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Das Neue und die Presse

Hello, Freunde der Journalisten,

nach welchen Kriterien soll man die Arbeit der Journalisten bewerten? Wie beurteilen sie sich selbst? Welche Grundprinzipien lernten sie in ihren Journalistenschulen?

Die Konkurrenz des Internets scheint ihren nervus rerum zu reizen. Weil ihr bisheriges Schreib-Monopol gefährdet ist? Ist es keine erfreuliche Demokratisierung der Gesellschaft, wenn jedes Individuum nicht nur einmal in vier Jahren eine Stimme abgeben, sondern regelmäßig seine Meinung kundtun kann?

Mit heftigen Begleit-Emotionen musste gerechnet werden, wenn das Volk zu schreiben beginnt. Die Künste höflichen Giftspritzens und scheinkritischer Duckmäuserei sind ihnen unbekannt. Warum werden ihre ungelenken, aber ehrlichen Gemütsbewegungen mit dem Begriff „Shitstorm“ diffamiert?

Verträgt eine Demokratie nicht die authentischen Gefühle ihrer Gesellschaft? Sehen die Profischreiber ihre bisherigen Privilegien gefährdet und fühlen sich genötigt, die missliebige Konkurrenz des Pöbels auszuschalten? Ist BILD keine institutionelle Shitstorm-Zentrale und dennoch lässt man sie – von pseudokritischem Pflichtaufheulen abgesehen – widerstandslos gewähren? Wie kann man von politikverdrossener Öffentlichkeit reden und

im selben Atemzug deren Politisierung angreifen?

Warum fühlen Jour-nalisten sich nur dem Tag verpflichtet? Ist der heutige Tag nicht das Fazit unendlich vieler Tage? Wie kann man Gegenwart beschreiben, ohne auf den Vorlauf der Gegenwart einzugehen? Was ist Gegenwart ohne Vergangenheit?

Hat sich der deutsche Journalismus der amerikanisch-biblischen Vergangenheitsverleugnung unterworfen: Gedenket nicht des Früheren, wachet und schauet in die Zukunft, woher der Erlöser kommen wird?

Vor wenigen Wochen schien es, als konstatiere der deutsche Journalismus eine Grundlagenkrise. Artikel erschienen, um die Krise zu analysieren und zu debattieren. Mit welchem Ergebnis? Mit keinem, der gestrige Tag ist Schnee von gestern, aus den Augen, aus dem Sinn. Der Heilige Tag und seine Augenblickszwänge regieren wieder.

Schaut nicht zurück, FreundInnen der Druckerpresse, ihr könntet zur Salzsäule erstarren. Oder seid ihr längst im Augenblick erstarrt und lebt von der Illusion, jeder neue Augenblick werde euch aus den Zwängen des alten Augenblicks befreien?

Mit der Fixierung auf den Tag sind Journalisten einer bestimmten Zeitphilosophie erlegen, die sie nicht kennen und nicht kennen wollen. Sind sie denn Philosophen, sind sie Historiker? Sie orientieren sich allein an den W-Fragen, das ist ihr Altes und Neues Testament: wer, wo, was, wie, wann, warum, woher ist die Nachricht?

Die W-Fragen lassen sich zusammenfassen: Was ist die Tagesneuigkeit? (Nur die Warum-Frage schert aus und verweist auf übertägige Ursachen.)

Altes und Bekanntes ist mausetot. Damit geben sich die Journalisten als bewusstseinslose Jünger eines Erlösers zu erkennen, dessen Motto heißt: das Alte ist vergangen, siehe, ich mache alles neu. Das Neue ist nicht nur das Brandaktuelle und Synchrone, es ist auch das Heil, welches das Alte, Inbegriff des Unheilen, überwunden hat.

Der dualistische Kampf zwischen dem Guten und Bösen ist identisch mit dem Kampf des Neuen gegen das Alte, des Heils gegen das Unheil. Der Kampf zwischen Gott und seinem Widersacher ereignet sich nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit. Das Unheile ist das Vergangene, der gestrige Tag, die verflossene Zeit.

Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit ist – unter dem Blickwinkel futurischer Erlösung – ein rebellisch-satanischer Akt. Die verlorene Zeit ist von Sünde und Unheil kontaminierte Zeit. Heil ist immer, was uns bevorsteht. Verheißung zeigt immer in die Zukunft, die Zeitdimension der Erfüllung.

Womit sogleich die Frage beantwortet ist: was, wenn die Zukunft der Erfüllung nicht eintritt? Wenn Verheißung nie Wirklichkeit wird? Antwort: Zukunft ist nie Gegenwart. Als Gegenwart wäre sie überprüfbar. Zukunft ist unüberprüfbar, sie steht immer bevor. Das Warten auf Godot ist unaufhebbar. Denn wenn Godot erschiene, wer wollte noch warten?

Christen warten auf die Wiederkehr ihres Retters, er wird nie erscheinen. Er darf es nicht, als Erschienener wäre er Gegenwart, als Gegenwart aber Vergangenheit. Heute wäre er die Sensation für die Presse, morgen schon hätten sie ihn zur Witzfigur gemacht.

Vielleicht ahnen die Presseleute den Mechanismus, wenn sie mit einem Tagesheiland hinauf in den Himmel ihres Redaktionsgebäudes fahren und ihn morgen wieder mit nach unten in den Keller nehmen, wo sie ihn unter Hohn und Spott begraben. Ecce homo: schaut, welch einen Heilsdarsteller haben wir uns eingehandelt; nun sind wir den Narren wieder los.

Der journalistische Tag ist Synonym für den Augenblick, Inbegriff der christlichen Zeit-Theologie, der zum Kern der modernen Philosophie wurde. Kierkegaard, frommer Hegel-Schüler, machte den Augenblick zum Zentrum seines jesuanischen Grübelns. Seinem deutschen Lehrer warf er vor, sich in die ewige Gegenwart der Griechen geflüchtet und den Augenblick vernachlässigt zu haben.

Was ist der Augenblick? „Der Augenblick ist jenes Zweideutige, darin Zeit und Ewigkeit einander berühren.“ (Kierkegaard in „Der Begriff der Angst“)

Die Griechen, Anhänger der Unvergänglichkeit der Natur, waren von der Unzerstörbarkeit und Dauer der Zeit – sprich: der Wahrheit – überzeugt. Nicht die vergängliche Zeit, sondern die unvergängliche ewige Gegenwart des Wahren und Vollendeten war ihr Maßstab, um alle Dinge sub specie aeternitatis (unter dem Blickwinkel der Ewigkeit) zu erkennen und zu bewerten.

In Athen hätte kein Journalismus entstehen können. Die Tagesereignisse hatten keinen Eigenwert, schon gar nichts Heiliges an sich. Als Thukydides sich dran machte, den peloponnesischen Krieg zu beschreiben, gab es keine Archive und Vorarbeiten. Alle wichtigen Informationen musste er selbst zusammentragen, zumeist beschrieb er Dinge, die er selbst erlebt hatte.

Doch auch bei ihm, dem Vater der europäischen Historie, standen die Tagesereignisse nicht im Vordergrund. Das Zeitliche war nur die Folie des Ewigen, das sich immer wiederholte. Was immer ihr tut, so die Botschaft des scharfsinnigen Griechen an sein Publikum, stets bleibt ihr euch gleich. Mögen die Zeitläufte sich ändern, das Naturrecht der Starken wird sich immer durchsetzen.

Thukydides wurde zum Vorläufer aller modernen Darwinisten. Das Zeitliche und Vergängliche behandelte er nur, um die zeitlose Wahrheit über die Natur des Menschen zu erkennen und den Menschen mitzuteilen.

Genau genommen, ist er kein Vorläufer der modernen Historie, die die Zeit als Medium der Offenbarung Gottes betrachtet. Ein Ewiges außerhalb der verfließenden Heilszeit mag es geben, ist dem Menschen aber für immer verschlossen. Der dauerhafte Gott ist nur in der fließenden Zeit erkennbar.

Als irdischer Mensch und zeitliches Wesen offenbart der Erlöser sein Heil als das jeweils Neue, welches das Alte, Inbegriff des Bösen, in jedem Augenblick vernichten muss. Die Gläubigen haben ihren alten Adam in täglicher Reue und Buße – einer Wiederholung ihrer Taufe – zu ersäufen. Durch Anbetung des Neuen ersäufen die Tagesschreiber das Böse und Alte, indem sie es dem Fluch des Vergangenen übergeben.

Als Stifter des modernen Journalismus könnte man Descartes bezeichnen. Wir zitieren das fulminante Buch der ökologischen Feministin Carolyn Merchant (der deutsche Feminismus hat sich um ökologische und theologische Aspekte nie gekümmert, weshalb er schon lange verkümmert ist):

„Kraft seines absoluten und jenseitigen Willens schafft Gott die Natur und ihre Gesetze und erhält beide dadurch in ihrem Sein, dass er in jedem Augenblick die Welt neu erschafft. Dank seines ewigen und unwandelbaren Geistes sind die Naturgesetze jedoch unveränderlich und für den menschlichen Verstand erkennbar.“

Gott zertrümmert die Welt in jedem Augenblick zu Nichts – jenem Nichts, aus dem er sie erschaffen hat –, um sie in jedem Augenblick aus dem Nichts neu zu erschaffen. Ein ungeheures Bild.

Was dem normalen Menschen als Kontinuum erscheint, ist in Wahrheit die superschnelle Sukzession einer totalen Zerstörung und einer totalen Wieder-Erschaffung. Theologen sprechen von creatio continua: der end- und grenzenlosen Schöpfung aus dem Nichts und in das Nichts.

(Auf der creatio continua gründet der Glaube abendländischer Wirtschaftler und Wissenschaftler an ein unbegrenztes Wachstum und einen unendlichen Fortschritt.)

Diesen transzendenten Rhythmus Gottes kopieren die Journalisten, indem sie das täglich Alte zertrümmern und das jeweilig Neue aus dem Hut zaubern. Deshalb die amerikanische Hast und Hetze nach dem neuesten Hit, dem noch nie da gewesenen Offenbarungserlebnis: im Neuesten erscheint das fleisch- und aktualitätsgewordene Heil als Eliminierung des Alten und Bösen. Das Neue ist die sukzessive Geburt des Heilands, der das Alte und Teuflische zur Strecke bringt.

Journalisten sind „säkulare“ Vollstrecker einer christlichen Zeit-Philosophie, die dem Neuen entgegenfiebern – der bekannten neuen Sau, die man wöchentlich durchs Dorf jagt –, das sie als zeitliche Offenbarung Gottes anbeten. Unabhängig von subjektiven Glaubensbekenntnissen.

In diesem System kann es keine Dauer der Dinge geben. Es gibt nur die optische Täuschung der Kontinuität durch rasende Sukzession der Dinge. Alles ist stets frisch und neu, das Alte wird annihiliert.

Zwischen Natur und der Menschengeschichte gibt es allerdings einen Unterschied. Gott zertrümmert die Naturgesetze, lässt sie aber in voller Identität wieder auferstehen, sodass alte und neue Natur identisch bleiben.

Anders in der Heilsgeschichte des Menschen, in der es nur minimale Konstanten, aber ununterbrochene und gewaltige Erneuerungen gibt. Gott erfindet seine Heilsgeschichte täglich neu. Gestern Adam, Noah, die Richter und Propheten, heute der Sohn Gottes, morgen das unaussprechliche Ereignis des Jüngsten Gerichts.

(Der französische Jesuit Teilhard de Chardin spricht von der Entwicklung der Evolution vom Alpha- zum Omegamenschen. Am Ende der Geschichte erscheint der unvergleichlich Neue Mensch oder der Übermensch.)

Gibt es keine Kontinuität der Dinge, ist der Tag für den Journalisten nicht die Summa aller vorangegangenen Tage. Getrost kann er das Frühere vergessen, mit der Vergangenheit hat die Gegenwart nichts zu tun. Sie müssen keine Erinnerung haben und keine Historiker sein, sie müssen nur das Charisma des jeweils neuesten Augenblicks mit immer neuen Instrumenten einfangen.

Streng genommen müssen sie sich selbst täglich neu erfinden, täglich eine total neue Sprache kreieren. Weshalb sie mit der bekannten Sprache gern Schindluder treiben, präzise Begriffe als Handschellen betrachten, von denen sie sich befreien müssen.

Wenn Journalisten verkappte Theologen, sind Theologen verkappte Journalisten, die mit ständig neuen Deutungen uralter Texte beweisen müssen, dass sie ihr Evangelium täglich neu erfinden.

Dies sind die unbewussten Gründe, weshalb die Tagesschreiber unfähig sind:

a) eine kontinuierliche und stringente Berichterstattung zu gewährleisten,

b) Lernschritte der Menschheit festzustellen, was den Begriff der Wahrheit voraussetzte, den sie verworfen haben.

Das durchschnittliche Ergebnis der Gazetten in den Köpfen des Publikums ist eine atomisierte Ruinenlandschaft. Der durchschnittliche Leser, der seiner eigenen Wahrnehmung nicht traut, kann sich die simpelsten Fragen nicht beantworten. Welche Themen haben welchen Verlauf mit welchen Alternativen und Zwischenergebnissen genommen?

Heute ein Blitzlicht, morgen ein anderes, das gar nicht daran denkt, sich auf das erste zu beziehen, sich mit ihm zu streiten und zu einem Fazit zu kommen, damit die Bevölkerung den Politikern deutlich und massiv sagen könnte: gestern habt ihr X gesagt, heute ist X vom Erdboden verschwunden oder hat sich in unübersichtliche Fragmente zerlegt, sodass wir uns keine durchdachte Meinung bilden können.

Dazu kommt, dass die meisten von Alltagssorgen und Malochen so strapaziert werden, dass sie bei vielen Themen das Handtuch werfen. Nolens volens wird das Publikum entmündigt. Sind die Wähler am Ende eingeschüchtert und verstummt, fallen Politiker und Medien über sie her, sie seien entpolitisiert und würden ihre Mündigkeit gegen dreißig Silberlinge beim Shoppen und Fernsehglotzen verscherbeln.

Ein Beispiel aus der aktuellen Presse.

Andreas Zielcke schrieb vor drei Tagen in der SZ einen kritischen und informativen Artikel über das umstrittene Handelsabkommen TTIP.

Gestern schreibt Thorsten Denkler in derselben SZ einen Bericht über ein Treffen der TTIP-Kritiker (hier ist rühmlich die Campact-Gruppe hervorzuheben, die Kritik in wirkungsvolle Kampagnen zu verwandeln versteht) mit verantwortlichen Politikern aus Brüssel und Berlin.

Zielckes Hauptpunkte waren: TTIP „entstellt das Recht und hebelt die Demokratie aus“. Was ist aus diesen beiden Punkten geworden, wie wurden sie angesprochen, wie reagierten die Politiker?

Denkler – der sich nie auf den Artikel seines Kollegen beruft – erwähnt diese Punkte erst am Schluss, aber in unzulänglicher und entschärfter Form, sodass man zweimal hinschauen muss, ob er wirklich die zwei genannten Hauptkritikpunkte meint:

„An zwei Stellen aber gehen die Position weit auseinander. Die Amerikaner etwa bestehen zum einen auf einen umfangreichen Investitionsschutz. Heißt: Wenn ihre Unternehmen sich in der EU ungerecht behandelt fühlen, könnten sie die EU vor einem Schiedsgericht verklagen. Das besteht zumeist aus einer Gruppe von Anwälten die im Geheimen über Milliarden Dollar an Entschädigung entscheiden. Gabriel hält so einen Investitionsschutz zwischen zwei rechtsstaatlich verfassten Staatenverbünden wie den USA und der EU nicht für nötig. Und wenn, dann dürfe es auf keinen Fall dazu führen, dass europäische und deutsche Regeln und Gesetze „unterminiert“ werden könnten, sagt er.“

Der so genannte „Investitionsschutz“ ist ein sachlich getarnter Angriff gegen Recht und Demokratie. Kommt bei Denkler nicht vor. Wurde dies in der Debatte nicht präzis vorgetragen? Gibt Denkler die Debatte nur in entbeinter Form wieder, um kein Öl ins Feuer zu kippen, gemäß dem selbsternannten Motto der Medien, zwischen den Fronten zu vermitteln und zu mäßigen, die Spannungen auf keinen Fall eskalieren zu lassen?

Haben die Politiker aus Brüssel und Amerika der Kritik an ihren Verhandlungen, sie hätten Recht und Demokratie entstellen wollen, zugestimmt oder nicht? Ignoramus.

War es ein echter Dialog mit genauem Zuhören und Argumentieren? Haben die Politiker die Bedenken der Bürger verstanden und aufgenommen? Denkler nimmt keine Stellung, er begnügt sich mit „objektiver“ Berichterstattung, doch seine ironische Sprache lässt viele Deutungen zu.

Warum beschreibt er das Äußere der Campact-Frau, nicht das Äußere der seriösen Herren? Soll das heißen: schaut, welch pittoresque Weibchen an der Basis arbeiten? „Maritta Strasser trägt einen roten Kapuzenpulli. Darauf steht der Schriftzug ihres Vereins: Campact. Sie steht hinten rechts und wartet darauf, ihre Frage an die Männer stellen zu können, die ganz vorne auf dem Podium stehen.“

Die zynischen Bemerkungen des europäischen Kommissars werden als „ Schmunzeln“ verharmlost, wenn er sich anmaßt, im Namen von 500 Millionen Menschen zu sprechen, während die Kampagne nur 500 000 Unterschriften aufweist?

Der ganze Vorgang soll transparent sein, wenn nur die europäische Seite, nicht aber die amerikanische ihre Papiere ins Netz stellt? Schreit das Ganze nicht nach deutlicher Kommentierung, die Denkler nicht liefert?

Denkler beschreibt Gabriel, als hätte der deutsche Vizekanzler mehr Verständnis für die Basis als die zwei Nichtdeutschen. Er lobt die Basisarbeit der Unterschriftensammler. Doch jetzt sein Hammer: „Das bedeute eben auch, dass 470 000 Menschen gegen ein Freihandelsabkommen unterschrieben hätten, das es noch gar nicht gäbe.“

Soll man erst protestieren, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist? Und nicht so früh, um noch zu ändern, was zu ändern ist? Gabriel wird von Denkler unauffällig in Schutz genommen. Man trifft sich ja noch öfter. (Thorsten Denkler in der SZ)

Viel kritischer der TAZ-Bericht über dasselbe Ereignis. Schon in der Überschrift wird Gabriel attackiert: „Gabriel greift Freihandelskritiker an.“ „Zugleich griff der SPD-Chef die TTIP-Kritiker scharf an: Es gebe „eine Menge Vermutungen über das, was verhandelt wird“, sagte er, „aber wenig Wissen.“ Auf den Campact-Aufruf reagierte er mit Spott. „470.000 Menschen haben gegen etwas unterschrieben, was es noch gar nicht gibt“. Man könne „den Eindruck kriegen, als ginge es um Leben und Sterben.“  (Malte Kreutzfeldt in der TAZ)

Die bodenlose Arroganz Gabriels wird von Denkler völlig übergangen. Die geheimen Verhandlungen der Kommission seien „wenig hilfreich“, ergeht sich Gabriel in Leerformeln, die an Dummheit nicht zu überbieten sind. Sind die geheimen Verhandlungen nun ein Angriff gegen Recht und Demokratie – ja oder nein? Oder sind die Bedenken der Basis nur das hysterische Getue von Aufgeblasenen?

Gabriel wird Schröder, dem Superstaatsmann, immer ähnlicher. Dass die Industrie in nichtdemokratischen Schiedsgerichten klagen könnte, hält Gabriel für „unnötig“? Unnötig? Nicht für einen Angriff gegen Recht und Gesetz?

Was war der Schlusseindruck der Kritiker? Warum werden keine Gespräche mit beiden Parteien geführt, wie sie die Konfrontation erlebten? Sind die Stimmen der Basis bei den Politikern angekommen? Oder sind sie auf übliche Weise ironisiert worden?

Wie ist der Stand der Debatte? Warum gibt es keine begleitenden Kommentare? Warum bezieht Denkler sich nicht auf die fundierten und kritischen Äußerungen seines Kollegen Zielcke? Kannte er überhaupt dessen Artikel? War er mit dessen Thesen einverstanden? Sind dessen Thesen angemessen zur Geltung gekommen?

In jedem Augenblick zerschlägt der Gott der Journalisten alles in Trümmer, um es erinnerungslos und unbegriffen neu aufzubauen. In diesem Diskontinuum kann es keinen überwölbenden Gedanken geben. Rational-überprüfbare Lernfortschritte können weder erarbeitet noch folgerecht weiter entwickelt werden.

Wie kann das Volk glauben, dass seine Meinungen gefragt sind? Die öffentliche Debatte ähnelt dem cholerischen Wirken eines Eventkünstlers, der seine Farbbeutel mit geschlossenen Augen gegen die Leinwand schleudert. Das Gewirr von Klecksen kann jeder deuten, wie er gestimmt ist.

Was interessiert die journalistischen Anbeter des Augenblicks ihr Geschwätz von gestern? Was interessiert sie, wie ihre Schreibversuche bei jenen ankommen, für die sie angeblich schreiben?

Politiker, Medien und Fortschrittsfanatiker veranstalten ein kakophonisches Tripelkonzert, das dem hilflosen Publikum nichts bringt – außer Tinnitus.