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Arbeit (II)

Hello, Freunde der Arbeit (II),

alle Aspekte der Gegenwart stehen unter dem Diktat der Moderne. Wahrheit, Moral, Fortschritt, Kreativität, Arbeit, Ökonomie, Weltpolitik, Zukunft: die ganze Gegenwart muss am Maßstab der Modernität gemessen, beurteilt und ausgerichtet werden. Was ist wahr? Was moralisch? Wenn es modern ist. Was ist fortschrittlich, kreativ, zukunftsgewinnend, ökonomisch siegreich, politisch erfolgreich, arbeits- und lebensprägend? Wenn es modern ist.

Modernität ist der höchste Begriff der Neuzeit, der Leitstern allen gegenwärtigen Denkens, Tuns und Machens. Dennoch ist er der dunkelste, sperrigste und widersprüchlichste Begriff, dem wir uns unterstellen und blindlings folgen.

Wenn schon unser Denken verworren und widersprüchlich ist, wie kann unser Tun überzeugend und folgerecht sein?

Wir sind, was wir tun, wir tun, was wir denken. Was denken wir über die Moderne? Wie können wir wissen, was wir tun, wenn wir nicht wissen, wer wir sind und was wir denken?

Die Natur – oder das Sein – hat alles erschaffen. Doch der Mensch bestimmt sein Dasein innerhalb jener Freiheitsgrade, die ihm die Natur zur Verfügung gestellt hat. Bestimmt er sie nicht, war er kein freier Mensch, sondern ein Knecht außermenschlicher Mächte.

Noch haben wir den Zustand der freien Menschheit nicht erreicht. Alle Gesetze, denen wir folgen, stammen zwar von uns. Doch wir tun, als seien sie die Weisungen eines Gottes, einer Geschichte, einer Evolution oder festgelegten Heilsgeschichte, die wir befolgen müssen. Also folgen wir uns selber, doch so, als folgten wir Mächten, denen wir uns nicht verweigern dürften.

Die rasende Energie der Moderne kommt aus dem Gehorsam gegen

übermenschliche Kräfte, der uns von aller Verantwortung für unser Tun befreit: der Verantwortung vor unserem eigenen Tribunal und Gewissen. Glauben wir, uns vor Gott verantworten zu müssen, ahnen wir, dass wir davonkommen: wir glauben nicht unserem Glauben. Um unseren Nichtglauben zu überdecken, bersten wir von tätigem Glauben.

In der Natur gibt es keine übermenschlichen Mächte, denen wir Rechenschaft ablegen könnten. Fühlen wir uns identisch mit unwiderstehlich scheinenden Mächten, bersten wir von Tatkraft und Wirkungswillen. Ein raffinierter und gefährlicher Selbstbetrug, uns zu folgen, als folgten wir den Direktiven unfehlbarer Autoritäten. Wir halten uns für Höhepunkte und Herren der Natur und segnen unser Tun, indem wir uns von Oben segnen lassen.

Was ist das Moderne? Das Neue im Gegensatz zum Alten. Das ist alles? Das ist alles. Was an dieser leeren Formel ist so berückend? Dass wir einen untrüglichen Maßstab zu besitzen scheinen für die Frage: was sollen wir tun? Wir sollen Neues schaffen und das Alte vernichten. Alles ist gut, was neu, alles böse und schlecht, was alt und von gestern ist.

Alle verwirrenden und komplexen Fragen nach Dürfen und Sollen sind beantwortet, wenn wir alles dürfen, was wir selber tun. Denn das Neue erfinden und tun wir selbst. Was wir selber kreieren und produzieren, ist wahr und richtig. Es ist das Neue, das wir dem Alten, Verbrauchten und Unzeitgemäßen gegenüberstellen.

Das Neue muss das Alte vernichten. Das Alte ist die Natur, das Neue die künstlich hergestellte Übernatur. Manche nennen es Zivilisation, manche technischen Fortschritt.

Der Mensch, das Wesen, das Neues schafft, muss keine Zweifel und Skrupel mehr an sich haben. Als homo novus ist er unfehlbar geworden. Ein neuer Mensch ist er, wenn er ständig Neues produziert und erarbeitet.

Ist es nicht vermessen, sich als Mensch für unfehlbar zu halten? Nicht, wenn der Mensch sich zum gottähnlichen Wesen erheben darf. Er darf es, wenn er einen Gott erfindet, den er zum Vorbild des Menschen erklärt. Als Gottmensch, Menschengott oder Ebenbild Gottes hat der Mensch seine irdischen Fehler und Defizite überwunden. Er muss weder denken noch lernen, denn er weiß alles, weil der Himmel es ihm offenbart hat. Er kann nicht irren, denn alles ist ihm bewusst. Er muss sich nicht korrigieren, denn er ist unfehlbar geworden. Seine „Erbsünde“ hat er abgetan. Als neuer Mensch ist er ein Erleuchteter oder ein religiöser Übermensch.

Wir betreten heiligen Boden, der gläubige Mensch ist gottähnlich geworden. Das Alte, Verruchte und Sündige ist vergangen, siehe, alles ist neu geworden. Der neue Mensch ist der Wiedergeborene, der alte Mensch der Sündenkrüppel. Die Moderne ist die Siegerepoche der Neugeborenen, Unfehlbaren und Gottgleichen, die das Alte – alle Gottlosen und Glaubensfeinde – aus dem finalen Rennen nehmen und unschädlich machen müssen. Im Jüngsten Gericht gibt’s Siegerehrung für die EINPROZENT und Autodafé für die 99-PROZENT Verlierer.

Die Erhöhung des Menschen zu einem gottähnlichen Wesen beginnt in der Schöpfungsgeschichte: Siehe, der Mensch – eigentlich nur die kesse Eva – ist worden wie unsereiner. Adam, Mitläufer, profitiert vom Erkenntnisinteresse seiner rippenverfertigten Handlangerin. Bei Daniel werden die Gerechten zu Lehrern, „die leuchten werden wie des Himmels Glanz, und die, die so viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.“

Der Verfasser des 82. Psalms spart nicht mit Verheißungen: „Ich habe gesagt, ihr seid Götter und allzumal Kinder des Höchsten.“ Im Neuen Testament werden die Frommen von ihrem Herrn in den Himmel gehoben – weit über ihre irdische Erbärmlichkeit hinaus: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue und wird Größeres als dies tun. Denn ich gehe zum Vater und was ihr bitten werdet in meinem Namen, das will ich auch tun, auf dass der Vater geehrt werde in dem Sohn.“

Von Töchtern ist keine Rede. Das Erbe der Vollmacht verbleibt in der Männerhorde. Die Jünger haben Chancen, ihren göttlichen Herrn und Meister in den Schatten zu stellen.

In seinem aufregenden Buch „Der Übermensch“ schreibt der Theologe Ernst Benz: „Damit der Vater in dem Sohn verherrlicht werde, verheißt Jesus seinen Jüngern eine Geisteskraft, die sie befähigt, noch größere Werke zu tun als er selber, das heißt sogar, ihn selbst durch Wirkungen des Heiligen Geistes zu übertreffen.“ Ähnlich der erste Johannesbrief: „Meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder, und es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erschienen wird, dass wir ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“ Die tägliche Erneuerung wird zum unendlichen Fortschritt des Christen, der als Steigerung seines inneren Menschen immer höhere Herrlichkeiten darstellt: „Nun aber spiegelt sich in uns die Herrlichkeit des Herrn mit aufgedecktem Angesicht und wir werden verklärt in dasselbe Bild von einer Klarheit zur andern als vom Herrn, der der Geist ist.“ Benz erläutert: „Hier erscheint der Geist als die Kraft einer progressiven Seinserhöhung und Transformation des Menschen, die ihn ins Übermenschliche hinein erhebt.“

Die Machtaura des Wiedergeborenen wird in der ecclesia patiens – der Jammerlappen- und Kopfnickerkirche – der Deutschen unterschlagen. Kein Zufall, dass die beiden Hauptkontrahenten des Kalten Kriegs: die orthodoxe Kirche der Russen und die sieggewohnten Sekten der amerikanischen Calvinisten die Weltpolitik einer imperialen ecclesia triumphans vollstrecken. Die Deutschen ducken sich in Demut, solange sie schwach sind. Kaum haben sie einen Sohn der Vorsehung als Führer importiert, überlassen sie das Kopfnicken den Schwachen und veranstalten ein Jüngstes Gericht über Gottesverräter und sonstige Überflüssige.

Man muss kraftlos und demütig erscheinen, damit Gott der Welt demonstrieren kann: Gott ist in den Schwachen mächtig. Die Letzten werden die Ersten sein.

Am Anfang ihrer Karriere war Merkel ein belächeltes unscheinbares Mauerblümchen, heute ist sie die mächtigste Frau der Welt. Ihre Demutshaltung ist kalt berechnende Machtappetenz. Warum ist Merkel so alternativlos in Deutschland? Weil sie christliche Politik in Perfektion vollstreckt.

Das politische Urdrehbuch der Christen ist Augustins Gottesstaat. Luther war Anhänger Augustins, Merkel ist Anhängerin Luthers. Aus dem Effeff kennt sie den Unterschied zwischen dem unsichtbaren, perfekten Gottesstaat und der verkommenen Räuberhorde, die man Staat zu nennen pflegt. Letzerer ist böse, doch man braucht ihn, um mit Polizisten Taschenräuber zu fangen und mit Soldaten Panzerwaffen nach Saudi-Arabien zu schicken. Solange der Messias ausbleibt, braucht man diese staatliche Räuberhorde.

Die Welt ist schlecht, auf Erden nicht verbesserbar. Merkel verwaltet das Schlechte, indem sie das Volk beruhigt, wie eine Stewardess die Passagiere beim Absturz eines Jets: Bewahren Sie ruhig Blut, meine Damen und Herren. Die Lage ist hoffnungslos, gehen wir in Würde unter.

Das wollen die Deutschen hören. Solange Muttern das Elend auf hohem Niveau verwaltet, können Katastrophen ignoriert werden. Lammfromm lassen wir uns von Merkels Hütehunden über die Klippen stürzen. Warum sind die Menschen so apathisch, obgleich die apokalyptischen Reiter immer näher kommen? Weil sie sich gegen himmlische Entscheidungen hilflos fühlen.

Merkels Politik ist eine eschatologische Planwirtschaft: Gottes Plan von den letzten Dinge führt sie peinlich genau aus. Gelegentliche caritative Farbtupfer sollen kein Utopia ansteuern, sondern Pluspunkte auf ihre Seligkeitsaktien sammeln. Während ihre Vorgänger noch Anflüge von Weltverbesserung zeigten, ist Merkels Politik aus einem Guss: das Schlechte muss bis zum trostlosen Ende aller Dinge abgewickelt werden, das Gute ist private Sättigungsbeilage für verzagte Seelchen.

„Wir sprechen von zwei Staaten, das sind zwei menschliche Genossenschaften, deren eine vorherbestimmt ist, ewig mit Gott zu herrschen, die andere, mit dem Teufel ein ewiges Strafgericht zu erleiden.“ (Augustinus, Der Gottesstaat, 15. Buch)

Merkels Ruhe ist Ergebenheit in das Unabänderliche des göttlichen Willens. Da gibt es keinen freventlichen Versuch, Gott ins Handwerk zu pfuschen und blasphemische Weltbeglückungstheorien zu entwickeln.

Die Deutschen wissen nicht, was christliche Politik ist. Sie kennen weder Augustin noch Luther. Doch sie spüren, dass die Kanzlerin identisch ist mit der Botschaft ihres väterlichen Kanzelredners. Die Amerikaner kennen ihre biblische Dogmatik auswendig, also warten sie täglich auf die Wiederkunft ihres Heiland und Erlösers. Über solche Ammenmärchen fühlten sich die Neudeutschen bis vor kurzem erhaben. Doch Merkel sorgt dafür, dass sich der religiöse Rückstand ihrer Untertanen schließt.

Der abendländische Westen und der orthodoxe Osten verdoppeln ihre feindlichen Anstrengungen, mit Spannungen und Kriegsgeschrei das erwartete Ende aller Dinge herbeizuzwingen. Maranatha, komm, Herr, ach komme bald. Wird sich der Herr als schlichter Tundra-Bauer verkleiden – oder als hochfahrendes Silicon Valley-Genie, das den Menschen die Unsterblichkeit verheißt?

Um dieser Frage willen lohnt es sich, einen kleinen Weltkrieg zu entbrennen, um den letzten Zweiflern klar zu machen, welches System der Herr bevorzugen wird. „Der christliche Übermensch ist nicht mehr allein der Charismatiker im weltlichen Sinn, sondern auch der große Arzt, der große Künstler, Gesetzgeber und Erfinder.“ (Ernst Benz) Nicht zu vergessen der große Führer und Schlächter überflüssiger Völker.

Es gibt keine Säkularisierung in der Neuzeit. Losgelöst von subjektiven Glaubensüberzeugungen brennen und ätzen sich christliche Verhaltensweisen immer mehr in die Strukturen der gegenwärtigen Weltpolitik ein.

Joachim di Fiores Endzeiterwartung gliederte sich in drei Zeitalter. „Im ersten Zeitalter herrschte Mühe und Arbeit, im zweiten Gelehrsamkeit und Zucht, im dritten Kontemplation und Lobpreisung.“ (Karl Löwith, Weltgeschehen und Heilsgeschichte)

Mit dem Fortlauf der abendländischen Geschichte konkretisierten sich die schwärmerischen Erwartungen zu handfesten Dominanz- und Vernichtungsvorstellungen. Das Dritte Reich der Nationalsozialisten hatte die Absicht, das eschatologische 1000-jährige Reich herzustellen, christusfeindliche Juden auszulöschen und einen ewigen Frieden unter der Herrschaft der von Gott geliebten Germanen einzurichten.

„Das dritte Testament der Joachiten erschien als „Dritte Internationale“ wieder und als „Drittes Reich“ verkündet von einem dux oder Führer, der als Erlöser bejubelt und von Millionen mit „Heil“ begrüßt wurde. Die Quelle dieser Versuche, die Geschichte durch Geschichte zu vollenden, ist die Erwartung der Franziskanischen Spiritualen, dass ein letzter Kampf das Heilsgeschehen zu seiner weltgeschichtlichen Erfüllung und Vollendung führen werde.“ (Löwith)

Silicon Valley ist die aktuelle Realisierung religiöser Übermenschvorstellungen als phantastische Visionen von Menschen und Maschinen, die den Tod überwunden haben. Wie der Herr Tod und Teufel am Kreuz überwand, wollen biblische Charismatiker die sterblichen Grenzen unseres Daseins überwinden.

„Intelligenz kann natürliche Grenzen überwinden und die Welt nach ihrem Bilde umgestalten. In der Hand des Menschen hat sie uns in die Lage versetzt, die Beschränkungen unseres biologischen Erbes zu überwinden und uns selbst in diesem Prozess zu verändern. Wir sind die einzige Spezies, die dies tut. Das Universum zu erwecken und über sein Schicksal zu entscheiden, das ist unsere Bestimmung.“ (Ray Kurzweil, Das Geheimnis des menschlichen Denkens)

Ein neues Drittes Reich ist dabei, die politische Weltgestaltung der Amerikaner eschatologisch zu prägen. Deutsche Imitanten haben das polit-biblische Gebräu der USA in die BRD importiert. Merkels Christianisierung dringt tief ins Herz ihrer Untertanen.

„Wie lebte es sich damit, die menschliche Sterblichkeit über lange Zeiträume aufschieben zu können? Und sollten wir den Tod ganz abschaffen, wenn wir es könnten? Ist Unsterblichkeit ein moralisch vertretbarer Wunsch?“ So steht es in einer Buchbesprechung der ZEIT.

Die Philosophin Marianne Kreuels hat eine Streitschrift geschrieben. Alle bekannten Argumente, die vor Unsterblichkeit warnen, hat sie abgeräumt. „Kreuels hält nicht nur eine Welt ohne Alterung für wünschenswert, sie erwartet auch fürs individuelle Lebensgefühl kaum Veränderungen, fiele der biologische Tod weg.“ (FAZ.NET)

Die Idee einer theologisch infizierten Weltgeschichte ist Dreh- und Angelpunkt aller Geschichtsentwürfe deutscher Dichter und Denker bis zu Nietzsches Übermensch und Hitlers Weltherrschaft der Besten.

Bei Goethe gab es noch gelegentlichen Spott über die Gottähnlichkeit seines Faust. „Welch erbärmlich Grauen fasst Übermenschen Dich! Wo ist der Seele Ruf? Wo ist die Brust, die eine Welt in sich erschuf und trug und hegte, die mit Freudesbeben erschwoll, sich uns, den Geistern, gleich zu heben?“

Der Spott verhallte im Bemühen der Deutschen, die Überlegenheit des Westens einzuholen. Schlegels Analyse der Reich-Gottes-Idee setzte sich durch. In der 68er-Studentenbewegung nahm der marxistische Gedanke vom finalen Reich der Freiheit den durchgeschnittenen Faden der politischen Heilsgeschichte wieder auf. Erst unter Merkel verwandelt sich die Vision von einem Paradies in die Vorstellung eines infernalischen Untergangs – über den man schweigen muss.

Doch je mehr die Ängste der Menschen anschwellen, je mehr drängen untergründige Höllen- und Untergangsbefürchtungen ins Bewusstsein. Wir nähern uns den dunkelsten Zeiten des Mittelalters, in denen die Menschheit – heimgesucht durch Pest, Hungersnöte, Epidemien und Kriege – permanent überzeugt war, das letzte Kapitel der Weltgeschichte zu erleben.

Friedrich Schlegels Analyse lautete: „Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung, und der Anfang der modernen Geschichte. Was in gar keiner Beziehung aufs Reich Gottes steht, ist in ihr nur Nebensache.“

Selbst die Frömmsten unter den Stillen im Lande hatten gigantesque Übermenschen-Erwartungen. Auch Nietzsche, dessen Gott tot war, machte diesen wieder lebendig, indem er den Menschen zum Gott oder Übermenschen erklärte.

Der Traum von der wachsenden Gottähnlichkeit des Menschen in der Heilsgeschichte wurde in verschiedenen europäischen Ländern verschieden konkretisiert. Mit charismatischen Phänomenen war der Italiener Joachim di Fiore noch am traditionellsten. Im frühen England verwandelte sich der Glaube in technisch-wissenschaftliche Größenphantasien. Francis Bacon nahm eschatologische Perspektiven in seiner politischen Utopie Neu-Atlantis vorweg.

„Neu-Atlantis ist Bacons halb dichterische Vision einer Rückkehr des Menschen in seine Machtstellung vor dem Sündenfall durch Erfindungen und Entdeckungen, die ihm die Anwendung seines Wissens gewährt. Diese Machtstellung über Gottes Natur erwirbt der Mensch durch deren Veränderung und Verwandlung in Operationen der Wissenschaft, die ihm das Mittel gibt, die Naturvorgänge nachzuahmen oder zu steigern. Da Wissen und Macht dasselbe ist, wird es zum Ziel der Naturwissenschaft, eine neue Natur zu erzeugen und zu potenzieren.“

In Deutschland waren eschatologische Visionen noch lange spirituell bestimmt. Der Pietist Gerhard Peersteegen hatte in der dunklen Zeit der Religionskriege gedichtet:

„Ich bin auch was Großes. Gott selbst mein Vater ist; ich bin des Sohnes Braut;

Sein Geist das Pfand und Band, wodurch ich ihm vertraut;

Gott hat mir mehr geschenkt, als allen Seraphinen;

Die Engel stätig mich begleiten und bedienen

Ich habe was ich will; die ganze Welt ist mein;

Die Hölle fürchtet mich; ich fürchte Gott allein;

Im Himmel wandel ich als eine Königinn;

Sag, armes Weltkind, ob ich nicht was Großes bin?“

Es konnte nicht ausbleiben, dass Messiasvorstellungen mit den Vorstellungen des Antichrist zusammenfielen. Selbst für Gläubige war es fast unmöglich, Christus von seinem teuflischen Gegner zu unterscheiden. Im Sturm und Drang verschmelzen Christ und Antichrist zur Idee des deutschen Genies. Bei Jean Paul entwickelt eine geniale Persönlichkeit die Ethik des „großen Menschen“, „die diesen in aller Form von der Befolgung der allgemeinen Moralgesetze entbindet. Das Genie schafft sich seine eigene Ethik, für die es keine Regeln gibt.

Die Antinomie der christlichen Ethik gebiert das deutsche Genie, eine Mischung aus Messias und Teufel, die in Hitler zur Einheit wurde.

Modern ist das Neue, das das Alte verwirft. Das Neue war die Botschaft des göttlichen Erlösers, der das Alte – alle Normen der heidnischen Welt – verurteilte:

„Denn siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde; man wird der früheren Dinge nicht mehr gedenken und niemand wird sich ihrer mehr erinnern.“ „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind verschwunden und das Meer ist nicht mehr.“

Das alles vertilgende Neue ist die Unheils-Botschaft des Neoliberalismus. Schaut nicht zurück, schaut nach vorn. Die Zukunft bringt das Heil durch Erarbeiten des Neuen.

Das Neue ist männlich-religiös, das Alte weiblich-natürlich. Die Moderne ist die Abschaffung des Weibes, der klugen Hüterin des Alten, der Kunst des erfüllten Lebens und Sterbens. Das Neue will das Sterben überwinden und irdisches Leben durch absurde Unsterblichkeitsphantasien wertlos machen.

Die Menschheit muss ihre Urfragen ausgraben und sich gemeinsame Lebensvisionen mühsam erstreiten. Scheut sie diese Anstrengung, werden ihre unvereinbaren Ideologien die Fundamente ihres Daseins zerstören.

Fortsetzung folgt.