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Der griechische Urkapitalismus

Hello, Freunde Foucaults,

immer, wenn der Name des Sprößlings reicher katholischer Eltern fällt, fällt gleichzeitig der Begriff „ätzende Säure“. Welch heilige Gewissheiten hat der „grenzüberschreitende, diabolische und zersetzende“ Foucault im Säurebad verätzt – wie die Mafia ihre Lieblingsfeinde? Mit allen führenden philosophischen Schulen habe er den Kampf aufgenommen, „weil er der Erzählung vom souverän handelnden Subjekt endgültig den Boden entzog.“ So die TAZ.

Weder der Hegelianismus, noch der Heidegger‘sche Existentialismus oder die Psychoanalyse kennen ein „souverän“ handelndes Subjekt. Ob Sartre an dieses im Abendland fast unbekannte Tierchen geglaubt hat, darüber lässt sich streiten: er wurde Anhänger des heilsgeschichtlichen Marxismus und verteidigte Stalins Verbrechen – gegen Camus.

Nur Camus mit seinem bewundernswerten Sisyphos käme für den souveränen Menschen in Frage. Dem christlichen Credo ist das souveräne Subjekt der Satan persönlich. Nur die Aufklärung appellierte an einen autonomen Menschen.

Warum ist immer von Subjekt die Rede, wenn vom Menschen die Rede ist? Subjekt heißt: das Unterworfene, Untergeordnete. Soll das ein scheeläugiger Grindkopf aus dem biologischen Raritätenkabinett sein: das souverän handelnde Unterworfene?

Foucault hat die Aufklärung im Säurebad versenkt und ist zum ohnmächtigen Subjekt und Sündenkrüppel der Religion zurückgekehrt. Wie ätzend! Foucault, ein Heiliger für linke Gazetten und Intellektuelle. Was sind souveräne Menschen? fragen sie – und brüllen vor Lachen. Was ist ein deutscher Linker? Wer

ätzend und revolutionär spricht und wie ein pietistisches Schaf blökt und handelt.

Kennen Sie die Formel: r > g? Sie stammt vom neuen französischen Marx namens Piketty (siehe TAZ-Interview) und bedeutet: r (return = Rendite) ist größer als g (growth = Wachstum).

(Ob Piketty weiß, dass seine handliche Formel identisch ist mit dem Matthäus-Prinzip: wer hat, dem wird gegeben, wer nichts hat, dem wird noch genommen, was er hat?) Leute, die haben, werden schneller reich als Leute, die nichts haben und arbeiten müssen, damit sie nicht verhungern.

Es war einer der verhängnisvollsten Tricks der Kapitalismus-Begründer, Besitz von Arbeit abzuleiten. Wer viel arbeitet, wird reicher als der, der weniger arbeitet. Arbeiten kann jeder, der gesunde Füße und Hände hat, also kann jeder so reich werden, wie er zu malochen gewillt ist. Damit wäre das Reichsein (fast) im gerechten Bereich.

Bliebe nur die Frage: was ist mit Säuglingen, Kranken, Schwachen und Armen? Was ist mit jenen, die nicht schwach und krank sind und dennoch nicht arbeiten müssen, um ihr Leben zu genießen? Sie haben und also wird ihnen gegeben.

Aristoteles hatte Unrecht, als er behauptete, Geld hecke nicht. Geld ist eine selbstbestäubende Pflanze, die keinen Partner nötig hat, um sich zeugend zu vermehren. Fachleute sprechen von Autogamie – Geld macht Hochzeit mit sich selbst. Zu den Selbstbefruchtern gehören Gerste, Bohne und Erbse, typisch kapitalistische Selbsthecker.

Der Vorteil der Selbst-Macher liegt auf der Hand. Eine selbstische Pflanze kann sich nach Belieben vermehren und muss sich nicht übers Internet mühsam einen Partner suchen. Do it yourself ist die Losung der Selbsthecker, die im religiösen Bereich vermehrt vorkommen sollen.

Doch die Nachteile sind kein Zuckerlecken: „Selbstbestäubung reduziert die genetische Variabilität und kann durch Inzuchtdepression zu weniger fittem Nachwuchs führen.“ Wenn man die geistentleerten Gesichter der Prominenten- und Reichensprösslinge betrachtet, muss man der Analyse zustimmen.

Chelsea Clinton, Sprössling zweier Selbstbefruchter, verdient als TV-Moderatorin ein Spitzengehalt und erklärt, Geld bedeute ihr nichts. An solchen Sprüchen lässt sich der AGKE (Autogamiekoeffizient) – identisch mit dem IKE (Inzuchtskoeffizient) – mühelos ablesen.

Was man schon immer munkeln hörte, was man schon immer ahnte, hier wird’s zur wissenschaftlichen Gewissheit: Kapitalisten sind Autisten und machen sich alles selbst. Sie brauchen keine Gesellschaft, den Staat hassen sie. Vor Gott und ihrem Kapital sind sie allein.

Um ihren Inzuchtsdepressionen zu entgehen, haben sie das caritative Almosengewerbe für sich entdeckt, damit sie sich durch gute Werke Freunde in der Welt schaffen. Das entspricht ihrer frommen Agenda: „Schaffet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit sie, wenn er euch ausgeht, euch aufnehmen in die ewigen Hütten.“

Womit den letzten CDU-Wirtschaftsliberalen klar sein sollte: a) Mammon ist ungerecht und b) hier findet ein ganz ordinärer Deal statt: die Armen lassen sich bestechen, um ruchlose Ausbeuter gegen ungerechten Mammon in den Himmel einzulassen. Wenn das kein Fall für Transparency International ist.

Aber auch den letzten Herz-Jesu-Marxisten müsste klar geworden sein: zwar ist Mammon ungerecht, aber absolut nützlich und notwendig, um den Himmel zu ergattern.

Wenn Piketty recht hätte – was er unbedingt hat –, würde das bedeuten: schon immer war der Kapitalismus ein selbstheckender Finanzkapitalismus. Vergesst die Arbeit, vergesst das vermaledeite Malochen. Kann die Bibel irren? Auf keinen Fall und also gilt das Matthäusprinzip: wer Kapital hat, befruchtet sich selbst.

Langfristige Produktionsmethoden und Tauschverhältnisse sind überflüssig. Ein Zocker braucht nur seinen Rechner und Gott, sonst nichts auf dieser Welt. Die Wachstumsrate des selbstheckenden Geldes ist höher als die des ordinären Wachstums per Arbeit. Das sind alte Hüte, man hätte nur das Neue Testament lesen müssen, um Pikettys Formel als unumstößliche Wahrheit zu entdecken.

Dennoch hat der Sohn zweier Trotzkisten etwas Revolutionäres entdeckt. Den Kapitalismus erkennt man nicht an seinen Methoden, sondern an seinem Ergebnis. Alles ist Kapitalismus, was die Reichen immer reicher macht und die arbeitende Bevölkerung in den Abgrund stürzt. Kapitalismus ist die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm.

Wer ihn stoppen will – was Piketty leider nur halbherzig will –, der muss die Kluft verhindern und zuschütten. Alles andere ist Talmi. Die Kluft zwischen denen, die haben und denen, die genommen kriegen, was sie haben, ist die Kluft, die jede demokratische Gesellschaft à la longue zum Einsturz bringt.

Es kommt nicht darauf an, die Vermögensverhältnisse vollständig zu planieren, was uns furchterregende Märchen von den kommunistischen Rotten einbläuen wollen. Es kommt darauf an, jene Gleichheit herzustellen, in der die Untersten ein humanes Leben und die Obersten kein inhumanes Leben führen können.

Selbstbestimmung und Partizipation müssen auf gleicher Augenhöhe geschaffen werden. Alles andere ist Unfug. Die Vermögensverhältnisse der Reichen müssen radikal beschnitten, die Überschüsse denen gegeben werden, die sich nicht mehr im Spiegel betrachten können.

Dabei müssen einige Kleinigkeiten geklärt werden. Der Staat ist keine Erfindung des Teufels. In einer funktionierenden Demokratie gibt es keinen selbstherrlichen Staat. Regierung und Abgeordnete sind gewählte Mandatare des Volkes.

Gewinnt die Machtelite einer Gesellschaft ein selbstherrliches Autistendasein, muss es subito zerschlagen werden. Die Elite hat sich auf Kosten der Gemeinschaft aufgebläht und illegitime Macht angeeignet. Im Bereich der Medizin spricht man von Krebsbildung. Einige untergeordnete Zellen werden überheblich, beginnen zu wuchern und den Rest des Organismus zu übertölpeln. So zerrütten sie das Ganze – und sich selbst.

Krebs und Kapitalismus sind Selbstzerstörer oder auto-suizidal. Die eingebaute Nekrophilie hat der Kapitalismus seiner Religion zu verdanken, die ein Ende der Geschichte mit schrecklichem Ausgang kennt. Kapitalismus und Apokalypse sind Zwillinge.

Was das religiöse System betrifft, hätte Foucault recht: das Subjekt des Kapitalismus ist nicht souverän. Es ist einem allmächtigen Automatismus unterworfen, den es anbeten oder verfluchen, aber nicht ändern kann. Der ätzende Foucault ist Subjekt eines ätzenden Systems.

Erkennt man den Kapitalismus am Resultat und nicht an seinen Instrumenten, bedeutet das: er ist viel älter, als der perverse Hochmut der Modernen zugeben will. Alle heutigen Probleme mit Kluftbildung, wachsendem Auseinanderdriften von Reich und Arm, Oben und Unten, mit Ausgrenzen und Verhöhnen der Schwachen, Enteignen per Schuldscheinen, Abdriften der Mittelschichten, politischer Machtausübung der Habenden, gibt es bereits im alten Griechenland seit dem siebten und achten Jahrhundert vdZ.

Doch gleichzeitig gibt es – und das ist die Quelle der Demokratie – Kampf und Abwehr abgehängter Schichten, der Bauern, Handwerker und anderer Selbständiger, die sich das Los der unersättlichen Expropriation nicht gefallen ließen und zum Klassenkampf übergingen.

Das Ergebnis dieser sozialistischen Abwehr war die Einschränkung der Reichen, die Mitbestimmung aller Bürger in der Volksversammlung, die Debatte aller auf der Agora: die Geburtsstunde der Demokratie.

Solon war der Erste der Reformer, die das Problem erkannten. Wie schaffte er es, das Vertrauen der Armen und der Reichen zu gewinnen, einen Ausgleich der Interessen herzustellen, der uns auch heute noch von allen wesentlichen Übeln befreite?

Demokratie war die Antwort einer kranken Gesellschaft auf den ersten Kapitalismus des Abendlandes. Eine stabile Demokratie, ersonnen durch gerecht denkende Menschen, war in der Lage, den Moloch an die Kette zu legen. Immer wieder versuchten die Unersättlichen, die Regeln der Demokratie zu unterlaufen, um ihre Macht ins Unbegrenzte auszudehnen.

Die Geschichte der Demokratie ist der ständige Kampf um das Gleichgewicht aus Macht und Ohnmacht. Trotz vieler Kämpfe gelang es den Griechen, ihre Polis über 100 Jahre stabil zu halten. Erst mit der Übermacht der Römer wurden aus griechischen Poleis abhängige Städte. Die griechische Demokratie ging weniger an der Unfähigkeit ihrer Bewohner zugrunde, als an der despotischen Weltmacht der Römer, die nur in begrenztem Maß ein Eigenleben ihrer eroberten Provinzen duldeten.

Warum haben die Marxens, Max Webers und alle Modernen nicht erkannt, dass der Kapitalismus kein Produkt der Moderne war? Weil die Moderne rettungslos überheblich ist. Seit der Renaissance stand sie in fast allen elementaren Punkten des Schönen, Wahren und Guten im Schatten der Griechen. Ab dem 17. Und 18. Jahrhundert begann Europa, sich der Dominanz der Griechen zu entziehen. Vor allem das Aufkommen der Naturwissenschaften mit Newton, Galilei, Kepler gab den Abendländern das Gefühl, ihre Lehrer in Attika überflügelt zu haben.

Im französischen „Streit zwischen Alten und Modernen“ (Querelle des Anciens et des Modernes) wurde der Trotz auf den Begriff gebracht. In der Poesie wollten die Franzosen den Griechen nichts mehr zu verdanken haben. Später kamen Technik und Naturwissenschaft hinzu.

Selbst die graecomanen Deutschen, die Klassiker Goethe und Schiller, waren sich nicht mehr sicher, ob sie nur Schüler der Alten waren. Als auch in Deutschland die Troika Kapitalismus & Technik & Naturwissenschaft Einzug hielt – nach dem Ableben der Spätromantik etwa um 1830 – war es bald um die Vorherrschaft des klassischen Gymnasiums geschehen.

Das Realgymnasium mit dem Akzent auf Rechnen, Naturerforschen und Experimentieren verurteilte das altsprachliche Gymnasium zur schöngeistigen Schwatzbude. Die politischen Kernpunkte Alt-Athens, Demokratie, Freiheit und die aufkommenden Menschenrechte, waren ohnehin nie im Brennpunkt der deutschen Dichter und Denker gestanden.

Die Überheblichkeit über Altgriechenland wollte nicht zugeben, dass der aufkommende Frühkapitalismus, diese außerordentliche Entfesselung des Wohlstands und Reichtums, schon seine Vorläufer in Altgriechenland gehabt hatte.

Obgleich Marx ein Bewunderer der griechischen Tragödie und der schönen Künste war: in ökonomischer Hinsicht waren für ihn allein die Engländer die Erfinder der Dampfmaschinen, Schlote und – der ausgebeuteten Proleten. Blind ging er an den Phänomenen des frühgriechischen Kapitalismus vorüber. Die Griechen passten nicht in seine lineare Heilsgeschichte. Im ganzen Marxismus bis in die 68er-Studentenbewegung wurde Alt-Athen als Sklavenhalterstaat abgestempelt.

Bei Max Weber, dem verhinderten Christen, nicht anders. Der Kapitalismus, dieses welterobernde System, konnte nur auf dem Humus calvinistischer Seligkeitssucher entstanden sein. Der Calvinismus hat den Kapitalismus außerordentlich aufgebläht und potenziert, erfunden hatte er nichts.

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wird das griechische Erbe langsam, aber sicher, aus dem Gedächtnis der Abendländer getilgt. Amerikaner hatten ohnehin nicht das geringste Interesse am zerrütteten alten Kontinent, dem sie mit Mühe entkommen waren. Ihre Demokratie war das Geschenk ihres Gottes, nicht die säkulare Erfindung verkommener Heiden.

Heute sind alle Errungenschaften von Alt-Hellas zu Errungenschaften der Kirchen umgebogen und verfälscht. Was der Klerus jahrhundertelang bekämpft hatte: plötzlich sollen Selbstbestimmung, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf dem Boden des Neuen Testaments gewachsen sein.

Als die christlichen Amerikaner im Zweiten Weltkrieg die Herrschaft über Deutschland antraten, war es vollends um die letzten Reste des Griechentums geschehen. Zwar hörte man gelegentlich den Satz: Schon die alten Griechen … doch spätestens mit der Studentenrevolution wurde der 1000-jährige Muff aus den Talaren vertrieben. Selbst wenn der Muff der Extrakt griechischer Weisheit war.

Modern sein heißt seitdem, die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen und in die Zukunft schauen. Der Geschichtsvergessenheit der Moderne fiel ganz Alt-Hellas zum Opfer. Obgleich die Kirchen bis in die 70er-Jahre nie etwas von Menschenwürde und Demokratie hielten, war alles Demokratische und Humane über Nacht das Produkt eines sogenannten christlichen Menschen- und Gottesbilds.

Die uralte Strategie der Kirchen hatte es wieder geschafft: alles, was sie nicht vernichten konnten, war über Nacht die Frucht ihres Glaubens.

Als der deutsche Althistoriker Robert von Pöhlmann am Anfang des letzten Jahrhunderts sein Werk „Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der Alten Welt“ mit der kühnen These vorlegte, Kapitalismus und Sozialismus seien keine modernen Erfindungen, sondern Schöpfungen des alten Griechenlands, wurde er heftig gescholten. Mit dem unüberbietbaren Argument, Kapitalismus könne es in jenen Epochen nicht gegeben haben, da es den Begriff des Kapitalismus noch nicht gegeben habe. Wer solche Gelehrten hat, muss sich um das Niveau deutscher Forschung keine Sorgen mehr machen.

In einer kleinen Anmerkung setzt sich Pöhlmann mit dem Marxisten Kautsky auseinander, der – ganz auf der Linie moderner Überheblichkeit – geleugnet hatte, dass die modernen Proleten mit ihren altgriechischen Kollegen irgendwelche Gemeinsamkeiten haben könnten.

Pöhlmann: „Die Geschichtsauffassung der modernen Sozialdemokratie, die nicht zugeben will, dass die heutige proletarische Bewegung irgendeine Parallele in der Vergangenheit gehabt habe, wird auch hier gründlich zuschanden. Der antike Proletarier soll allezeit etwas ganz anderes gewesen sein, als der moderne, und sich zu diesem verhalten, wie der „lästige schmarotzende Bummler zu dem unentbehrlichen Arbeiter, auf dem die ganze Kultur beruht.“

Jetzt die entscheidende Frage: warum hat die Moderne solche Schwierigkeiten, ihre heutigen sozialen Probleme im Licht der antiken Verhältnisse wiederzuerkennen? Weil sie mit allen Kräften vermeiden will, die einzig mögliche Antwort auf alle Spannungen und Klassenkämpfe – die Demokratie – in den Fokus der heutigen Debatte zu rücken.

Nur mit Hilfe ihrer nach und nach errungenen Mitbestimmung aller Bürger in der Volksversammlung gelang es den Griechen, den Reichen die Flügel zu stutzen und den Armen aufzuhelfen. Es gibt nur ein Patentrezept, um die gewaltigen Kräfte der Machtakkumulation der Starken an die Kette zu legen: die Gleichheit der Bürger, die Freiheit der Selbstbestimmung, die solidarische Brüderlichkeit.

(Noch waren die Frauen ausgeschlossen, dies waren sie auch in der Französischen Revolution. Doch die Philosophie der Griechen – besonders auch der viel verfemten Wanderlehrer, der Sophisten – hatte bereits die Theorie der Gleichheit aller Menschen in vollständiger Klarheit formuliert.)

Der Neoliberalismus der Gegenwart versucht, mit allen Kräften die Demokratie zu schwächen, indem er sie zum lästigen Staat erniedrigt, den man heute nicht mehr benötige. Gegen wirtschaftliche Interessen und ökonomische „Gesetze“ sollen „willkürliche“ Parlamentsbeschlüsse keine Chancen haben. Das Volk und seine Gewählten werden zur quantité négligeable degradiert. Das griechische Beispiel – eine unvergängliche Lektion für alle modernen Nationen, die Demokratien sein wollen – soll im Dunkel der Geschichte begraben werden.

Pikettys Buch könnte einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der wahren Geschichte des Kapitalismus leisten. Es kommt nicht auf das quantitative Ausmaß eines Phänomens an, auch nicht auf die Art seiner Instrumente, sondern allein auf seine qualitative Struktur, auf das konkrete Endergebnis seines politischen und wirtschaftlichen Wirkens.

Das Fazit des urgriechischen Kapitalismus war identisch mit dem heutigen: immer wieder finden die Starken neue Möglichkeiten, sich über die Schwachen zu erheben und ihnen ihren Willen – Hand in Hand mit einem servilen Klerus – als göttlichen aufzuerlegen.

Die kapitalistischen Verhältnisse vor den zwei Weltkriegen waren, nach Piketty, noch schlimmer als heute: „Nehmen Sie das Niveau an Ungleichheit 1913 in Paris: 1 Prozent besaßen 70 Prozent des Vermögens. Und zwei Drittel der Bevölkerung hatten bei ihrem Tod so wenig Besitz, dass ihre Beerdigungskosten davon nicht bezahlt werden konnten.“

Ray Kurzweil kann sich seine Unsterblichkeitsmaschine ersparen. Wenn Menschen sich, mangels Kleingeld, den Tod nicht mehr leisten können, bleibt ihnen nur noch der Ausweg: direkt, unter Umgehung der Verwesung, in die Hände des lebendigen Gottes zu springen.