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Ausnahme

Hello, Freunde der Ausnahme,

wenn die Ausnahme die Regel bestimmt, hat die Regel verloren.

BND-Chef Schindler ist Chef der offiziellen deutschen Ausnahme-Organisation. Gesetze brechen ist wider die Regel demokratischer Gesetzestreue. Geheimdienste müssen Gesetze brechen: inländische und ausländische. Im Interesse der Staats–Raison.

Raison heißt Vernunft. Staatsraison ist Erhaltung nationaler Macht mit allen erdenklichen Mitteln, vor allem mit Mitteln regelwidriger Ausnahme. Vernunft aber ist verlässliche Regel, Grundlage allgemeiner Gesetze ohne jegliche Ausnahme. Quod licet Jovi, licet Bovi, was für Hänschen gilt, gilt auch für Götter. (Was unterscheidet vernünftige von unvernünftigen Göttern? Ein Vernunftgott verschmäht das Privileg machtgestützter Ausnahmen.)

Staatsraison müsste demnach Staats-Unvernunft heißen. Oder gesetzwidrige Staatsgewalt, Staatswahn, Staatstollheit, Staatsverherrlichung um jeden Preis. Manche reden von übersteigertem Nationalismus, ja von Chauvinismus. (Benannt nach dem legendären, bedenkenlos nationalistischen Rekruten Nicolas Chauvin, der unter Napoleon gedient haben soll.)

Wird die Ausnahme zur despotischen Regel, sprechen wir von Faschismus und Totalitarismus.

Schindler vor dem NSA-Ausschuss des Bundestags:

„Deutschland braucht die USA. Der BND ist angewiesen auf Wissen, Technik und Terrorwarnungen des US-Geheimdienstes NSA. «Wir sind abhängig von der NSA, nicht umgekehrt. Die NSA ist unser Partner, nicht unser Gegner.»“ (SPIEGEL.de)

Was aber, wenn Partner bedenkenlos gegen Gesetze verstoßen? Können sie dann

noch Partner sein oder muss von gesetzloser Kumpanei gesprochen werden? Bei Amtsantritt hatte Schindler noch volles Vertrauen in die amerikanischen Partner:

„Den Fernmeldevertrag zwischen NSA und BND las Schindler zum Dienstantritt nicht wörtlich. Warum? Weil seiner Meinung nach kein Zweifel an der Partnerschaft bestand. «Ich war der Auffassung, dass sich die USA an das Memorandum of Agreement halten.»“

Hat Schindler den USA zu Recht vertraut? Ist Amerika noch vertrauenswürdig?

Als vorbildliche Demokratie ja. Als Gods own country nein. Denn der US-Gott hat die Amerikaner auserwählt. Für Auserwählte gelten keine Regeln. Sagt wer? Die Amerikaner.

Sie reden vom amerikanischen Exzeptionalismus oder vom Manifest Destiny, der amerikanischen Ausnahmerolle und der ehernen Bestimmung, der ungläubigen Welt das Licht Gottes zu bringen. Indem man Indianer, Ungläubige und sonstige Feinde – die die Ausnahmestellung der Amerikaner partout nicht anerkennen wollen – vertreibt, vernichtet und die heilsame eigene Macht über die Welt verbreitet. Mit wirtschaftlicher und militärischer Gewalt.

Amerika hat zwei Gesichter. Von der Vernichtung der NS-Schergen bis zum Fall der Mauer war es in hohem Maße vorbildlich-demokratisch. Seitdem Gottes Lieblinge glauben, den Kalten Krieg gegen das sowjetische Reich des Bösen gewonnen zu haben, dezimieren sie systematisch ihre demokratische Seite und zeigen der Welt zunehmend ihr gewalttätiges theokratisches Ausnahmegesicht.

Dieses Doppelgesicht ist bereits ein Geburtsfehler der USA, die ihre Demokratie nicht als Ergebnis ihres eigenen Kampfes, sondern als Geschenk Gottes betrachteten. Das europäische Erbe durfte keine Rolle spielen. Von ungläubigen Athenern wollten neugeborene Christen nichts gelernt haben. Amerika bewunderte und bestaunte sich als vom Himmel gefallene Schöpfung aus Nichts. Der neue Machtkoloss wollte der besten Tradition Europas nichts schuldig sein. Die Nation der Selfmademen war eine Selfmadenation.

Der Stolz, vom Himmel auserwählt zu sein, kontrastiert bis heute mit dem demütigen Eingeständnis, nicht fähig zu sein, aus eigener Kraft eine Demokratie gründen zu können. Die ambivalente Selbsteinschätzung prägt die amerikanische Politik bis heute. Als Demokratie sind sie dem Guten oder der allgemeinen Vernunft verpflichtet, als Gods own Country dem Privileg der Ausnahme – und sei sie noch so böse. Hiroshima, ein verwerfliches Völkerverbrechen, war dennoch nicht böse, weil wiedergeborene Christen zum Bösen gar nicht fähig sein sollen (non posse peccare).

In Amerika wird die antinomische Moral der Heiligen Schrift zum weltpolitischen Ereignis: die allgemeinen Regeln des Guten gelten für andere, die Ausnahmen des Bösen – die gar nicht böse sein können –, für sie selbst. Luthers Aufteilung des biblischen Gottes in deus revelatus – dem geoffenbarten Gott der Liebe – und deus absconditus – dem verborgenen Gott des Bösen – ist Grundlage der antinomischen Moral der Amerikaner. Die beiden widersprüchlichen Gottesgesichter sind die beiden widersprüchlichen Seiten der amerikanischen Innen- und Außenpolitik.

Deus absconditus americanus – das „böse“ Amerika – spaltet die Nation in wenige erwählte Milliardäre und die Massen der Loser. Es prägt auch den Abscheu gegen Schwarze und das ungeheure Strafbedürfnis der Neupuritaner. Amerika hat die weitaus größte Quote an Gefängnisinsassen in der Welt: diskriminierte, erfolglose Schwarze, die keine andere Chance haben, am Wohlstand teilzunehmen, als durch anomische Verbrechen. Das „böse“ Amerika beansprucht das Vorrecht, die ganze Welt zu überwachen und eigene Machtbedürfnisse auf Kosten anderer Völker zu befriedigen, unter der missionarischen Parole, ihnen nur Gutes und Demokratisches zu bringen.

Deus revelatus americanus – das gute, demokratische Amerika – hat noch immer selbst- und kapitalismuskritischere Intellektuelle zu bieten als alle deutschen „Ein-bißchen-Nörgler“ zusammengenommen. (Fast jeder kritische Satz in deutschen Talkshows wird abgemildert mit der Weicheiformel: ein bisschen. Deutsche halten sich für Ideologen, wenn sie einen klar formulierten scharfen Satz absondern.) Man denke an Snowden, Noam Chomsky, Naomi Klein, Michael Moore, Ralph Nader, die Feministin Barbara Walker, selbst Sänger und Schauspieler sind politisch weitaus kritischer als deutsche Showgrößen: Harry Belafonte, Angelina Jolie, Robert Redford, George Clooney (der hier nur als Schönling gehandelt wird) und viele andere.

(Nach Mertons Anomietheorie sind Menschen, die nationale Kollektivnormen des Erfolgreichseins und Reichwerdens nicht mit legalen Mitteln erreichen, darauf angewiesen, jene Ziele mit illegalen, also verbrecherischen Methoden zu erkämpfen. Mertons Anomie = ohne Gesetz) ist ein soziologischer Ableger der biblischen Antinomie.)

Wenn Schindler dem amerikanischen Geheimdienst arglos vertraut, muss er mit Blindheit oder Feigheit geschlagen sein. Es ist ja nicht so, dass Amerikaner heucheln würden. Der ganzen Welt verkünden sie, dass sie Menschenrechtsverbrechen für ihr verbrieftes Ausnahmerecht halten. Was für andere flagrante Gesetzesbeugungen wären, sind für sie privilegierte Freiheiten des Himmels.

Deutschland ist von Amerika abhängig. Wie weit darf die Abhängigkeit gehen, ohne die eigene rechtsstaatliche und demokratische Identität zu gefährden? Darf auch die kleine Nation freveln, wenn der Große Bruder sich als Großer Sünder – nein, nicht vor dem Herrn – aber vor den Menschenrechtskonventionen der UN entlarvt? Kann der gesetzestreueste Staat auf ein Minimum an realistischer Staatsraison verzichten?

In der Tat: ein Staat, der nur auf Menschen- und Völkerrechte setzte, könnte schnell zur Beute übergriffiger Nachbarn werden. Es kann der Gesetzestreuesete nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Eine friedliche und rechtlich gesonnene Nation könnte in einer kriegerischen Welt schnell zum Opfer aggressiver Eindringliche werden.

Solange es keine internationalen Schutzgarantien für humane Vernunftvölker gibt, solange bleibt es riskant, sich aller listigen und gewalttätigen Formen der Staatsraison zu enthalten. Geheimdienste gehören zum Repertoire der Staatsraison, die nie gesetzeskonform handeln können, wenn sie die Geheimnisse der Konkurrenten und Gegner ausforschen wollen.

Was tun? Den hehren Anspruch auf ideale Gesetzestreue einschränken zugunsten realistischer Existenzsicherung – oder allen schädlichen bis staatsvernichtenden Konsequenzen ins Auge schauen unter rigoroser Befolgung vernünftiger Menschenrechte?

Solche Grundsatzfragen könnte nur das ganze Volk beantworten. Wer die Berliner Regierung der Heuchelei bezichtigt, müsste das Volk auffordern, sich entweder für wehrlose moralische Vorbildlichkeit einzusetzen – oder aber für wehrhafte Doppelstrategie: soviel Recht wie möglich, soviel Staatsraison wie nötig.

In ihren pazifistischen Anfängen wurde von vielen Grünen das Konzept der „Sozialen Verteidigung“ vertreten, das der Politologe Theodor Ebert entwickelt hatte. Sein Fazit: keine NATO, keine Bundeswehr. Sollten aggressive Nachbarn die Gewaltlosigkeit der Nation ausnützen und das pazifistische Land überfallen, könnten die Eroberten durch zivilen Ungehorsam und intelligente Renitenz sich dennoch zur Wehr setzen.

Solche friedlichen Widerstandsformen wären allerdings nur möglich, wenn die Aggressoren keine wahllosen Schlächter und Vernichter wären. Historisches Beispiel: Gandhis gewaltloser Widerstand in Indien war nur möglich und erfolgreich, weil die britischen Weltherren keine totalitären Deutschen waren. (So fair und rechtlich berechenbar aber, wie sie sich gern darstellen, waren sie auch nicht.)

Nach der moralischen Aufwärtsbewegung der Völker vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Fall der Mauer erleben wir einen rasanten Pendelschlag zurück in die Barbarei. In überbietender Konkurrenz der Blöcke werden Moral, Recht und Gesetz missachtet und verhöhnt. Gleichzeitig wachsen die internationalen Probleme – die Erfordernisse der Natur- und Klimaschonung, die zunehmende Kluft zwischen Reichen und Armen, die nicht mehr aufzuhaltenden Flüchtlingsströme – ins kaum noch zu Bewältigende.

Diese Menschheitsprobleme wären nur durch eine außerordentliche moralische Kollektivanstrengung aller Völker zu bewältigen. Anstatt uns international zu verständigen, mit welchen politischen und moralischen Methoden wir unsere planetarischen Herausforderungen bestehen können, erlauben wir uns einen absurden, geradezu suizidalen Rückfall ins Eigensüchtige und Verblendete. Die allpräsente wirtschaftliche Konkurrenz ist identisch mit einem amoralischen Wettlauf ins Verderben.

Nur eine Konkurrenz könnte uns weiterhelfen: der Wettstreit um völkerverbindende Verständigung und globalen Frieden. Das wäre ein Ziel, des Schweißes aller edlen Demokraten wert. Die Zeiten der sich gegenseitig beschädigenden und vernichtenden Rivalität sind gezählt. Nur eine Konkurrenz, die allen Beteiligten nützt und ihre Überlebenschancen fördert, kann uns weiterhelfen.

Humanes Recht muss zur globalen Regel ohne Ausnahme werden. Moral wird zur conditio sine qua non einer überlebenstüchtigen Menschheit. Vorbei die Zeit bornierter nationaler Interessen und die Zeiten privat-egoistischer Profitinteressen. Es darf nicht länger darum gehen, welches Land die meisten Reichtümer zusammenrafft, sondern, welches Volk am vorbildlichsten mit anderen Völkern zusammenleben kann.

Kein Kommentator der gegenwärtigen Presse, der nicht im überlegenen Ton von Interesse spräche und alle anderen Motive politischen Tuns ablehnte. Die wenigsten wissen, dass die moralfeindliche Definition von „Interesse“ von Marx stammt, der alles moralische Reden für phrasenhafte Heuchelei hielt. Revolutionäres Handeln, so Marx, folge keinen subjektiven moralischen Gesetzen, sondern erkannten Gesetzen der objektiven Geschichte, die in unwandelbarer Folgerichtigkeit die amoralische Vorgeschichte in moralische Geschichte oder in das Reich der Freiheit verwandeln würden.

Marxens Geschichte ist – nicht anders als die christliche Heilsgeschichte – von unüberwindbarem Optimismus. Die siegenden Proleten sind das Pendant zur ecclesia triumphans. Allgemeine Moral für Reiche und Arme würde – nach Marx – nur dem Zweck dienen, die Klassengegensätze zu übertünchen.

„Die Phrase, welche dieser eingebildeten Aufhebung der Klassen-verhältnisse entsprach, … war die Brüderlichkeit, die allgemeine Verbrüderung und Brüderschaft. Dies ist eine gemütliche Abstraktion von den Klassengegensätzen, dies ist eine sentimentale Ausgleichung der sich widersprechenden Klasseninteressen, dies ist eine schwärmerische Erhebung über den Klassenkampf …“ (K. Marx, Klassen-kämpfe in Frankreich, MEW 7, 21)

Verkehrt ist es, „sowohl die heuchlerischen Phrasen wie die Illusionen der Menschen für die wirklichen Motive ihrer Handlungen“ anzusehen.“ (Marx)

Moral und Interessen können nicht länger als Widersprüche definiert werden. Klassengegensätze müssen durch moralische Politik überwunden werden. Wenn Demokratien unfähig sind, geld- und machtbedingte Antagonismen durch Vernunft zu überwinden, sind sie zum Untergang bestimmt. Dem Geld der Plutokraten muss die illegitime Macht genommen werden, damit die legale Macht der Moral wirksam werde. Nur moralgeleitete Interessen verheißen der Menschheit eine Zukunft.

Von welchem Bedürfnis wird die bürgerliche Gesellschaft bewegt? „Das praktische Bedürfnis, der Egoismus ist das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft.“ (Marx)

Obgleich Marx ohne moralische Begriffe auskommen wollte, musste er immer wieder auf sie zurückgreifen. Er wollte Naturwissenschaftler der Geschichte sein. Doch seine erkannten Geschichtsgesetze waren nichts als verkappte moralische Imperative. Geschichte ist keine Natur, sondern das Feld unberechenbarer moralischer und unmoralischer Entscheidungen. Es gibt keine Geschichte, die vom Menschen unabhängig wäre.

Menschen haben die Geschichte nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern? Menschliche Interpretationen haben die Geschichte fortlaufend verändert. Der Mensch ist alleiniges Subjekt der Geschichte. Will er seine Geschichte verändern, muss er sich selbst ändern.

Hayek hat Moral mit dem Neoliberalismus, Marx hat sie mit dem geschichtsuntertänigen Sozialismus zertrümmert. In West und Ost gibt es keine nennenswerte Philosophie mündiger Moral. Die christlichen Kirchen predigen Moral für andere und amoralische Freiheit für sich selbst. Was aus Glauben geschieht, ist für sie gottwohlgefällig. Was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde – und wäre es noch so moralisch.

Der Totalitarismus des Dritten Reiches beruhte auf der Allmacht der Ausnahme. Allgemeine moralische Regeln waren für die Nationalsozialisten Chimären westlicher Kosmopoliten. Macht ist Recht. Wer Macht hat, bestimmt willkürlich das Recht. Fichtes Ich – die embryonale Vorform des deutschen Herrenmenschen – konstituiert nicht nur die Welt, sondern auch die weltbeherrschende Moral.

Nun muss es überraschen, dass der absolut scheinende Widerspruch zwischen NS-Deutschland und der westlichen Welt bei näherem Hinschauen zu schrumpfen beginnt. In den Anfängen der amerikanischen Geschichte herrschten nicht nur allgemeine moralische Vernunftregeln. Die vielfache Nennung des antinomischen Gottes in den Urschriften der amerikanischen Demokratie hätte hellhörig machen müssen.

Die Eroberung Floridas im Jahre 1818 war der erste Krieg, den die amerikanische Regierung (Andrew Jackson) verfassungswidrig begann. Nämlich ohne Kriegserklärung durch den Kongress. Heute sind solche Verfassungswidrigkeiten zur ungeschriebenen Norm geworden. Amerika erlaubt sich alle Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn sie nationalen Interessen zu dienen scheinen.

Sind die Ausnahmen auch wider das Gesetz, werden sie durch findige Juristen so lange gedeutet und umgebogen, bis sie gesetzes-förmig geworden sind. (Hier herrscht dieselbe frei flottierende Hermeneutik wie in der deutschen Theologie seit den romantischen Anti-Buchstäblern. Der Buchstabe der Gesetze tötet, der anarchische Geist der Willkürdeuter macht lebendig.)

Das wahre antinomische Unheil für die USA begann ausgerechnet im Nürnberger Prozess gegen führende Nazis. Den Deutschen sollte der Geist allgemeiner Gesetze eingeimpft werden. Verbrechen gegen die Menschlichkeit sollten rigide und ohne Ausnahme bestraft werden.

Jetzt kam das Problem. Gesetze ohne Ausnahme hätten auch die – Sieger bestrafen müssen. Ihre flächendeckenden Bombardierungen waren von keiner militärischen Notwendigkeit diktiert. Die Alliierten hätten sich selbst anklagen und bestrafen müssen, wenn sie Menschenrechte ohne Ausnahme formuliert hätten.

Um sich nicht ins eigene Fleisch zu schneiden, wurden die Amerikaner ihren eigenen Prinzipien untreu. Ihre maßgebliche Definition lautete: „Ein Verbrechen ist etwas, das ihr begangen habt und nicht wir.“ Um dies zu unterstreichen, wurden Nazi-Kriegsverbrecher frei gesprochen, wenn ihre Verteidigung nachweisen konnte, dass ihr US-amerikanisches Gegenüber dasselbe Verbrechen begangen hatte.“ (Chomsky ,Die Herren der Welt)

Diese Doktrin von der amerikanischen Ausnahme – eine juristische Konkretion des Exzeptionalismus – machte es unmöglich, die USA jemals wegen Völkerverbrechen anzuklagen und zu verurteilen. „Die USA hatten die Völkermordkonvention nur mit dem Vorbehalt unterzeichnet, dass sie nicht gegen die Vereinigten Staaten anzuwenden sei.“ (ebenda)

Diese Regel von der regelwidrigen Ausnahme führte zum heute herrschenden Grundprinzip absoluter amerikanischer Schuldlosigkeit: „Per definitionem können wir Amerikaner keine Verbrechen verüben, denn wir stehen über allen schriftlich fixierten Gesetzen.“

Warum stehen die USA außerhalb aller Gesetze? Weil sie eine messianische Mission in der Welt ausführen. Dabbelju Bush behauptete permanent, „seine Entscheidungen seinen Gottes Wille.“ Gott habe ihm befohlen, die Welt vom Bösen zu befreien. Mit göttlichem Auftrag unterliege er keinem irdischen Gesetz. Hier treffen sich Bush und Osama bin Laden, der seinen Kampf gegen das westliche Böse ebenfalls als Gehorsam gegen seinen islamischen Gott bezeichnete. „Die Visionen von Bush und bin Laden folgen dem gleichen Grundprinzip, beide schöpfen aus dem reichen Schatz alter Epen und religiöser Märchen.“

Nicht nur Amerikaner beanspruchen, über allen Regeln zu stehen. Selbst der humanistisch denkende Engländer John Stuart Mill rechtfertigte britische Verbrechen, wenn sie den Interessen des Empires nützlich schienen. Adam Smith hatte noch ganz anders geurteilt. Das barbarische Unrecht der Europäer, vor allem der Briten in Indien, hatte er scharf verurteilt. „Kein Mensch hat das Recht, Geld zu verleihen, wenn dieses dazu dienen soll, anderen die Kehle durchzuschneiden.“ (Adam Smith)

Chomskys Schlussfolgerung: nicht alles, was unsere Führer verkünden, muss die reine Wahrheit sein. „Wir müssen die Tatsache verbergen, dass unsere Führer demonstrieren, zu den versiertesten Lügnern aller Zeiten zu gehören, indem sie diese Doktrin selbst dann verkündigen, wenn ihre Parolen durchschaut wurden.“

Das Recht der Ausnahme, über allen Gesetzen zu stehen, sieht Chomsky im biblischen Glauben der Amerikaner verankert. Ausnahme sein heißt erwählt sein. Die Kinder Israels waren von Gott auserwählt: „Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein priesterlich Königreich und ein heiliges Volk sein.“

Von Anfang an verstanden sich die Amerikaner als das wahre Volk Gottes, nachdem das erste Volk den Messias abgelehnt hatte. Die Landnahme Amerikas war eine triumphale Wiederholung der ersten Landnahme in Palästina. „Die frühen englischen Siedler in Nordamerika folgten dem Wort des Herrn, als sie in ihrem „Neuen Israel“ die Amalekiter abschlachteten, um das Land von der Plage der Eingeborenen zu befreien. Ihnen folgten die gottesfürchtigen Christen, die ihre Bibeln schwenkten und ihre religiöse Pflicht erfüllten, indem sie das gelobte Land in Besitz nahmen und von Millionen „Kanaanitern“ befreiten, um anschließend Krieg gegen die Papisten in Florida, Mexiko und Kalifornien zu führen.“

Es gibt auch jüdische Sekten, die sich antinomisch aller Gesetze entledigt fühlen. (Siehe Gershom Sholem in seiner Biografie über Sabbatai Zwi.) Im Allgemeinen aber halten orthodoxe Juden sich streng an den Wortlaut der biblischen Gebote. Die Ultraorthodoxen in Israel jedoch haben keine Probleme, ihre palästinensischen Feinde mit anderen Gesetzen zu traktieren, als sie sich selbst behandeln.

Für Uri Avnery begann das Ausnahmedenken des jungen Staates Israel bereits mit Ben Gurion, der nicht bereit war, „Grenzen zu akzeptieren, die von der UN-Teilungsresolution festgelegt worden waren, weil sie nur für einen winzigen jüdischen Staat vorgesehen war. Ben Gurion sah voraus, dass die Araber einen Krieg beginnen würden, und er war entschlossen, diesen dazu zu benützen, um das Staatgebiet zu vergrößern“.

Mit der neuen Regierung in Jerusalem sieht Avnery alle Regeln friedlichen Miteinanders der Völker verletzt: „Das reine Ergebnis ist, dass Israel allen Anspruch auf Frieden, aufgegeben hat und dass die israelische Demokratie einen Schlag erlitten hat, von dem sie sich vielleicht nicht erholen dürfte.“ (Uri Avnery)

Erst die Christen des Neuen Testaments fühlten sich von der Despotie des Gesetzes völlig befreit. Das Einhalten der Werke war unfreie Werkgerechtigkeit. Sie aber unterwarfen sich der freien Gnade ihres Herrn und Heilands. Antinomie wurde zur Kerndoktrin der Jesuaner. Regeln galten nur für die Anderen. Die wahren Erwählten sind die Ausnahmen über allen Heiden und Ungläubigen.

Carl Schmitt hatte denselben Leitgedanken, als er schrieb: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“.

Auch Obama ist von der Einzigartigkeit der USA überzeugt. „Im Mai 2014 hielt Obama eine Rede in West Point, in der er sagte: „Ich glaube an die Einzigartigkeit der USA – mit jeder Faser meines Seins. Was uns so einzigartig macht, ist aber nicht unsere Fähigkeit, uns über internationale Normen und das Recht hinwegsetzen zu können; es ist unser Wille, sie durch unser Handeln durchzusetzen.“ 

Der dänische Friedensforscher Jan Oberg schreibt dazu: Diese Behauptung ist natürlich grundfalsch, denn Washingtons Gewohnheit, sich seit Jahrzehnten über wirklich alle Normen und das gesamte Recht hinwegzusetzen, ist beispiellos.“ 

„Wenn wir handeln, schaffen wir unsere eigene Realität. Und während die Welt die Realität studiert, werden wir andere Realitäten schaffen, die die Welt wieder studieren kann. Wir sind die Akteure der Geschichte und dem Rest der Welt bleibt nichts anderes übrig, als zu studieren, was wir tun“. So formulierte ein mächtiger amerikanischer Politiker die Einzigartigkeit der USA, die sich keiner Regel der Völker beugen wird.

Gibt es zwischen den USA und Hitler keinen Unterschied mehr?

Das Dritte Reich war totalitär. Die USA sind eine Demokratie – mit totalitären Elementen. Wenn Berlin zu feige ist, gegen diese Elemente zu protestieren, wird es selbst immer totalitärer. Die Schlafwandler beginnen wieder, totalitär zu wandeln.