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Arbeit (III)

Hello, Freunde der Arbeit (III),

Denn nie, sterblichen Meistern gleich,
Habt ihr Himmlischen, ihr Alleserhaltenden,
Daß ich wüßte, mit Vorsicht
Mich des ebenen Pfads geführt.

Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er, kräftig genährt, danken für alles lern,
Und verstehe die Freiheit,
Aufzubrechen, wohin er will.“

Aufbruch allerorten. Auf-Bruch ist Bruch mit dem Bestehenden, gleich, ob es gut ist oder schlecht. Bruch mit dem Guten führt ins Schlechte. Nur Bruch mit dem Schlechten führt ins Gute. Das setzte voraus, dass man Gutes vom Schlechten unterscheiden könnte.

Für die Moderne ist alles gut, was neu, alles schlecht, was alt ist. Die Moral als Wissen vom Guten und Schlechten wird von der Moderne zertrümmert, die nur Neues und Altes kennt.

Gehört zu Hölderlins Freiheit auch die Wahl, zu bleiben, wo er will? Oder muss der Mensch immerzu aufbrechen? Auch dahin, wohin er nicht will?

Wohin will er? Darf er ankommen? Darf er sich im Reigen der Lebewesen einnisten, im Kreis vertrauter Menschen heimisch werden? Darf er Heimat nennen, wo er Mensch sein darf unter Menschen? Oder muss er ständig ins Ungewisse aufbrechen? Nie zur Fülle des Lebens gelangen?

Ist die Menschheit angekommen auf Erden? Will sie denn ankommen? Oder ist

irdisches Leben nur die Rennstrecke in ein verlockendes Jenseits, die Transitstrecke in ein trügerisches Nichts? Immer Werden, niemals Sein? Immer Weg und niemals Ziel? Ist Leben nichts als Gefahr, Rastlosigkeit und Unbehagen? Freud spricht vom Unbehagen in der Kultur, das die Menschen nie bewältigen könnten:

„Der Lebenszweck wird also durch das Lustprinzip gesetzt. Dieses Programm ist jedoch undurchführbar; „man möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch glücklich sei, ist im Plan der ‚Schöpfung‘ nicht enthalten.“ Wir sind so eingerichtet, dass wir nicht die Dauer, sondern nur den Kontrast intensiv genießen können. „Das Programm, welches uns das Lustprinzip aufdrängt, glücklich zu werden, ist nicht zu erfüllen, doch darf man – nein, kann man – die Bemühungen, es irgendwie der Erfüllung näherzubringen, nicht aufgeben.“ (Freud)

Erfüllung ist aussichtslos – und dennoch sollen wir es versuchen? Spricht aus Freuds Worten kraftlose Entsagung oder ein gewisser Sisyphos-Trotz, der das Absurde von Camus tiefenpsychologisch bestätigt?

Tertullians Feindschaft gegen heidnische Lebenskunst wird zur Selbstberuhigungsformel der Moderne: ich glaube, weil es absurd ist. Ich lebe, weil es absurd ist.

Lust als Friedensschluss mit sich selbst, als Zu-frieden-heit, ist in der Moderne verboten. Zufrieden ist stets selbst-zufrieden. Selbstgerecht, selbstzufrieden, selbstgefällig: alle Tugenden, die mit selbst beginnen, sind der europäischen Moderne untersagt. Der Mensch darf kein Selbst haben, sich selbst nichts zu verdanken haben. Alles muss er von Gott empfangen, alles von ihm erhoffen.

Anders der selbst-bewusste Amerikaner, der ein Self-made-man sein muss. Selfmademan übersetzten Europäer lange abschätzig mit Emporkömmling, Parvenü, Karrierist. Erst mit Einbruch des amerikanischen Neoliberalismus wurden die Aufsteiger zu Leitfiguren der hiesigen „Chancen-Gerechtigkeit“. Besonders bei Proleten, die auch in Deutschland aus bitterarmen Kanzlern zu Gazprom-Millionären werden wollten.

Was ist der Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Chancengerechtigkeit? Mit letzterer kann man allen das Maul stopfen, die nie echte Aufstiegs-Chancen hatten. Warum eigentlich immer auf-steigen? Sind die da Oben glücklichere und bessere Menschen als die Unten? Wenn alle aufstiegen, gäbe es kein Oben mehr. Bildung soll der Kern der Chancengerechtigkeit sein – als ob die Glücksritter dieser Gesellschaft gebildete Gentlemen wären! 

Goethe war kein Schüler der Griechen, als er die Unzufriedenheitspflicht der Moderne zum Kern der faustischen Wette erklärte:

„Werd‘ ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen,
So sei es gleich um mich getan!
Kannst du mich schmeichelnd je belügen,
Daß ich mir selbst gefallen mag,
Kannst du mich mit Genuß betrügen,
Das sei für mich der letzte Tag!
Die Wette biet‘ ich!“

Amerikas calvinistische Unrast und Hektik wurde in Alteuropa geboren. Wie ist es möglich, dass menschliche Urbedürfnisse sich ins Gegenteil verkehren? Dass sich Tugenden in Schwächen, private Laster in öffentliche Tugenden verwandeln?

Der Schein trügt, sie verändern sich nicht durch dialektische Magie. Sie entmischen sich lediglich. Bedürfnis und Befriedigung fallen immer weiter auseinander.

Im Glauben sind Bedürfnisse irdisch, ihre Erfüllung aber geschieht im Himmel. Das Durchlaufen des irdischen Lazaretts lassen sich fromme Europäer durch jenseitige Freuden überreich belohnen. Friede, Freude und Gerechtigkeit können durch menschliche Autonomie nicht hergestellt werden, doch Gott wird alles Leid auf Erden im Himmel ins Gegenteil verkehren. „Gott wird alle Tränen abwischen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein und kein Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ 

Die Biografie der Gefühle zeigt ein Happy-End – doch erst im Jenseits. Die Amerikaner sind nicht so frustrationstolerant wie die leidgewohnten Deutschen, bereits auf Erden begehren sie einen Vorgeschmack des Triumphs auf die blanke Hand. Ihnen muss das irdische Leben bereits hier beweisen, was das überirdische dereinst in Fülle bieten wird.

Kinder wollen sofortige Befriedigung ihrer Bedürfnisse oder sie erheben lautstarken Protest. Wer erwachsen werden will, muss lernen, die Befriedigung seiner Bedürfnisse aufzuschieben. Im Vergleich mit jenseitig fixierten Demutsaposteln der Deutschen sind Amerikaner kindischer und ungeduldiger. Man müsste sich fragen: wenn sie in der irdischen ecclesia triumphans nicht schon eine Vorabsumme ihres himmlischen Glücks erhielten – wären sie noch immer tiefgläubige Fundamentalisten? 

Grundsätzlich gilt auf Erden das Gesetz der göttlich verordneten Bewährungspflicht: Leid und Schmerz sind die Geburtshelfer des finalen Glücks. Durch Kreuz zur Krone. Mittel können konträr sein, doch das Endziel des frommen Strebens ist nichts als sattes Glück.

Das sündige Gewissen, das Schuldbedürfnis der Alteuropäer ist weitaus größer als die Erfolgsgier des neuen Kontinents, der sich schon hienieden als Gottes eigenes Land anpreist. Mehr für Amerikaner als für Europäer gilt die Verheißung, die schon auf Erden belohnt werden will: „Gebet, so wird euch gegeben werden: ein gutes, vollgedrücktes, gerütteltes, überfliessendes Maß wird man in euren Schoß geben. Denn mit welchem Maß ihr messt, mit dem wird euch wieder gemessen werden.“

Christen tun nichts umsonst. Ihre Tugendlehre ist nicht der kategorische Imperativ Kants, der allein um der Moral willen moralisch ist. Der egoistische homo öconomicus der Amerikaner ist die Weiterentwicklung des heilsegoistischen homo religiosus. Alles, was er tut, muss er tun, um das Himmelreich zu gewinnen. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, dann wird euch alles andere zugetan. Was hülfe es, wenn der Mensch allen weltlichen Ruhm gewönne, aber nähme Schaden an seiner Seele?

Das Christentum ist eine gigantische do ut des-Veranstaltung. Ohne Leistung der Menschen keine Gegenleistung Gottes. Zwar hat Luther den mammonistischen Ablass abgeschafft, doch nur, um ihn durch den Ablass der Selbstzerknirschung zu ersetzen.

Als das Vertrauen der Urgemeinde in Gottes Verheißungen einbrach, da die Wiederkunft des Herrn noch zu Lebzeiten der ersten Jünger nicht eintraf, musste die Kirche sich was einfallen lassen. Das gestörte Urvertrauen in den Himmel wurde in eine selbst-erfüllende Prophezeiung verwandelt. Seitdem verwirklichen die Christen ihre Erwartungen in eigener Regie. Durch Fortschritt, Technologie und Wirtschaft eroberten sie die Welt, die sie als Gabe für ihren Glaubensgehorsam betrachten.

Die Seligkeit im Drüben musste in ökonomischer und politischer Machtwährung im Diesseits vorab bezahlt werden. Der Himmel musste schon auf Erden sichtbar werden. Das galt vor allem für die Amerikaner, die sich als Kontinent der Wiedergeborenen präsentierten, während die Europäer immer gottloser wurden und unter der Despotie des Bösen verharrten.

Im SPIEGEL attackiert Henrik Müller die Deutschen als Nation der Selbstzufriedenen, die sich bräsig auf ihren Lorbeeren ausruhten:

„Unter der behaglichen Oberfläche kommt satte Selbstzufriedenheit zum Vorschein. Lieber keine Veränderungen, bloß keine Experimente, lieber alles lassen, wie es ist. In der Summe zeigt sich eine problematische Grundhaltung: Hier hockt eine Nation, die ihren Wohlstand als gesichert und ihre eigenen Erfolge auf den Weltmärkten als gegeben ansieht. Veränderungen einfach bräsig abzulehnen ist keine Option. Wer sich globalisierungssatt zurücklehnt, lebt gefährlich.“

Nun erhalten wir die Antwort auf unsere Frage, warum die Menschen immer mehr malochen müssen, obgleich die Erde von gewaltigen und intelligenten Maschinen überflutet wird: die Moderne ist der Tod alles Vernünftigen.

Eine vernünftige Wirtschaft wäre die Versorgung und Sättigung der Menschheit. Sonst nichts. Mehr als diesen überschaubaren Zweck hätte sie nicht zu erfüllen. Gerechte Selbstversorgung ist das Ziel einer humanen Ökonomie. Würde die heutige Weltwirtschaft vernünftig handeln, könnten die begrenzten Bedürfnisse der Menschen auf Erden gerüttelt und geschüttelt befriedet werden.

Die Bedürfnisse der Menschen werden zu unendlichen verfälscht, damit die Wirtschaft ins Unendliche wachsen kann. Die Moderne will mehr als die satte Selbstversorgung der Menschheit. Sie will Fortschritt und unerbittlichen Wettbewerb um die planetarische Herrschaft. Alles, was sie bereits erreichte, gilt ihr als das Alte, das durch ständige Kreation eines Neuen vernichtet werden muss.

Ökonomen reden von schöpferischer Selbstzerstörung. Das Neue ist das Gebot der Heilsgeschichte, deren Fortgang durch Zerstören der alten Natur vorangetrieben wird. Auf der teuflischen Erde darf der Mensch nicht satt werden. Aus eigener Kraft darf er sein Leben nicht sinnvoll fristen. Würde der Mensch autonom und autark sein irdisches Schicksal gestalten, welche Notwendigkeit bestünde für das Erlösungswerk eines Gottes?

„Schon seid ihr satt geworden, schon seid ihr ohne uns reich geworden.“ Reich werden mit Gottes Hilfe ist erlaubt, ja geboten. Aber nicht ohne Ihn. Satt und zufrieden werden ist blasphemische Hybris. Der satte und selbstzufriedene Mensch würde sein irdisches Dasein als eine in sich sinnvolle Ganzheit erleben, die keiner transzendenten Komplettierung bedürfte.

Die alten Hebräer kannten noch kein Jenseits. Sie lebten noch vollständig im Diesseits. Ohne Gott ging es zwar nicht, doch dessen Interventionen beschränkten sich auf die irdische Zeit der Menschen: Abraham starb alt und lebenssatt. Doch alle Mühe und Arbeit der Menschen wäre vergeblich, wenn es nicht im Geiste des Herrn geschähe. „Man verschlang zur Rechten und blieb hungrig, man fraß zur Linken, und ward nicht satt.“

Der Sinn der gegenwärtigen Arbeit dementiert das Ziel einer befriedigenden Lebensgestaltung. Für Sünder und Heiden ist Arbeit eine lebenslange Strafe – ohne stolzmachenden, sättigenden Ernährungswert. Nur mühsam soll der Mensch von seiner Maloche vegetieren können.

„Verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist.“

Kein Lustprinzip, kein Prinzip befriedigender Arbeit, mit der man sich und seine Sippe ernähren könnte. Der Mensch soll nicht erfahren, wozu er fähig ist. Er soll bleiben, der er nach dem Sündenfall immer war: der Rohrkrepierer der Geschichte. Kein selbstbewusstes Lernen, kein Erkennen der Natur als Quelle aller Lebensgaben, keine Glücksgefühle über seine irdische Lebenskompetenz.

Es ist eine Mär, die Griechen hätten die Arbeit abgelehnt. Sie lehnten fremdbestimmte Tätigkeiten ab, die den Arbeiter zum Sklaven mächtiger Arbeitgeber machten. Trefflicher war Marxens Analyse der entfremdeten Arbeit auch nicht. Hesiod, der dichtende Bauer, besang die Arbeit als Tätigkeit freier Menschen, die es ablehnten, von der Arbeit anderer zu leben.

Das Naturrecht der Starken, die sich ihre Lebensgrundlagen durch Gewalt erzwangen, konnte nur durch autarke Arbeit gebrochen werden. Ohne Arbeit der Gleichen und Freien wäre eine athenische Polis nicht entstanden. Sokrates betrachtete seine mäeutische Tätigkeit auf der Agora als Arbeit an der Demokratie. Wie könnten Menschen gute Demokraten sein, wenn sie nicht wissen, was sie tun und reden?

Hesiod: „Keine Arbeit ist Schande, nur Nichtstun ist eine Schande.“

Nichtarbeitende gleichen den Drohnen im Bienenstand. Auch Arbeit ist eine Ordnung der Natur, die Unsterblichen lieben den Fleißigen. In Vermeidung von Gewalt und Unrecht, in rechtlichem Handeln, fleißiger Arbeit und redlichem Erwerb besteht die bürgerliche Tüchtigkeit (arete).

Das Leben war kein Schlaraffenland. Der Mensch musste sich bestimmte Kompetenzen aneignen, um seinen Pflichten nachzukommen. Doch wenn er sie gelernt hatte, konnte gelingende Arbeit zum Selbstbewusstsein des Menschen beitragen:

„Laster kannst du dir ohne Bemühen in Menge erwerben:

Kurz ist der Weg dahin und nahe dir wohnen sie immer.

Doch vor die Tüchtigkeit setzten den Schweiß die unsterblichen Götter.

Weit und steil ist der Pfad, der zu ihr führet den Wanderer

Und gar rauh im Beginn; doch hat er die Höhe gewonnen,

Geht es sich leicht darauf hin, war auch beschwerlich der Anstieg.“

Bei den Griechen führt der Weg der Arbeit durch mühevolles, aber befriedigendes Lernen zur Virtuosität des täglichen Lebens. Die Urchristen hingegen preisen die lebenslange Tortur einer beschämenden Strafarbeit ohne Sinn und Verstand. Im Neuen Testament wird die Todesstrafe für Arbeitsverweigerer, Faulenzer und Müßiggänger gefordert: wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.

Nur Herrenmenschen schämen sich der Arbeit, lassen sich durch Fronarbeit anderer ernähren. Bürger mit Selbstbewusstsein wollten erproben, wozu sie fähig waren. Es war unter ihrer Würde, sich von Abhängigen ernähren zu lassen. In einer intakten Demokratie kann es keine Herr-Knecht-Problematik geben. In der Gemeinde des Erlösers hingegen gibt es nur sklavische Dienste von Knechten, denen der Herr nicht zu Dank und Anerkennung verpflichtet ist:

„Dankt er auch dem Knechte, daß er getan hat, was ihm befohlen war? Ich meine es nicht. Also auch ihr; wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprechet: Wir sind unnütze Knechte; wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren.“

Würden die Griechen ihre Schulden zurückzahlen, würden sie nur tun, was ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit wäre. Heilige Regeln müssen befolgt werden. Anerkennung und Dank kann man sich mit regelgehorsamen Trivialitäten nicht erwerben.

Gottes Geschöpfe sind immer im Rückstand, um ihre Sündenschulden zu begleichen. Mit Pflichtarbeit können sie sich keine Verdienste erwerben. Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. Aus eigener Kraft entrinnt kein Mensch seiner ewigen Schuld. Nur der Heiland kann von dieser Schuld befreien – wenn der Mensch seinen Kotau vor ihm macht.

Welcher neutestamentliche Text ist der Lieblingstext von Claudia Roth? Er steht in Matthäus 6,25 ff und gehört zur berühmten Bergpredigt. Viele wollen in ihm die Verheißung eines Paradieses auf Erden sehen. Dabei geht es um die totale Entmündigung des Menschen, der sein Leben ohne Gott nicht gestalten kann.

„Darum sage ich euch: Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr denn Speise? und der Leib mehr denn die Kleidung? Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr denn sie? Wer ist aber unter euch, der seiner Länge eine Elle zusetzen möge, ob er gleich darum sorget? Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist wie derselben eins. So denn Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr euch tun, o ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden? Nach solchem allem trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr des alles bedürfet. Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.“

Es geht nicht um ein manieriertes Sein in der Sorge. Sondern um die Kompetenz der Vorsorge und einer vernünftigen Lebensgestaltung des homo sapiens. Der Mensch kann seine Lage überblicken und durch kluge Voraussicht sein Leben gestalten. Doch Gottes Sirenengesänge wollen den Menschen zur absoluten Untätigkeit und lebensgestaltenden Inkompetenz verführen. Auf dass alles von Ihm allein abhänge.

Heiden haben den Ehrgeiz, sich durch kluges und lustvolles Betätigen für sich und ihre Lieben nützlich zu machen. Gläubige verachten das weltliche Getriebe und ziehen sich in asoziale Klöster und Eremitenhöhlen zurück. Erst als die Kirche zur mächtigsten Organisation Europas wurde, erfanden Mönche das ora et labora, um durch weltliches Ernährungswissen Macht über die dumpfen Germanen zu erringen.

Die Benediktiner führten Kirchenuhren ein und erdachten sich die Selbstunterwerfung des Menschen unter das Prinzip des unerbittlichen Zeitmanagements. Das gleichmäßige Schlagen der Kirchenglocken war die Vorwegnahme der Stechuhr.

Wenn alles von Gott abhängig ist, muss der Zeitsklave nur noch seine Akkordarbeit verrichten. Um Effektivität seiner Tätigkeiten muss er sich nicht kümmern: bei Gott allein liegt das Gelingen. Verantwortung trägt der Mensch vor Gott, nicht vor sich selbst und seinen MitbürgerInnen. Damit ist das Prinzip Verantwortung hinfällig.

Gott ernennt den Menschen zur Krone der Schöpfung und degradiert ihn gleichzeitig zum unmündigsten Wesen des Universums. In diesen Widersprüchen kann niemand mündig und selbständig werden. Rationale Überlebensfähigkeiten des Menschen werden unter Schalmeienklängen Gottes zertrümmert.

Menschliches Leben ist kein Selbstzweck. Nur um Gottes willen soll der Mensch leben. Alles andere wird ihm von Oben in Gnaden zugefügt. Das Leben ist eine einzige Gnade, die mit absoluter Unterwerfung unter Gottes Willen bezahlt werden muss. Auch hier wird der Mensch zum ewigen Schuldner des Himmels, der seine Schuld nur abtragen kann, wenn er zum lebensunfähigen Kind regrediert.

Die Degradierung des Menschen soll ihm versüßt werden durch seine – unverdiente – Erhöhung zur Krone der Schöpfung. Tiere und Pflanzen sind nur dazu da, um von ihm gefressen und ausgerottet zu werden. Es muss der Natur zur Ehre gereichen, sich im Dienst des Menschen aufbrauchen und erschöpfen zu lassen. Tiere und Pflanzen werden geschildert, als seien sie ohne Gott lebensunfähig.

Kausale Naturgesetze, die allen Lebewesen eine kosmische Ordnung und Lebensfähigkeit verleihen, scheinen dem heiligen Wundermann unbekannt. Was hatte der Hellenismus damals schon an Kenntnissen über Flora und Fauna zusammengetragen. Aristoteles hatte mehr Bücher über Natur geschrieben als über Philosophie. Noch im Mittelalter waren diese Bücher die Grundlage aller klerikalen Naturkunde.

Die Bergpredigt unternimmt den aggressiven Versuch, die Erkenntnisfortschritte der Ungläubigen zu eliminieren und auf die Stufe magischer Priestermacht zu regredieren. Wenn alles von Gott abhängt, ist der menschliche Kopf nur ein überflüssiges Organ. Wer nach dem Reiche Gottes trachtet, kann seine natürliche Intelligenz an der Garderobe der Natur zurückgeben. Für teuflische Fähigkeiten hat er keine Verwendungsmöglichkeiten mehr.

Wenn Arbeit zur irrationalen, wirkungslosen und lebenslangen Tortur für den Menschen wird, darf sie durch rationale, effektive und menschenfreundliche Maßnahmen nicht korrigiert und reduziert werden. Was geschieht, wenn die Erwählten Gottes nicht arbeiten müssen? Sie erheben sich zur Herrenschicht des christlichen Abendlandes, die sich von der Maloche des ungläubigen Pöbels ernähren lässt. Klerus und Adel schließen sich zur mächtigen Eliteklasse des Westens zusammen und werden nicht müde, mit immer neuen und überraschenden Wendungen der Ökonomie und Theologie die Vielzuvielen auszunehmen.

Die Regeln der Ökonomie werden zu Privilegien derer, die so tun, als würden sie arbeiten. In Wirklichkeit saugen sie mit undurchschaubaren mathematischen Regeln das ungebildete Volk aus. Wissen ist Macht. Dem Volk wird eingebläut, dass die Realität zu komplex sei, als dass sie von Dumpfbacken verstanden werden könnte.

Ein Gemeinwesen, das keine selbstdenkenden Bürger und Bürgerinnen kennt, sondern nur herrische Köche und servile Kellner, hat es nicht verdient, Demokratie zu heißen.

Fortsetzung folgt.