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Curitiba

Hello, Freunde Curitibas,

Curitiba klingt nicht nur wie Musik, von der südbrasilianischen Musterstadt könnten deutsche Grüne nur träumen. Bürgermeister Jaime Lerner über seine Stadt, die von Nachhaltigkeit nicht nur spricht:

Seitdem ich vor 40 Jahren zum ersten Mal Bürgermeister wurde, haben sich die Grünflächen aufs 300fache vergrößert, obwohl sich die Bevölkerung seither nur verdreifacht hat. In Curitiba wollte man niemals spektakuläre Hochhäuser, Bürobauten oder Shoppingmalls bauen lassen. Stattdessen folgte man dem einfachen Grundsatz, dass jene Stadt die bestmögliche ist, in der jeder, ob Arm oder Reich, gut leben kann.“ (Klaus Englert in der TAZ)

Jaime Lerner setzte Bank-Kredite anders ein, als die Banken wollten.

„Auf den Anhöhen Curitibas, mit Blick auf die Hochhaussilhouette der Millionenstadt, wurde ein Grüngürtel angelegt, der selbst nach europäischen Maßstäben außergewöhnlich ist: «Damals gab es Städte, die sich damit rühmten, 10.000 Bäume angepflanzt zu haben. Uns war das nicht genug. Deswegen ließen wir eine Million Bäume anpflanzen. Und in den Parks errichteten wir Pavillons aus einfachsten Materialien, die sich bestens in die Landschaft einfügen», erinnert sich Jaime Lerner. Und er vergisst nicht, an die früheren Zeiten zu erinnern: «Wo sich heute ein Botanischer Garten ausbreitet, gab es früher eine stinkende Müllkippe.»“

Viele intelligente Ideen wurden umgesetzt, die in Deutschland chancenlos wären:

„Die Stadtverwaltung setzte eine erfolgreiche Methode der Mülltrennung durch, die später von anderen Städten aufgegriffen wurde. Die Aktion heißt „Müll, der kein Müll ist“, und motiviert die Favela-Bewohner, den verwertbaren Abfall in

ihren Siedlungen einzusammeln, an poppig angemalte Müllwagen abzuliefern, um schließlich als Gegenleistung Busfahrscheine, Schulhefte, Obst oder Gemüse zu erhalten. Dieses System hat die Stadt davor bewahrt, große Summen in die Reinhaltung der Kanalisation stecken zu müssen.“

Woran erkennt man den Erfolg der ökologischen und linken Stadtplanung? An der ungewöhnlichen Bürgerbeteiligung, an der innerstädtischen Atmosphäre der Sicherheit:

„Während noch heute in Rio und in São Paulo die Polizei ausrückt, um die Drogenkriminalität auf der Straße zu bekämpfen, könne man, meint Lerner, in Curitiba vor Gewaltübergriffen so gut wie sicher sein. Selbst im fernen Brasilia habe man erkannt, dass die südbrasilianische Einwandererstadt die besseren Startbedingungen bietet. Das mäzenatische Engagement vor allem deutscher Einwanderer sei prägend gewesen, fügt Jaime Lerner hinzu. Noch heute ist die Bereitschaft, sich für die Belange der Stadt einzusetzen, spürbar.“

An vielen Stellen der Welt geschieht Staunenswertes, während die Deutschen im Müll ihrer jahrhundertealten verrotteten Begriffe versinken. Da nur schlechte Nachrichten gute Nachrichten sind, wird über nachahmenswerte Projekte rund um den Globus in deutschen Gazetten kaum berichtet.

Deutschland will sich weiterhin als Musterschüler der Ökologie fühlen, weshalb es die Augen schließt, im eigenen Morast versinkt und nicht sehen will, was in der weiten Welt an Vorbildlichem geschieht.

Deutschland ist einem Patienten vergleichbar, dessen Kopf die Verbindung zum Rest seines gelähmten Leibes verloren hat. Nun rächt sich, dass die Nachkommen der Täter ihr Menschheitsverbrechen an den Juden nur als Schuld- und Sühneproblem bearbeiteten (auch das nur in mürrischer Verbissenheit) und nicht als biografisches Erkenntnisproblem. Der Holocaust war kein limitiertes Ereignis zwischen Versailles und der totalen Niederlage. Er war das Ergebnis einer jahrhundertealten, von Epoche zu Epoche immer verhängnisvoller werdenden Kollektiventwicklung.

Das Dritte Reich trennt die Vorkriegszeit von der Nachkriegszeit mit einem blutigen Skalpell. Die Deutschen haben keine Beziehung mehr zu den Quellen ihrer Nation-Werdung.

Weshalb sind sie nur ökonomisch tüchtig, in allen anderen Dingen emotionslos und unkreativ? Warum wird jeder amerikanische Song, jede TV-Serie und Hollywood-Apokalypse als Offenbarung begrüßt? Weil die amnestischen Täter sich mit den Siegern überidentifizieren und jeden überseeischen Furz als Genietat bejubeln. Ihnen fehlt der endothyme Untergrund, aus dem das Es seine Inspirationen bezieht, die es zur bewussten Kulturtat veredeln kann.

Das Reservoir des Kulturellen ist die gemeinsame Biografie, die man dem Dunkel des Unbewussten entreißen und in Musik, Literatur, TV-Kompetenz und Journalismus verwandeln kann. Das deutsche Es ist vom Ich fast vollständig getrennt. Das skalpierte Ich schaut ungerührt in eine wirtschaftlich verwüstete Scheinwelt, ohne den Zusammenhang mit dem schönen weiten Planeten zu erkennen.

(Jüngst fanden Mediziner im Kopf eines Patienten einen munteren Bandwurm, der dabei war, sich durch die Synapsen seines Wirtes durchzufressen – es wird doch nicht der völkische Schädel der Neugermanen gewesen sein?)

Wie können die Deutschen sich verstehen, wenn sie nicht wissen, was in ihrer Aufklärung geschah? Wenn sie nicht wissen, wie die Romantiker die Aufklärung in vielen Dingen auf den Kopf stellten?

Ihre religiöse Selbstbeschreibung grenzt an Imbezillität: sie nennen sich Christen und wissen nicht, dass ihre heilige Schrift zwei Testamente enthält. Ihren Glauben nennen sie erschauernd „die Berührung mit einem Etwas“. Das wäre einem Ingenieur vergleichbar, der stolz berichtete, dass Mathematik die Magie einer Kartenlegerin sei.

Die Deutschen sind nicht dumm, vor 100 Jahren waren sie die Universität der Welt – warum also sind sie dumm geworden? Dumm im absoluten Sinn des Wortes: man muss nicht wissen, was Ostern oder Weihnachten bedeuten. Doch warum nennt man sich noch immer Christ?

Es geht nicht um Bildung, dem Glitter arroganter Akademiker, schon gar nicht um einen Karrierebeschleuniger: es geht um vitales Selbstbewusstsein, das eine realistische Beziehung zu seiner Vergangenheit besitzt, um die Gegenwart nüchtern und gewissenhaft zu gestalten – wenn nicht mehr für sich selbst, so doch für die Kinder, die man leichtsinnigerweise in die Welt gesetzt hat.

Bildung dient dem Durchdringen der Welt, um sie menschlich zu gestalten – und wenn sie nicht dazu dient, soll sie zum Teufel gehen. Die Eliten der Welt sind nicht gebildet. Wären sie es, sähe unsere Welt anders aus.

Am Wochenende hatten die Grünen Parteitag – und haben sich mit der eigenen Worfschaufel das Grab geschaufelt. Was jetzt folgt, ist ein Nachruf, eine Rede am offenen Grab.

In Berlin gibt es ein Steakhaus mit dem Werbemotto: „Ganz Deutschland isst zu viel Fleisch – wir auch“. Das könnte von den Grünen stammen. Zwar wissen sie, dass die Welt sich ändern sollte. Doch sie werden das Gegenteil behaupten: „Der Veggie-Day ist uns herzlich egal“.

Egal? War die Forderung ökologisch notwendig oder nicht? Warum soll sie – aus bloßen PR-Zwecken – über Nacht falsch geworden sein? Sie sei gar nicht falsch, die Grünen wollten sie nur nicht länger in die Welt posaunen, um vom Wähler nicht abgestraft zu werden?

Müssen lebensnotwendige Wahrheiten auf dem Altar kurzfristiger Wahlerfolge geopfert werden? Wenn den Grünen gleichgültig geworden ist, ob ihre Wahrheiten wahr sind oder nicht, dann sagen sie nur noch, was ihre Wähler hören wollen. Ihr suizidales Motto lautet dann: ganz Deutschland will über den Jordan gehen – wir auch.

Damit ist eine Grenze überschritten. Was jenseits der Grenze kommt, ist nicht mehr Resignation, sondern der Abgesang einer untergehenden Welt: après nous le déluge, nach uns die apokalyptischen Reiter. Jeder Versuch der Selbstrettung wird im höhnischen Gelächter einer untergehenden Welt erstickt.

Eine Schwelle ist überschritten, wenn die Grünen sinngemäß sagen: „Die Welt will untergehen – wir auch.“ Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib, lass fahren dahin, sie habens kein Gewinn, der Untergang muss uns doch bleiben. Ab jetzt gilt es prophylaktisch Abschied zu nehmen. Am Hoffen und Harren erkennt man die Narren.

In Amerika gibt es eine Bewegung absichtlicher Umweltverschmutzer. Ihre Vehikel rüsten sie so, dass sie ein Übermaß an CO2 in die Luft schleudern. Wo ist die Klimaerwärmung, höhnen sie. War der Sommer heuer nicht viel zu kalt? Die ganze Welt verschmutzt die Natur – wir erst recht.

„Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn?
Ach! Was ist alles dies, was wir für köstlich achten,
Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind;
Als eine Wiesenblum’, die man nicht wieder find’t.“   (Andreas Gryphius)

In der beginnenden Epoche der zynischen Eschatologen wollen die Grünen nicht länger zur Fraktion der lächerlich Hoffenden gehören. Bevor sie untergehen, wollen sie sich selbst verscharren. Beim Verscharren assistiert die WELT:

„Der Parteitag am Wochenende hat gezeigt, dass den Grünen nach dem Atomausstieg und dem Mainstream-Ökologismus die Themen ausgehen. Der Zeitgeist hat nach 40 Jahren Apokalypse keine Lust mehr auf Schwarzmalerei. Ingenieure und Wissenschaftler baden in einem Meer aus Hoffnungen und konkreten Durchbrüchen. Wer braucht die Grünen noch, wenn Luft, Wasser und Essen sauber sind?“ (Ulf Poschardt in der WELT)

In der WELT ist alles in Ordnung, in der wahren Welt sieht es anders aus:

„Der Ernährungssektor verursacht – je nach Schätzung – 16 bis 22 Prozent der Treibhausgase in Deutschland. Mehr als die Hälfte aller Stickstoffverbindungen gelangen über die Landwirtschaft in die Umwelt. Doch aus dem Stickstoff, der als Dünger benutzt wird, entsteht Nitrat und schließlich das gesundheitsschädliche Nitrit. Viele Brunnen in Deutschland sind so stark belastet, dass ihr Wasser nur noch stark verdünnt getrunken werden darf. Konventionelle Landwirte halten auch Millionen Schweine, Hühner und andere Tiere unter oft miserablen Bedingungen. Ein Teil des Futters kommt etwa aus Südamerika, wo Menschen vertrieben werden, um beispielsweise gentechnisch verändertes Soja anzubauen. In riesigen Monokulturen, deren Pestizide das Wasser vergiften und die Natur zerstören.“ (Jost Maurin in der TAZ)

Die Grünen sind den Vernichtungssprüchen ihrer hasserfüllten Gegner aufgesessen, die ihnen ökofaschistische Freiheitsberaubung vorwarfen.

Ein demokratisches Gesetz ist ein Gesetz ist ein Gesetz und keine despotische Maßnahme. Wer nicht den Unterschied zwischen einem Gesetzesvorschlag und einer diktatorischen Maßnahme kennt, der hat es nicht länger verdient, Wähler mit seinen Begriffsverwirrungen zu belästigen. Ab jetzt wollen die Grünen niemandem mehr etwas verbieten, sie wollen die Freiheit predigen:

„Als „Verbotspartei“ angegriffen, entdecken die Grünen sich nun als „Freiheitspartei“ wieder. Das F-Wort geistert durch Papiere und Reden – auch in Hamburg. Freiheit heiße eben nicht, den Menschen vorzuschreiben, wie sich zu ernähren hätten, sagt Parteichef Cem Özdemir. «Wir Grünen sind ganz sicher nicht die besseren Menschen.»“ (Astrid Geisler in der TAZ)

Hier stimmt kein einziges Wort. Die Grünen wissen nicht mehr, wovon sie reden. Sie lallen im chiliastischen Untergangs-Wahn. Wenn das Überleben der Gattung bedroht ist, bestimmte Rettungsmaßnahmen alternativlos notwendig sind, gibt es nur drei Möglichkeiten, diese umzusetzen:

A) durch freiwillige Einsicht

B) durch Gesetz oder

C) durch Zwang.

a) Am besten wäre freiwillige Einsicht.

b) Ein Gesetz wäre noch kein despotischer Zwang, sondern eine demokratisch legitime Maßnahme. Auf vernünftige Einsicht aber setzt es nicht. Gesetze, die von der Bevölkerung angenommen werden, können nach einiger Zeit zur Einsicht werden. Oft wurden Gesetze zu pädagogischen Maßnahmen, die in Einsicht endeten.

c) Zwang setzt das Ende der Demokratie und ein totalitäres System voraus. Wenn die Menschheit nicht rechtzeitig zur Einsicht kommt, wird sie untergehen – oder ein Despot übernimmt das Regiment. Wäre der Despot vernünftig, könnte er durch vernünftige Repressionen die Menschheit retten. Nach getaner Arbeit könnte das Volk den weisen Despoten entlassen.

Die Grünen waren nicht in der Lage, zu unterscheiden, ob sie an die Vernunft der Menschen appellieren oder ein Gesetz anstreben sollten. Den Unterschied zwischen einem demokratischen Gesetz und einer faschistischen Zwangsbeglückung scheinen sie nicht zu kennen, sonst wären sie ihren Gegnern nicht auf den Leim gegangen. Wer einer Ökodiktatur zuvorkommen will, muss auf Gesetze oder auf Einsicht setzen.

Die Grünen kapitulierten hingegen vor – ihrer eigenen Verworrenheit. Ein Gesetz ist zwar ein Verbot, doch wenn es um überlebensnotwendige Maßnahmen geht, wäre das Verbot das einzige Mittel, um zu überleben.

Freiheit ist nicht das Gegenteil von Gesetzen, sonst wäre sie grenzenlose Anarchie. Freiheit als unbegrenzte Antinomie entstammt dem Fundus theologischer Begriffe, die heute dank erfolgreichen Dummheitsdrills niemand mehr kennt. Der Begriff kommt aus dem mittelalterlichen Voluntarismusstreit, in dem die Frage gestellt wurde: a) ist Gott an seine eigenen Gesetze gebunden oder b) ist seine Allmacht keinem Gesetz untertan?

Die allmächtige Freiheit Gottes wurde zum Urbegriff der modernen Freiheit. Der theologische Freiheitsbegriff ist Unsinn. Denn Freiheit des zoon politicon ist die Frucht weiser Gesetze, die das Zusammenleben in der Gemeinschaft in Regeln gegenseitiger Akzeptanz erst ermöglichen (Naturrecht der Schwachen). Alles andere wäre Despotie der Muskelmänner und der Mächtigen (Naturrecht der Starken).

Wenn Kretschmann ständig seine Lieblingsphilosophin Jeanne Herrsch anführt, um Verantwortung gegen Freiheit auszuspielen, ist er schief gewickelt. Freiheit ohne Verantwortung wäre allmächtige Anarchie, Verantwortung ohne Freiheit faschistische Zwangsbeglückung.

Tugenden, die sich gegenseitig ergänzen und unterstützen, werden von den Deutschen gern gegeneinander ausgespielt. Freiheit soll mit Gerechtigkeit nicht vereinbar sein. Gerechtigkeit nicht mit Gleichheit. Das Gegenteil trifft zu. Freiheit ohne Gerechtigkeit und Gleichheit ist Legitimation zur Vernichtung der Demokratie.

Kretschmann erweckt den Eindruck, als hätten die Grünen bislang nur verantwortungslose Freiheit propagiert, nun müsse endlich der pragmatische Ernst des Lebens gelten.

(Nebenbei: die einen tun, als hätten sie bislang alles verboten, nun müssten sie zur Freiheit übergehen. Kretschmann hingegen tut, als hätten die Grünen übermütige Freiheit gelebt, ab jetzt aber müsse saure Pflicht gelten – als Verantwortung vor Gott. Für den gläubigen Katholiken ist Verantwortung eine Antwort auf Gott und nicht auf den Menschen.)

Beim ersten grünen Ministerpräsidenten zeigt sich der Ruin der Grünen besonders ausgeprägt. Einst begannen die Grünen ihren politischen Kampf mit der Attacke gegen den VW, das deutsche Umweltverschmutzungsvehikel Nummer Eins von damals. Heute sind die süddeutschen Grünen zurückgekrochen auf das gehobene Daimler Benz-Niveau.

Einst misstrauten sie der Wirtschaft und wollten sie an die Kette legen, heute misstrauen sie sich selbst und vertrauen der Wirtschaft im „Rahmen grüner Ordnungspolitik“. Als ob die Industrie so vernünftig geworden wäre, dass sie ökologische Korrekturen freiwillig vornehme.

Es ist wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn, der vor dem Vater ausreißt, um seine Freiheit zu gewinnen. Doch er landet unter den Säuen und kriecht reumütig zu den Fleischtöpfen des Vaters zurück. Die Grünen bereuen ihre anarchischen Eskapaden unter den Säuen und sind unter die Fittiche der wirtschaftsfreundlichen Gesellschaft zurückgekehrt. Früher war die Industrie verantwortungslos, heute ist es die ökologische Partei.

So geht’s in der deutschen Sozialisation. In der Jugend werden die Säue losgelassen. Ab dem ersten Burnout – der früheren Midlife-Krise – werden sie wieder in den Stall getrieben, den Mächten der Gesellschaft wird die schuldige Reverenz erwiesen. Wer unter 30 nicht links ist, hat kein Herz; wer über 30 noch immer links ist, hat kein Hirn.

Wer auf den Veggie-Day verzichtet, aber auf eine Agrarwende setzt, will den Veggieday in listiger Potenz einführen. Ökologische Tierhaltung würde die Deutschen zum wirklichen Maßhalten verpflichten. Denn es gäbe weitaus weniger Tiere als in der Massentierhaltung. Logik scheint nicht die Stärke einer Partei zu sein, die Erfolg zum blinden Maßstab ihrer Wahrheit gemacht hat.

Die Grünen sind nicht in der Lage, ihre Sache unabhängig von deren Erfolgsaussichten zu verfechten. Sie buckeln vor dem Souverän – um ihn rückgratlos zu regieren. Eine aufrechte Partei würde kompromisslos ihre Sache sagen – und dem Wähler überlassen, ob er das Angebot annimmt.

Kompromisse sind in der praktischen, nicht in der ankündigenden Politik notwendig. Wer vor dem Wähler kuscht, erniedrigt die Demokratie zu einem Konsumartikel und nimmt den Wähler nicht ernst.

Die Wähler sind ausgehungert nach Politikern, die nach Ablehnung umstandslos ihr Bündel packen und bei Zustimmung mit Verve ihre Sache realisieren. Demokratie besitzt keine Überlebensgarantie. Die Qualität der Demokratie hängt von der Qualität der Demokraten ab. Die Weimarer Republik endete im Reich der NS-Schergen, denn die Deutschen lehnten in Mehrheit die Mündigkeit der Massen ab.

Der unvergleichliche Vorteil der Demokratie vor allen anderen Systemen ist die ehrliche Verknüpfung ihrer Erfolge mit ihren demokratischen Fähigkeiten. Hier gilt tatsächlich: ein guter Baum bringt gute Früchte. Bringt eine Demokratie faule Früchte, muss sie sich fragen, was sie falsch gemacht hat. Ist sie eine lernende Demokratie, kann sie bei der nächsten Ernte gute Früchte bringen.

Cem Özdemir: „Wir Grünen sind ganz sicher nicht die besseren Menschen.“

Können sie bessere Politiker sein, wenn sie nicht bessere Menschen sind?

Je mehr die Privatmoral politische Konsequenzen hat, umso mehr gilt, dass die besseren Menschen auch die besseren Politiker sind. Wenn die Grünen – aus pubertierendem Trotz gegen ihre eigene Moral – am meisten das Flugzeug benutzen und die Luft verpesten, umso schlechtere Politiker müssen sie sein.

Die Natur ist vom Menschen schon so in die Ecke gedrängt, dass jede private Umweltsünde die Verschmutzung der Welt bedrohlich erhöht. Es ist deutscher Unfug, die Privatmoral vom politischen Handeln zu trennen und den Staat als Maschine zu betrachten, bei der man nur bestimmte Knöpfe drücken muss.

Einst wurde Demokratie als Werk der persönlichen Moral der Athener ins Leben gerufen. Ohne brennende Leidenschaft für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit hätte es keine Volksherrschaft in Athen gegeben.

Akkumulierte persönliche Moral ist die politische Grundlage aller demokratischen Gesellschaften. Das Gesetz ist die geschriebene oder ungeschriebene Minimalmoral, die gelten muss, um ein freies und gleiches Zusammenleben zu ermöglichen.

Die meisten Mitglieder einer Demokratie erfüllen aus Einsicht weitaus mehr als das Minimum der Gesetze. Wer nicht mal das Gesetz erfüllt, ist ein Gesetzesbrecher und stellt sich außerhalb der Gesellschaft.

In Deutschland gibt’s einen Ekel vor der Moral – wenngleich man sie in seinem privaten Bereich selbstverständlich voraussetzt. Doch außerhalb des Privaten, in der Kunst, der Politik, gilt gutmenschliches Moralisieren als Brechmittel.

In jedem guten Roman muss der Held scheitern, weil er zum moralischen Handeln keine Kraft aufbringt. Ökologisches Moralisieren gilt als totalitäres Probehandeln. Unter Freiheit versteht man die bewusste Auflehnung gegen alles, was vernünftig und moralisch klingt.

Die Ursachen dieser pathologischen Defizite liegen in den historischen Untiefen der deutschen Geschichte. Die Romantiker empörten sich gegen die strenge Moral Kants, doch im Grunde wehrten sie sich gegen die Unterdrückungsmoral ihrer Prediger. Da sie zu feige waren, gegen die Priester zu opponieren, übertrugen sie ihre Ablehnung auf den führenden Aufklärer.

Nicht anders der Aufstand gegen die Vernunft, der nichts als ein Aufstand gegen Gott war. Die Kirchen verstanden es meisterhaft, den Kampf gegen die verhasste Vernunft mit der Energie vertauschter Motive zu führen.

Unter welchen Voraussetzungen hat die Menschheit eine Überlebenschance? Wenn private und politische Moral identisch werden. Das wäre eine Utopie. Eine realisierte Utopie wäre die Mindestvoraussetzung für die Überlebensfähigkeit der Gattung. Nur wenn jeder Mensch sein persönliches Verhalten und die politische Moral zu vervollkommnen sucht, hätte die Demokratie eine Überlebenschance.

Das klingt absurd, denn es klingt nach unerträglicher Selbstoptimierung. Selbstoptimierung ist außengeleiteter Drill, persönliche Vervollkommnung ist das autonome Streben nach Weisheit. Nur eine weise Menschheit wird es schaffen, in Übereinstimmung mit der Natur zu kommen.

(Für einen SPIEGEL-Kolumnisten, der sich für links hält, gibt es keinen Unterschied zwischen heteronomer Selbstoptimierung und selbstbestimmter Suche nach Weisheit. Ein frei gewählter Tod ist für ihn ein hybrider Akt der Selbstoptimierung, dem er die Tugend der Demut entgegen stellt. Demut ist mangelnder Mut, also Feigheit vor der eigenen Freiheit, die er ohnehin für eine Illusion hält. Ist Freiheit aber illusorisch, wozu schreibt der Kolumnist unzählige Kommentare, um die Menschen zu seiner Moral zu bewegen – die eine Moral der Untertänigkeit wäre? Wie kann man links sein, ohne freie Wahl der eigenen Moral, ohne Fähigkeit, sein Schicksal selbst in die Hände zu nehmen?)

Es ist modisch geworden, nicht recht haben zu dürfen. So auch die Grünen. Sie wollen nicht mehr recht haben und die Menschen nicht länger belehren. Das ist die endgültige Bankrotterklärung einer Partei, die weder ihrer Vernunft noch ihrer Moral traut.

Ein Politiker, der nicht recht haben will – rechter als sein politischer Konkurrent – der soll uns gestohlen bleiben. Ein Politiker, der nicht den Anspruch erhebt, die Realität wahrheitsgemäßer zu erkennen und die besseren Lösungsmittel für die Menschheitsprobleme zu besitzen, der bleibe, wo der Pfeffer wächst.

Wie wollen die Politiker miteinander konkurrieren, wenn nicht im Anspruch, die klügeren Erkenntnisse zu bieten und die wirksameren Reformen durchzuführen? Dieses bescheiden tuende Demuts-Geschwätz ist nichts als scheinheilige philosophische und politische Impotenz.

Eine Schwelle ist überschritten. Wenn Philosophie und Politik keinen Wettbewerb mehr um die besten Lösungen unserer Probleme durchführen, sind sie innerlich tot und haben ihren ultimativen Konkurs erklärt.

Die Grünen sind die erste Partei, die das Signal versendet: wenn die ganze Welt kapituliert, können wir nicht länger abseits stehen und so tun, als seien wir voll törichter Hoffnung.

Als die Grünen ihre Revolte begannen, hieß ein Spontispruch: Ihr habt keine Chance, also nutzt sie. Den Spruch haben sie heute abgewandelt: Wir haben keine Chance. Geben wir uns geschlagen und streichen das Ziel der ökologischen Versöhnung des Menschen mit der Natur. Seien wir ehrlich: erklären wir den totalen Schiffbruch der Menschheit.

In der Sterbehilfe soll dem einzelnen Deutschen die selbstbestimmte Wahl seines Todes verwehrt werden. Der Gattung aber wird das Recht zugestanden, ihren leichtsinnigen Gang in den Tod schon heute zu unterschreiben?