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Arbeit (XI)

Hello, Freunde der Arbeit (XI),

der deutsche Frühling, eine außerordentliche Welle humaner Arbeit, wird nur dauerhafte Früchte tragen – wenn er politisch wird. Bleibt er unpolitisch, droht schnelles Verebben und karitatives Veröden. Ja, Umkippen in maßlose Enttäuschung.

Die Oststaaten, bei ihrem Beitritt zur EU anfänglich begeisterte Demokraten und Europäer, verwandelten sich in der kapitalistischen Wirklichkeit der Demokratie schnell in ernüchterte, desillusionierte Neubekehrte, die ihre Bekehrung zu bereuen schienen.

Der arabische Frühling war keineswegs nutzlos, doch die rebellischen Kräfte reichten noch nicht, um sich in stetige Politik zu verwandeln.

Gorbis Befreiung seiner russischen Landsleute aus zaristisch-stalinistischen Despotismen beendete den Kalten Krieg und erweckte Hoffnungen für weltweiten Frieden. Doch die Beharrungskräfte einer uralten Gesellschaft erzwangen die halbe Rückkehr zu Putin. Putin ist kein Stalin, aber auch kein Gorbatschow.

Es gibt keinen moralischen Fortschritt einer Gesellschaft (auch eines Individuums) ohne regressive Kompromissbildungen. Zwei Schritte voran, einen zurück: das ist das Gesetz der Echternacher Springprozession und des Fortgangs der Geschichte. Auch die Französische Revolution war der ungeheure Sprung in eine demokratische Zukunft – mit napoleonischer Regression ins Charismatisch-Absolutistische.

Begeisterung ist die Mutter jeder Veränderung. Doch Begeisterung allein genügt nicht, um stetige Grundlagenveränderung herbeizuführen. Begeisterung ist ein Gefühl. Gefühle sind nur die Hälfte des menschlichen Bewusstseins. Sie müssen komplettiert werden durch Verstand und Vernunft. Erst, wenn der Mensch denkt, was er fühlt und fühlt, was er denkt, ist er komplett geworden.

Gefühle sind nicht das Gegenteil der Vernunft, wie deutsche Schizophrenie-Intellektuelle nicht müde werden, in jedem Schmähartikel gegen die Vernunft zu

behaupten. Keine Vernunft ist emotionsfeindlich. Der rationale – oder weise – Mensch lebt im durchgearbeiteten Einklang seiner Gefühle und Gedanken.

Schon zu Beginn des Kapitalismus wurde Weisheit von dessen rasenden Bluthunden zur Strecke gebracht. Ließe sich heute jemand weise nennen, wäre er ein lächerlicher Popanz.

Die technische und ökonomische Moderne wurde zum Inbegriff der totalitären Vernichtung aller vernünftigen und weisen Erfahrungen der Menschheit. Man stelle sich vor, die Mafia besetzte ein ganzes Land und riefe ihre mafiösen Gesetze als Grundgesetze des Neuen und ihre Despotie als nächste Moderne aus – was wäre dann? Dann hätten wir eine realistische Beschreibung der gegenwärtigen Verhältnisse.

Mit der rasenden Verbissenheit religiöser Offenbarungsempfänger fallen Vertreter der Moderne regelmäßig über alles Bewährte, Sinnvolle und Vernünftige her und erklären es ab heute zum ultimativen Abschaum. Oder zum Alten, das für immer vergangen ist. Kommt die übernächste Moderne, frisst sie ihre Vorgängerin unter Absingen derselben schrecklichen Monodie.

Es wird Zeit, diesen uralten, vor 800 Jahren im Abendland eingeführten Terrorismus des Neuen, zum Müll von gestern zu erklären. Zum Alten, das unter der Chiffre des Neuen die Menschheit in den Abgrund stürzen wird. Die Moderne ist die weltliche Vollstreckerin der linearen Heilsgeschichte, die nur ein einziges Ziel kennt: die Vernichtung alles Irdischen, Weisen und Beständigen.

„Was der Welt für töricht gilt, hat Gott auserwählt, die Weisen zu beschämen; und was der Welt für schwach gilt, hat Gott auserwählt, das Starke zu beschämen, und was der Welt für unedel gilt und verachtet ist, hat Gott auserwählt, was nichts ist, um zunichte zu machen, was etwas ist: damit allem Fleisch der Ruhm genommen sei vor Gott.“

Die Weisheit der Menschen muss vernichtet werden. Zugunsten gottähnlicher Weltfeindschaft, Dummheit und Torheit.

Die Stärke der Menschen – nicht das Mächtige und Despotische, sondern das Vernünftige, das sich unter Menschen als human bewährte – muss vernichtet werden. Zugunsten weltvernichtender Inkompetenz der Gattung, die es nicht schaffen soll, ein menschenwürdiges Leben auf Erden zu führen. Lebenskompetenz wäre die wahre und vernünftige Stärke der Menschheit. Das Edle, die autonome Moral hybrider Menschen, die nicht auf göttliche Weisungen hören, muss vernichtet werden. Zugunsten einer gott-kriecherischen Untertänigkeit.

„Die sokratische Ethik bleibt von jeder Art des Unsterblichkeitsglaubens unabhängig und rein diesseitig orientiert. Diese Ethik beruht auf den beiden Pfeilern der Autonomie und der Autarkie. Hier handelt es sich um keine göttlichen Gebote, die befolgt werden müssen. Diese Lebenshaltung ist an der Erfahrung erprobt. Wer sie durchführt, ist einer, der nichts, auch den Tod, nicht fürchtet und unabhängig von allen Menschen und Dingen, sich selbst genügend, fest und sicher im Sturm des Lebens steht. Diese Ethik hat Sokrates weniger gelehrt, als gelebt.“ (Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos)

Sokratische Ethik ist das Edle und Starke, das der eifersüchtige und auf den Menschen neidische Gott ausradieren muss. Alles „Etwas“: die Natur, der mündige Mensch und seine selbst erbaute Welt, soll zunichte gemacht werden. Damit allem Fleisch der Ruhm genommen wird: damit das Selbstbewusstsein und der Stolz aller Irdischen ausgelöscht werden kann. Nur Gott und seine eschatologischen Stellvertreter sollen die Welt im Würgegriff haben und in linearer Erbarmungslosigkeit zu Tode bringen. Soli Deo gloria.

Das ist das Programm der Moderne, die unter dem Vorzeichen des Neuen alles Alte – Natur und Mensch – dem Feuer übergibt.

Wer sich der Moderne widersetzt, gilt als re-aktionär und rückschrittlich. Wenn der Fortschritt der Moderne sich dem Abgrund nähert, muss jeder Lebensfreund reaktionär und rückschrittlich werden, um den Weg zurück ins Leben zu finden. Re-agieren auf Gefahren ist lebensnotwendig. Umkehren, wenn Fortschreiten selbstmörderisch wäre, ist lebensnotwendig.

Adam Smith, der noch immer als Begründer des Kapitalismus gilt, wäre ein absoluter Gegner des heutigen Neoliberalismus:

„Der Mensch ist sich dessen bewusst, dass sein eigenes Interesse mit dem Gedeihen der Gesellschaft enge verknüpft ist, und dass die Glückseligkeit, ja vielleicht die Erhaltung seines Daseins, von ihrer Erhaltung abhängt. Aus all diesen Gründen hegt er darum einen Abscheu gegen alles, was dahin zielen kann, die Gesellschaft zu zerstören, und ist bereit, sich jeden Mittels zu bedienen, das ein ihm so verhasstes und schreckliches Ereignis zu verhindern vermag. Ungerechtigkeit wirkt aber mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft zu zerstören.“ (Theorie der ethischen Gefühle)

Und dennoch ist Adam Smith unfähig, seine Weisheit als Weisheit des Menschen auszugeben. Es muss die Weisheit Gottes sein. Welcher Mensch dürfte sich erkühnen, die Weisheit Gottes auf Erden zu installieren? „Wir neigen dazu, die Zwecke einer aufgeklärten und verfeinerten Vernunft als Weisheit von Menschen zu betrachten – was in Wirklichkeit die Weisheit Gottes ist.“

Rainer Hank von der „konservativen“ FAZ ist unfähig, obszöne Ungleichheiten als Ungerechtigkeit, Ungerechtigkeit als Ursache des Zerfalls einer Gesellschaft wahrzunehmen.

Peter Unfried von der linken TAZ ist unfähig, Kapitalismuskritik als wirksame Gegnerin obszöner Ungerechtigkeiten (hier im Fußballirrsinn) zu würdigen. „Auch im Fußball kann man die Gegenwart nicht mehr mit einer Theorie, etwa Kapitalismuskritik, beschreiben. Dafür ist sie zu vielschichtig. Es gibt den Irrsinn. Aber daneben gibt es auch Orte, an denen dieser Irrsinn in Vernunft und Zukunft verwandelt wird.“

Vollbringt das Irrsinnige, es wird die Zukunft herbeiführen. In der Moderne fungiert das Böse als Hebamme des Guten. Der Mensch muss immer böser werden, damit er besser wird. (Nietzsche) Wogegen wollen die Linken anschreiben, wenn alles Schlimme und Verhängnisvolle zum Besseren führt?

Erst der Tod aller europäischen Linken ebnete den Triumphzug des europäischen Neoliberalismus. Die wirksamsten Verbündeten Merkels und Schäubles sind die abgestorbenen Linken von Blair über Schröder, Gabriel bis Hollande. Für Steinbrück war es der schlimmste Fehler der SPD, für mehr soziale Gerechtigkeit einzutreten.

Es dauerte mehrere hundert Jahre, bis das zur Staatsreligion erhobene Christentum seine jenseitigen Herrschaftsmaximen in verschiedenen asynchronen Schüben in irdische Weltpolitik transformierte. Joachim di Fiore verlegte das Dritte Reich des Heiligen Geistes auf die Erde. Roger und Francis Bacon wollten das Paradies auf Erden mit Machtwissen und technischem Fortschritt realisieren. Das Zinsverbot musste erst peu à peu aufgehoben werden, bis die Wirtschaftler das Neue Kanaan per ökonomischer Raff- und Überschussmethoden im Diesseits platzieren konnten. Marx erblickte das Reich der Freiheit nach automatischer Geschichtsentwicklung hienieden. Für Hegel war es Gott selbst, der sein Reich des Objektiven Geistes in Berlin aus der Taufe hob. Die totalitären Faschisten des 20. Jahrhunderts wollten ihre 1000-jährigen Reiche mit barbarischer Gewalt verwirklichen. (Siehe Klaus Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen)

Auch der Kapitalismus begann im Jenseits. „Die klassische Theorie der kapitalistischen Akkumulation wurde erstmals im Mittelalter aufgestellt, und zwar nicht von Ökonomen, sondern von den Scholastikern mit ihrer rein theologischen Doktrin von der Schatzkammer des Heils: Anhäufung irdischer Verdienste durch Enthaltsamkeit und Opfer, um im Himmel unermesslichen Lohn zu erhalten. Einer dieser Scholastiker, Vincent de Beauvais, ermahnte im 13. Jahrhundert die Menschen, nicht nur für den Lebensunterhalt, sondern für Akkumulation zu arbeiten, die zu einer weiteren Produktion von Reichtum führen würde.“ (Lewis Mumford, Mythos der Maschine)

Max Webers These, der Protestantismus habe den Kapitalismus erfunden, ist ein deutsches Schauermärchen. Der Kapitalismus, in Grundzügen bereits von antiken Staaten vorexerziert, erhielt erst durch verweltlichte Ideen der christlichen Heilsgeschichte den wahren Antrieb und die natur- und menschenfeindliche Perfektion des gegenwärtigen Neoliberalismus.

Jeder Beginn einer neuen irdischen Eschatologie war der Anfang einer neuen Moderne, die alle bisher gültige Moral von der Tenne fegte. Der Orden des Franziskus, der seinen Mönchen Armut predigte, wurde vom damaligen Papst Johannes XXII. anerkannt, der den landläufigen Glauben, die Christen hätten den Kommunismus und Armut praktiziert, zur verdammenswerten Häresie erklärte. (Der heutige Franziskus will die Widersprüche seines Namenspatrons und des Papstes durch Wunder in seiner Person harmonisieren.)

Mönch, Soldat und Kaufmann verschmolzen zur repräsentativen Figur der jeweiligen Moderne. Die ersten Handelskolonien der Hansestädte waren klösterliche Enklaven unter strenger militärischer Disziplin. Wer im Himmel die größten Schätze sammeln musste, wollte sie bereits auf Erden in materieller Präsenz besitzen. Der mönchisch-soldatische Raffke musste – nach Mumford – „auf Liebe verzichten, um das Leben zu opfern und Macht auszuüben.“ Die alte Moral musste verschwinden, damit Geiz und hemmungsloser Egoismus ihr Regiment antreten konnten:

„Nach wenigen Jahrhunderten stellte der neue Kapitalist die damals herrschende Ethik in Frage. Das grenzenlose Selbstbewusstsein der neuen Kaufleute hatte keinen Platz mehr für Barmherzigkeit und Liebe im alten Sinn. Das kapitalistische Wertschema verwandelte tatsächlich fünf der sieben Todsünden des Christentums – Stolz, Neid, Geiz, Habsucht und Wollust – in positive soziale Tugenden und sah in ihnen den notwendigen Antrieb aller Wirtschaftstätigkeit; während die Haupttugenden wie Liebe und Bescheidenheit als „schlecht fürs Geschäft“ abgelehnt wurden, soweit sie nicht dazu beitrugen, die Arbeiterklasse gefügiger und willfähriger im Erdulden kaltblütiger Ausbeutung zu machen.“ Mandeville war nicht der Erste, der das Böse zum Motor des Guten machte.

Problem: wie es ist möglich, die Moderne als christliche Polit-Eschatologie zu bezeichnen, wenn sie justament christliche Werte zertrümmert?

Antwort: die damals herrschende Moral war eine verschlungene Mixtur aus griechischer und neutestamentarischer Ethik. Die christlichen Teile dieser unerquicklichen und widersprüchlichen Mischung aber waren antinomisch. Christliche Ethik erkennt man nicht an eindeutigen Taten, sondern an unsichtbarer Gesinnung, die sich wahllos aller moralischen Taten bedienen darf, selbst der unmoralischsten (liebe und tu, was du willst). Christliche Moral ist keine Summa kategorischer Imperative, sondern eine beliebig veränderbare wetterwendische Gesinnungsmoral, deren Richtigkeit nur durch Gott am Ende aller Tage ermittelt werden kann.

Merkels beliebiger Opportunismus gehorcht der lutherischen Antinomie: sündige tapfer, wenn du nur glaubst. Da Angie am Glauben keinen Mangel hat, kann sie sündigen, dass die Schwarte kracht. Gestern eisenhart gegen die Griechen, heute grenzenlos empathisch mit Flüchtlingen. Gestern Regel-Absolutistin, wenn‘s um Geld geht, heute sind ihr alle humanen Grundrechtsverletzungen der europäischen Verbündeten schnuppe. Orban, Cameron und Co können gegen Fremdlinge mit Hunden und Zäunen wüten. Andere Länder wollen nur Christen aufnehmen oder fordern gar NATO-Truppen an die Grenzen der EU: Flüchtlinge seien die größte Bedrohung der EU seit Bestehen derselben. Und die Mutter? Blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum.

Rechnet man den christlich-antinomischen Anteil aus der mittelalterlichen Moral heraus, bleibt nur die altgriechische Ethik übrig, die von den verschiedenen Moderne-Bewegungen in Schutt und Asche gelegt wurde. Letztlich ging es – und geht es noch immer – um den autonomen Kern der sokratischen Lebensfähigkeit auf Erden, die von Dritten Reichen des Heiligen Geistes, der Freiheit, des maßlosen Reichtums, der unendlichen Macht über die Natur, der faschistischen Rassenherrschaft, gnadenlos vernichtet wird.

Beliebig christliche Wechselmoralen durch ständig neue Modernitätsbewegungen – oder die alte, zeitlos gültige Moral des weisen „Heiden“, der sein Leben in der Natur in menschenfreundlicher Heiterkeit verbringen will: das ist hier die Frage. Eine zeitlose Moral ist keine kritikimmune lernunfähige Monstranz. Sie kann jederzeit verändert werden – aber nur durch demokratische Debatten, Argumente und gelebte Erfahrungen. Niemals durch unfehlbare Order einer selbsternannten Moderne.

Der deutsche Frühling, der erste emotionale Aufstand gegen den Kapitalismus seit der 68er Rebellion, jedoch kein Produkt isolierter Studenten, sondern aus dem Bauch der Gesellschaft gekrochen, muss politisch werden, damit er nicht in die Falle karitativer Brosamen tappt. Schon jetzt beginnt der heimtückische Kampf der Bürokraten, um die unlenkbaren Spontanhorden nach getaner Anfangsarbeit wieder los zu werden. Indem man die Helfer immer mehr gezielten Schikanen unterzieht.

Es ist ja nicht so, dass die Deutschen nicht gerne hülfen. Schon immer waren sie im Almosengeben vorbildlich. Doch ihre Spendenbereitschaft an Hungernde in aller Welt kümmerte sich nicht um die afrikaschädliche agrarische Subventionspolitik der EU, die alle Entwicklungshilfen konträr zunichte machte.

Was ist der Unterschied zwischen einem christlichen Samariter und einem politischen Demokraten? Der barmherzige Samariter vollbringt ein zufälliges Werk der Nächstenliebe – um sich anschließend aus dem Staub zu machen. An der revolutionären oder reformerischen Änderung eines undemokratischen oder antihumanen Staates ist er nicht die Bohne interessiert.

Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter heißt es: „Ein Samariter aber reiste und kam dahin; und da er ihn sah, jammerte ihn sein, ging zu ihm, verband ihm seine Wunden und goß darein Öl und Wein und hob ihn auf sein Tier und führte ihn in die Herberge und pflegte sein. Des anderen Tages reiste er und zog heraus zwei Groschen und gab sie dem Wirte und sprach zu ihm: Pflege sein; und so du was mehr wirst dartun, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme.“

Zwar ist der Samariter freigebiger als Priester und Popen, doch von nachhaltiger Veränderung der Verhältnisse kann bei ihm keine Rede sein. Erlösungsreligion ist unverträglich mit „heidnischer“ Politkompetenz.

Die griechische Polis entwickelte demokratische Methoden und Strukturen, um ihre Probleme nachhaltig und für alle Menschen in gleicher und gerechter Weise zu lösen. Die Polis ist kein Revier für gnadenhafte Einfälle und willkürliche Barmherzigkeitslaunen.

Agape (christliche Nächstenliebe) will keine politischen Veränderungen, sondern muss individuelle Punkte für die eigene Seligkeit sammeln. Am weiteren Schicksal ihrer Hilfsobjekte hat sie kein Interesse.

Die Deutschen haben den Unterschied zwischen verlässlich gerechter Politik und emotionalen Augenblickstaten noch nicht verstanden. Sloterdijk will die staatlichen Steuern abschaffen zugunsten persönlicher Gnadengaben. Jede Sozialleistung des „Staates“ gilt als kaltes Präsent eines noch kälteren Ungeheuers. Die Verniedlichung des Staates zu Väterchen Staat soll von der grundlegenden Tatsache ablenken, dass es weder einen Staat gibt noch abstrakte Gaben desselben. In einer intakten Demokratie gilt: das Volk unterstützt sich selbst. Nicht weil es muss, sondern weil es diese Solidarität für richtig hält.

Jetzt ist Merkel wieder obenauf. Erneut hat sie es meisterhaft verstanden, sich in letzter Minute an die Spitze der Volks-bewegung zu setzen. Denn es ist das Volk, das sich bewegt und verändert hat.

Merkels antinomische Wendehals-Genialität glänzt in der Welt und lässt ihre Brutalitäten gegen die Griechen vergessen. Das christliche Urmuster der Merkel‘schen Wetterwendigkeit würde sich der deutschen Gesellschaft nur erschließen, wenn sie endlich lernte, woran sie angeblich glaubt: die bizarren Abgründe des christlichen Credo.

Arbeit und Moral erleben die Deutschen momentan ganz neu. Wahre Arbeit ist kein sklavisches Erwerbsmalochen, sondern solidarisches Arbeiten für den Menschen. Moral muss keine saure Pflicht bleiben und kann zum Herzensbedürfnis werden.

Sollten die Deutschen ihre unerwarteten Erfahrungen nicht in stabile Politstrukturen gießen, liefen sie Gefahr, nach euphorischer Empathie in politische Verdrossenheit zurückzufallen.

Fortsetzung folgt.