschen zelebrieren ihr nationales Unglück, als seien sie erleichtert, endlich echte Gefühle zeigen zu dürfen. Doch sie reden über Flugzeugtechnik und gefallen sich im Schauder unergründlichen Sinnfragens. Nicht anders als bei Holocaust-Gedenkfeiern sind sie nicht authentisch, sondern posieren mit leeren Gesichtern, in Demut Beifall heischend für ihre gekonnte Performance. Die Kanzlerin als leidende Mutter der Nation immer an der Spitze der von der Trauer Profitierenden.

Wer jahrelang sein Selbstwertgefühl durch Zahlen des Konsums und Wirtschaftswachstums repräsentiert fühlt, kann über Nacht nicht authentisch werden. Tritt der Tod hinzu, hilft kein Facebook und keine IQ-Maschine.

Die obligaten unechten Kinderfragen dürfen nicht fehlen: warum gerade diese unschuldigen Opfer und nicht jene? Als ob ein Unglück die Pflicht hätte, die Gerechtigkeit auf Erden herzustellen. Kein Tod eines unvollendeten Lebens hat Sinn – außer der Pflicht der Überlebenden, solchen Tod zukünftig mit aller Sorgfalt zu verhindern.

Dazu aber gehörte, die Vergötzung des Risikos – das Spielen mit dem Tod – einzustellen. Wer immerzu an seine Grenzen gehen, ja, dieselben übersteigen muss, darf sich nicht wundern, dass jenseits der Lebensgrenze der ordinäre Tod lauert. Sie kokettieren mit Grenzenlosigkeit, um die Grenzen des Menschen zu überschreiten – und ins Revier der Gottähnlichen einzudringen. Grenzen überschreiten und Gottwerden ist identisch.

Würde sich herausstellen, dass es sich um einen terroristischen Anschlag handelte, wäre in Deutschland der Teufel los. Die seelische Lage der Nation ist bis zum Zerreißen angespannt. Die technisch unterdrückte Kultur will schäumen und gären, will ein fruchtbares und furchtbares Chaos erleben. Alles soll umgepflügt werden. Sie trauen sich nicht, es zu sagen, doch sie empfinden es: nur eine totale Neuerfindung der nationalen Seelenlage aus den Tiefen des Todes und des Nichts kann die verdrängten Probleme der Gegenwart – weiterhin verdrängen.

Doch warum so viele Posen um so wenig Deutsche? Da draußen in der Welt kann es wesentlich höhere Opferzahlen geben – doch Deutschland macht in business as usual. Wie viele griechische Kinder wurden allein dem Moloch der europäischen Austeritätspolitik geopfert?

Edith Cresta in der TAZ verteidigt die intensiveren Gefühle der Nähe:

„Wenn das eigene Haus brennt, untergräbt das unser Gefühl von Sicherheit mehr als ein Erdbeben in Somalia. So funktionieren wir. Empathie, Mitgefühl hat immer etwas mit Sich-hinein-versetzen-Können zu tun, und das fällt uns selbstverständlich leichter, wenn es unsere vertraute Umgebung, das bekannte Gegenüber betrifft. Wir denken vielleicht kosmopolitisch, fühlen aber lokal, denn unser Gefühl braucht das konkrete Gegenüber.“

Global denken, regional fühlen und handeln? Schon in der Deutschen Bewegung wurde die allgemeine Menschenliebe aus realistischen und psychologischen Erwägungen abgewiesen. Der Mensch könne niemanden lieben, den er nicht persönlich kenne. Liebe und Verbundenheit wurden zu nationalen Gefühlen reduziert. Die kosmopolitische Moral war erledigt. Der Deutsche beschränkte sich zusehends auf Volk, Reich und Führer. Die Seele der arischen Rasse wurde völkisch.

Doch Trauer ist nicht selbstzerfleischendes Heulen und Zähneklappern. Der Chirurg trauert am besten, wenn er sein krankes Kind kaltblütig operiert, anstatt in Selbstmitleid zu zerfließen. Trauer ist keine Funktion der Nähe, sondern der Erkenntnis und Empathie. Geographische Koordinaten spielen hier keine Rolle. Juden waren Nachbarn, Kollegen, Freunde, Menschen der Nähe: die Deutschen hassten sie am meisten.

Die deutschen Medien zelebrieren schon wieder einen wahren Totenkult. Stirbt ein Promi, wird er unisono in den Himmel gehoben. Über Tote nur Grandioses, lautet die Trauerformel der Feuilletonisten. Sie feiern ihre eigene Darstellungskunst, wenn sie den Toten zum ersten Denker der Nation, zum unvergleichlichen Staatsmann, zum besten Liedermacher erheben. Willst du hierzulande berühmt werden, stürz dich ins Messer und ewiger Nachruhm – bis übermorgen – ist dir gewiss.

Es geht nicht um selbstergriffenes Vergießen von Krokodilstränen. Der größte Teil der Trauergefühle besteht aus Selbstmitleid und unterdrückter Angst vor dem eigenen Tod. Es geht darum, die Welt als Dorf zu betrachten, in dem jeder Mensch von jedem abhängig ist. Wer nicht Sorge trägt um ermordete mexikanische Studenten, sollte über Opfer einer deutschen Love Parade schweigen.

Trauern heißt, die Wunden der Menschheit erkennen und kaltblütig dafür sorgen, dass sie verbunden werden. Fähigkeit zu trauern ist Politik im Dienste der Menschen.