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Tagesmail

Der Herr gibt, der Herr nimmt

Hello, Freunde des Quasireligiösen,

was ist quasireligiös? Laut Duden: „In gewissem Sinne religiös (ohne es wirklich zu sein).“

Wir brauchen keine Orwell’schen Wahrheitsministerien, wir haben Gelehrte und beflissene Medien. Die unverfrorensten Falschmünzer direkt an der Quelle sind die Theologen, sie verfälschen das heilige Original und geben Gott Nachhilfeunterricht, was er hätte sagen sollen. Oder was er eigentlich sagen wollte, mangels Sprachkenntnissen aber nicht sagen konnte.

Für Theologen ist Gott ein Kretin, dem sie soufflieren müssen, was er denkt und wie er sich täglich neu erfinden muss. Die regelmäßig neu herausgegebenen hermeneutischen Soufflees sind die neuesten Erkenntnisse von Gottesflüsterern, die ihre Zeitgeistschmankerln als autorisierte Gottesmeinungen verkaufen.

Diese professionellen Fälscher mit bestem Gewissen, gelegentlich mit sonnigem Gemüt und viel Liebe zu den Menschen, sind nicht in der Lage, ihre ziemlich durchschnittlichen Meinungen als ihre Meinungen zu verkaufen und den Menschen unter dem Titel anzubieten: Die neuesten Erkenntnisse des Theologen XY. Selbst erdacht, ohne Anlehnung an heilige Bücher und ohne Einwirkung soufflierender Offenbarungen. Nein, diese ich-schwachen, aber ziemlich vorlauten Gesellen, verkaufen ihre Meinungen als Meinungen Gottes. Sie ziehen sich Gottesmasken an und deklarieren ihre Privaterkenntnisse als neueste Himmelsbotschaften.

Und was geschieht? Kommen die beinharten Zweifler (deutsche Journalisten erkennt man an ihrem unvergleichlich skeptischen Blick) aus den Feuilletons, die Dekonstruierer der philosophischen Fakultät, die Entlarver aller Couleur,

reißen ihnen die Masken vom Gesicht und übergeben die Entblößten dem Gelächter der Welt?

Im Gegenteil. Sie kommen alle und beten die neuesten Fälschungen als einzig wahre Verlautbarungen des Himmels an. Ein geradezu kabarettistisches Beispiel der neuesten Übersetzungskünste beschreibt die TAZ.

Sind Theologen Förster und Biologen? Woher sollen sie wissen, dass der Hirsch nicht nach frischem Wasser schreit, sondern röhrt, orgelt, blökt, grunzt? Wie der Hirsch nicht nach frischem Wasser schreit, so orgeln und blöken die Theologen nicht nach frischem Wasser der Wahrheit.

Wenn Theologen ihre Meinungen ständig verändern, aber penetrant als Deklarationen ihres himmlischen Vaters ausgeben, gelten sie als hochreligiös. Wenn andere – sozialistische und amerikanische Techniker und Silicon-Phantasten – die wortwörtlichen Botschaften des Gottes in maschinellen Fortschritt umsetzen, gelten sie als quasireligiös. Was dem Heiligen Buch entnommen wird, gut klingt und womit man hausieren gehen kann, das muss echt-religiös sein. Was nicht ganz koscher klingt, ja eher anrüchig, das muss dubios sein und wird als schein-religiös abgefertigt.

Der Erfolg bei den Menschen entscheidet. Kommt etwas in der Moderne an, muss es religiös sein. Wird es verworfen, kann es nicht religiös sein. Ist etwas unklar, nennt man es vorsichtshalber quasireligiös. Kommt eines Tages doch noch die Zustimmung der Gläubigen, dann war‘s echt-religiös. Kommt sie nicht, war es ein scheinreligiös-gottloses Produkt, das mit Hilfe erschlichener himmlischer Reputation die Geister der Schafe verwirren will.

Verwirrung der Gläubigen mit Worten und Aktionen, die vom echten Gottessohn sein könnten, es aber nicht sind: das ist die Spezialdisziplin des Antichrist, des falschen Propheten:

„Wenn nun jemand zu jener Zeit zu euch sagen wird: ‚Siehe, hier ist der Christus! Sieh, da ist er!‘ so glaubt es nicht. Denn mancher falsche Christus und falsche Prophet wird sich erheben und Zeichen und Wunder tun, so dass sie auch die Auserwählten verführen würden, wäre es möglich. Ihr aber, seht euch vor! Ich habe es euch alles zuvor gesagt.“

Göttliches muss leicht imitierbar sein. Die Kunststücke der pharaonischen Zauberer brauchten sich hinter denen des Mose nicht zu verstecken. Seltsam: einerseits ist alles Göttliche einmalig und unvergleichlich, andererseits leicht von jedem hergelaufenen Teufel nachzuäffen. Sodass man wie ein Schießhund aufpassen muss, ob es echt ist oder nicht? Der Teufel ist ein gelungenes Produktplagiat seines Herrn, der es mit links fertig bringt, die Alleinstellungsmerkmale des Originals – durch Industriespionage im Himmel? – täuschend echt vorzugaukeln.

Nehmen wir Obama. Zuerst der allerneueste Gottessohn, ausgestattet mit der Gewalt des Wortes, ein Letzter, der Erster geworden war – und nun: eine Mogelpackung? Ein Scharlatan? Ein Antichrist, der dem wahren Heilsbringer verdammt ähnlich ist?

(Nicht der unwichtigste Aspekt bei der Beurteilung des ersten schwarzen Präsidenten ist seine Hautfarbe. Jesus war Weißer. Schwarze können keine charismatischen Figuren sein, so noch immer der weit verbreitete Glaube im Bible Belt. Besonders ausgeprägt unter Mormonen:

„Die Neger stehen mit anderen Rassen nicht gleich, wenn es um das Empfangen von bestimmten spirituellen Segnungen geht, … aber diese Ungleichheit stammt nicht von Menschen. Es ist die Sache des Herrn, basierend auf seinem ewigen Gesetz der Gerechtigkeit und kommt vom Mangel spirituellen Mutes im Ersten Stand derjenigen, die es betrifft.“ (Mormonismus-online))

Wenn Obama als erster Schwarzer im Weißen Haus versagt, versagt er stellvertretend für seine Rasse. Nur von dieser panischen Versagensangst her ist zu verstehen, warum er zuerst alles besser machen wollte, nach den ersten Niederlagen aber umkippte und nun das härteste Weißenprogramm exekutiert. Als Nachkomme schwarzer Opfer ist er mit den weißen Tätern überidentisch geworden.

Was tun die bibelfesten Fundamentalisten? Sie tun, was sie ständig von der Kanzel hören: sie scheiden die Geister. „Geliebte, glaubet nicht jedem Geist, sondern prüfet die Geister, ob sie von Gott stammen. Denn viele falsche Propheten sind in die Welt ausgegangen.“ (1.Joh. 4,1)

Je mehr die weißen Christen ihren schwarzen Charismatiker prüfen, desto nervöser wird der Kandidat, umso weißer macht er seine Brutalinskipolitik, damit er nicht als entlarvter Antichrist vom Sturm der Geschichte weggefegt wird.

Was ist religiös, was spirituelles Talmi? Der Echtheitsbeweis in Amerika ist eine Sache des Erfolgs. Ist er ein erfolgreicher Präsident? Obamacare war sein Augapfel-Projekt. Noch sieht es nicht nach Erfolg aus, im Gegenteil. Wird Obama Amerikas Niedergang nicht aufhalten können, wird er als trügerischer Hochstapler enden.

Alles Quasi bedeutet: noch wissen wir nicht, was wir davon halten sollen. Scheinbar sieht es religiös aus, doch erst die Schlussrechnung wird es an den Tag bringen. Jesus wollte den Tod überwinden. Ray Kurzweil will auch den Tod überwinden. Ist nun religiös, was er tut? Oder quasireligiös? Noch kann er’s nicht beweisen, noch hat er keinen Erfolg. Also quasireligiös, wie im folgenden SPIEGEL-Artikel:

„Kurzweils Vorstellungen sind stark umstritten. Seine Befürworter sehen in Kurzweil einen Visionär des Technikzeitalters und ein Computer-Genie. Kritiker finden seine Methode unwissenschaftlich und seine Heilsversprechen quasireligiös.“ (DER SPIEGEL)

Deutsche Journalisten, die sich mit nichts gemein machen, weder mit der guten, noch der schlechten Sache, haben keine Probleme, sich mit dem Heiligen gemein zu machen. Nicht den Anhauch einer Begründung des Quasireligiösen. In Dingen des Christ und Antichrist sind deutsche Edelschreiber celestische Sonderklasse.

In einem christlichen Staat versteht sich das Religiöse von selbst. Alles Quasireligiöse muss sich besonders ausweisen. Schon die Überprüfung: echt oder unecht, schwarz oder weiß? ist ein echtes und unverwechselbares Symptom christlichen Glaubens. Dass die ewige Seligkeit davon abhängen soll, ob man einem gottähnlichen Gaukler anheimfällt oder nicht – das ist Christentum. Die Echtheitsprüfung ist eine typische Verhaltensweise, die man nur aus christlichen Kulturen kennt. Was soll daran unchristlich sein?

Jetzt kommen wir zu einem überaus wichtigen Punkt christlicher Selbstbeurteilung. Für Christen ist alles christlich, was positiv christlich ist. Und alles nichtchristlich, was die ideale Norm verfehlt. Alle Frommen, die in den Himmel kommen, sind christlich. Das sollen 0,1% aller Christen sein. Die 99,9% derer, die in die Hölle wandern, sollen Nichtchristen sein.

Die Erfindung von Hölle und Himmel aber sind christliche Erfindungen. Die Scheidung von Spreu und Weizen ist eine christliche Scheidung. Die ewig Verdammten sind durch christliche Selektion erzeugte Verdammte. Die ewig Verfluchten sind Opfer christlicher Intoleranz und Verdammungssucht. Nicht nur Gott ist eine biblische Erfindung, sondern auch sein teuflischer Sparringspartner. Nach Luther ist der Teufel das Alter Ego Gottes. Alles christliche Kreationsmasse vom Feinsten.

Die SPIEGEL-Bewertung quasi-religiös enthüllt den Standpunkt des Schreibers: er steht in der Mitte des Christentums und bewertet alles aus binnen-christlicher Perspektive.

Nehmen wir Hitler. Der Führer war ein von der Vorsehung erwählter christlicher Messias. Nur unter dieser Prämisse konnte er von christlichen Massen erkannt und hymnisch bejubelt werden.

(Jeder Messias will von seinen Jüngern als Messias zuerst erkannt und in seiner menschlichen Hülle durchschaut werden. Was glaubet ihr, wer Ich sei? Ohne Beglaubigung durch diejenigen, die er retten will, kann es keinen offiziellen Messias geben. Die Deutschen haben durch ihren Enthusiasmus Hitler erst zum Messias gemacht.)

Ohne christliches Es und Ich hätte es in Deutschland keinen Hitler und keinen Nationalsozialismus gegeben. Aber nein, fast alle „neutralen“ Historiker beurteilen heute den novus rex als unchristliche heidnische Figur. Um nicht zu sagen als Antichrist. Kein Antichrist aber ohne Christ. Hätte Hitler Erfolg gehabt und Europa und die Welt überwältigt, lägen heute alle Deutschen auf den Knien vor dem Welterlöser, der die Menschheit vor den satanischen Juden errettet hat.

Alles, was schlecht, böse und erfolglos ist, kann nicht christlich sein, es muss säkular, gottlos oder heidnisch sein. Alles hingegen, was sich erfolgreich durchgesetzt hat und zum eisernen Inventar der Kultur gehört, ist automatisch christlichen Ursprungs.

Ungerührt behauptet ein „Großhistoriker“ wie Heinrich August Winkler, alle Menschenrechte entstammten der christlichen Gottebenbildlichkeit. Betrachtet man sich den Ausgang der Heilsgeschichte, so muss Gott ein großer Menschenfreund und -rechtler sein, wenn er die Majorität seiner Kreaturen in der Hölle versenkt.

Bei Hölle lachen alle Theologen. Haben sie dieselbe doch schon seit Bultmann im Orkus der Vergessenheit verschwinden lassen. Die wichtigsten Bestandteile der Glaubenslehre werden dem öffentlichen Diskurs entzogen: Schöpfung in sechs Tagen, die Mitte der Zeit auf Golgatha mit Höllen- und Himmelfahrt, Apokalypse am Ende der Zeiten mit Paradies für wenige Erwählte und ewigen Höllenqualen für gigantische Menschenmassen.

Hört man sich das Wort zum Sonntag an – oder ähnliche Radiopredigten – , vernimmt man nur substanzloses Leipziger Allerlei oder caritative Seifensiederei. Altbischof Huber grinste seinen katholischen Amtsbruder an, als der britische Atheist Richard Dawkins in einer Talkshow den Begriff Hölle in den Mund nahm. Als wollte der Theologe sagen: haben wir diesen Begriff schon mal gehört? Versteht sich, dass Moderator Kerner keinen Wert darauf legte, die beiden geistigen Herrn in Schwierigkeiten zu bringen.

Intellekturelle Redlichkeit in weitem Umkreis um das Heilige ist ausgerottet. Im Zweifel stramm religiös, so die Devise unserer medialen Ministranten. Die Trophäen der christianischen Beutelteufel könnte man beliebig fortsetzen:

Vor dem Krieg war Technik die legitime Naturausbeutung der Erwählten. Heute ist naturschädliche Technik die Erfindung gottgleichseinwollender – Gottloser (!!). Wie können Gottlose gottgleich sein wollen? (Wenn sie nicht christliche Reste in sich haben.) Die Ökologie, von Nach-68er-Grünen erfunden, ist nichts als die Frucht am Baume der Schöpfungsbewahrer.

Vor dem Krieg war Krieg ein Gottesbeweis. Nicht nur der Erste Weltkrieg sollte der Welt zeigen, welche Nation Gottes Lieblingsnation sei. Heute gebärden sich die Hirten als unbeugsame Pazifisten.

Vor dem Krieg war die Frau die gottgewollte Nummer Zwei, die Gehilfin des Mannes. Heute haben die Theologen die Emanzipation der Frau erfunden.

Vor dem Krieg waren Menschenrechte und Demokratie verächtliche Produkte des dekadenten Westens. Heute sind beide Erfindungen still und heimlich den Griechen geklaut worden und den gläubigen Meisterplagiatoren zugewiesen.

Vor dem Krieg war der nationalistische Sonderweg die heilsindividuelle Aussonderung der wahren Kinder Gottes. Der allgemeine Weg der Menschheit zu Demokratie und Gleichheit hingegen war der Weg des verführerischen Antichrist. Heute gilt das genaue Gegenteil.

Vor dem Krieg wurde der chauvinistische Patriotismus der Deutschen – Fichte: die Deutschen sind die Heilande der Welt – zum Humus des nationalsozialistischen Faschismus. Heute geben sich Caritas und Diakonie als gesegnete Almosengeber der Elenden und Geschundenen in der ganzen Welt.

Vor dem Krieg war es keinem deutschen Christen gestattet, den Dienst an der Waffe – „Gott mit uns“ – zu verweigern. Deserteure wurden noch in den letzten Tagen des Krieges von gläubigen Kriegsrichtern zum Tode verurteilt, die nach dem Krieg Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg wurden. Nach dem Krieg waren Pastoren die Hauptunterstützer der Kriegsdienstverweigerer.

Vor dem Krieg waren deutsche Christen beider Konfessionen glühende Verehrer des nationalsozialistischen Regimes. Nach dem Krieg waren sie wie durch ein Wunder zu leidenschaftlichsten Widerständlern geworden. Ein Bonhoeffer im Widerstand – und alle waren kleine Bonhoeffers. Ein katholischer Priester im KZ und alle Katholiken waren Insassen im KZ.

Alle führenden deutschen Theologen beider Konfessionen waren Bewunderer des Führers. In theologischen Seminaren hört man heute von Immanuel Hirsch, Paul Althaus, Michael Schmaus und Alois Hudal nichts. Die Skulptur des „braunen Conrad“ – des SA-Bischofs Gröber – steht heute unbelästigt im Freiburger Münster.

C. F. von Weizsäcker war vor dem Krieg ein fanatischer Hitlerfan – der Nationalsozialismus sei eine „Ausgießung des Heiligen Geistes“ gewesen –, nach dem Krieg verfälschte und verschwieg er seine Vergangenheit und wurde zum moralisch-intellektuellen Vorbild einer weltweiten Friedensbewegung.

Orwells Beispiele der Vergangenheitsverfälschung durch Wahrheitsministerien sind ein Klacks gegen die komplette Transsubstantiation einer christlichen Verbrechernation in eine ehrenwerte Gesellschaft von – na ja, von Christen natürlich.

Ob hü, ob hott, ob Gott oder Teufel: sie sind und bleiben Jünger ihres Herrn. Der Herr gibt, der Herr nimmt, der Name des Herrn sei gepriesen. Gott schafft das Gute, Gott schafft das Böse und die Deutschen können sagen, sie sind immer dabei gewesen. Sagen wir: quasi dabei gewesen.

Das Weitere regelt das zukünftige Brausen vom Himmel – oder der schnöde Zeitgeist. Von Vergangenheitsbewältigung kann keine Rede sein, aber von Vergangenheitsverfälschung oder Eliminierung der Vergangenheit. Wenn Vergangenheit abgeschafft ist, was soll bewältigt werden?

Warum bemerkt niemand den Großen Schwindel? Weil der Große Schwindel zum Zeitgeist wurde. Wenn alle es machen, fällt es nicht auf, wenn der Einzelne es tut. Massenneurose schützt vor Einzelneurose.

Jetzt wissen wir, warum wir eine lineare Zeit mit eingebautem Vergangenheitsverfall benötigen. Eine lineare Zeit mit starrem Zukunftsblick. Eine lineare Zeit mit Neuigkeitssucht. Es ist nicht der Mensch, der sich wandelt wie ein Chamäleon und seine kollektive Biografie verleugnet. Bob Dylan singt es: es sind die Zeiten, die sich ändern.

Die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen. Danke, Zeiten, dass ihr uns alle Verantwortung abnehmt, damit wir nicht zurückschauen müssen. Würden wir nicht zu Salzsäulen erstarren?