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Moral

Hello, Freunde der Moral,

Menschen ohne Moral gibt es nicht. Jeder Mensch verhält sich, also hat er Moral. Moral ist die Kurzbeschreibung menschlichen Verhaltens. Der Eremit folgt der Moral des Einsiedlers, der Menschenschlächter der Moral des Herrschers über Tod und Leben. Mit Moral, die alles erlaubt und nichts ausschließt, beginnt die Menschheit.

Was wir heute Moral nennen, ist die Frucht des Nachdenkens, das die Menschheit vor allem im ersten Jahrtausend vor der Zeitenwende durchführte. Gibt es ein richtiges und falsches Verhalten, gibt es eine gute und böse Moral?

Jaspers spricht von der Achsenzeit rund um das sechste Jahrhundert, in welchem von China über den Nahen Osten bis Griechenland bemerkenswerte Männer auftraten, die suchend, grübelnd und denkend die rechte von der falschen Moral trennten. Ab jetzt war moralisch, wer sich der falschen Moral widersetzte und der richtigen folgte.

Die Trennung der Moral trennte auch die Menschheit. Der mächtige Teil derselben widersetzte sich der Trennung und folgte weiterhin der uralten Willkür- und Gewaltmoral. Die Nachdenklichen und Tiefsinnigen begannen die Menschheit zu ermahnen, nicht alles zu tun, was möglich war, sondern das Rechte, Wahre und dem Menschen Angemessene.

Monotheistische Kulturen betrachteten das Wahre als geoffenbarten Willen Gottes, dem man unbedingt gehorchen müsste, polytheistische oder naturfromme Kulturen als die Stimme menschlicher Vernunft oder der Natur, die man

erst suchen, um die man kämpfen und auf die man sich einigen müsse.

Wer der göttlichen Moral zu gehorchen hatte, der musste auf eigenes Urteil verzichten. Wie Jakob konnte er mit seinem Gott ringen oder wie Hiob Einsprüche gegen Ihn erheben, am Ende aber musste er kapitulieren.

Debatten kann es in Unfehlbarkeits- und Gehorsamskulturen nur als Deutungsdebatten geben. Was hat Gott gemeint, wenn er sagte: machet euch kein Bildnis noch Gleichnis, weder des, was im Himmel, noch des, was auf Erden, noch des, was in den Wassern unter der Erde ist? In Deutungsdebatten muss man erforschen, was der wahre Wille Gottes ist und was er mit seinen Geboten wirklich meinte.

Grundlage der „Auslegungskunst“ ist die Mehrdeutigkeit der Sprache. Offenbar gebietet Gott nicht über die Macht des Wortes wie deutsche Bundespräsidenten, sodass seine steinernen Tafeln viel Raum zur Deutung lassen.

Die schlimmsten Religionskriege sind Deutungskriege im Dienst desselben Gottes. Welche Deutung hat Recht? Wer sich mit Worten nicht einigen kann, muss zum Schwert greifen, um seine Wahrheit durchzusetzen. Da jede Deutung außerordentliche Konsequenzen für den Gläubigen nach sich zieht – ewige Seligkeit oder Verdammnis – muss unfehlbare Wahrheit gegen konkurrierende Meinungen mit aller Gewalt zum Sieg geführt werden.

Das Elend der Offenbarungsreligionen ist ihr Hasspotential gegen die Anhänger desselben Gottes, dessen Worte sie diametral anders auslegen. Die geringsten Differenzen zwischen Brüdern desselben Gottes haben die grässlichsten Folgen. (Freud spricht von Narzissmus der kleinen Differenz; bei christlichen und marxistischen Sekten deutlich zu erkennen.)

Der Brudermord zwischen Kain und Abel wurde zum paradigmatischen Urmord der Erlöserreligionen, die sich am ähnlichsten sind. Das ist eine rote Linie vom Alten Testament bis zum Matthäus-Evangelium: „Denn ich bin gekommen, einen Menschen mit seinem Vater zu entzweien, und eine Tochter mit ihrer Mutter und des Menschen Feinde werden die eignen Hausgenossen sein“.

Warum entzündet sich just an der heilen christlichen Familie der Widerstand gegen alles vermeintlich Gottlose und Dekadente? Weil das Prinzip der solistischen Seligkeit alle natürlichen Gefühlsbande zerstören muss. Nicht Familien und Dynastien werden en bloc gerettet, sondern die Einzelnen, die damit rechnen müssen, dass ihre Liebsten in die Hölle wandern. „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.“

Die Mär von der christlichen Familie ist ein Lügenmärchen abendländischer Christen. Die unerbittliche Konkurrenz um das Heil geht mitten durch die Gruppe der Menschen, die man am meisten liebt. Wenn es heute kaum noch intakte Familien gibt – außer den durch Reichtum zusammengeschmiedeten Dynastien der Tycoons –, dann liegt es an der familienfeindlichen Wühlarbeit von zwei Jahrtausenden lebendigen Christentums.

Warum musste Abraham seinen Sohn zur Schlachtbank führen, um seinen Glauben zu beweisen? Weil der Sohn sein Liebstes war. Der Sohn konnte nur gerettet werden, weil ein Tier stellvertretend für den Menschen dran glauben musste. Seitdem halten christliche Familien äußerlichen Frieden miteinander, weil sie ihre Mordbedürfnisse kollektiv an der Tierwelt austoben. Wie Christus stellvertretend für den Einzelnen, stirbt das Tier stellvertretend für die mühsam aufrecht zu erhaltende, brüchige Einheit der frommen Familie.

Familiäre Liebe ist eine natürliche oder – nach Logik des antinatürlichen Heils – eine sündige Liebe. Wahre Agape gibt es nur als Frucht rechter Motivation oder eines unfehlbaren Glaubens. Natürliche und geistliche Liebe schließen sich ebenso aus wie göttlicher Geist und Natur.

Sündige Natur wird im Neuen Testament „Sarx“ oder Fleisch genannt. Das hypertrophe Fleischfressen des Westens hat am wenigsten mit physiologischen Gründen zu tun, am meisten mit unterdrücktem Vertilgungshass auf das „Fleisch“. Je mehr Fleisch kannibalisch vernichtet wird, umso reiner darf sich die Christengemeinde fühlen. Auch Leib und Blut Christi sollen vertilgt werden zur Vergebung der Sünden.

Wie viele Myriaden an Tieren mussten im Lauf der Geschichte auf heiligen Altären geopfert werden, damit die Menschheit mit ihren Göttern Frieden schließen konnte? Die ökologische Bewegung ist zum Scheitern verurteilt, wenn sie die religiös motivierte Tier- und Naturfeindschaft weiterhin ignoriert.

Amerikanisches Beefsteakessen ist ein kaum verhüllter sakramentaler Akt. In seinem Buch „Imperium der Rinder“ hat Jeremy Rifkin uralte Zusammenhänge zwischen Christus und dem heiligen Rind zutage gefördert. Die Christen übernahmen den uralten Glauben an die von Sünden reinigende Wirkung des Blutes, „wobei im christlichen Zeremoniell das Blut Christi an die Stelle des Stierblutes trat. Die christliche Religion übernahm auch den heiligen Tag des Mithraskultes, den 25. Dezember, der als Tag der Sonnengeburt gefeiert wurde und erklärte ihn zum Geburtstag Jesu.“

Man muss wissen, dass die Gläubigen des Mithraskultes den Samen aus dem Hoden des Stieres essen mussten, um so „Unsterblichkeit für den Tag des Gerichts zu erlangen, an dem der Stier der Stiere zur Erde kommen und alle Menschen zum Leben erwecken würde“. Der Stier war das genuine Tiersymbol für Christus.

Der spanische Stierkampf zieht seine Faszination aus uralten unbewussten Zusammenhängen zwischen dem heiligen Stier und dem Erlöser. Schon das Alte Testament spricht vom „Stier des Jakob“. Der Gott, der die Kinder Israels aus Ägypten führt, „ist ihnen wie die Hörner dem Wildstier“. In späteren Dokumenten wird „Moses häufig als Inkarnation des hebräischen Stiergottes dargestellt.“

Der Kampf zwischen der ursprünglichen Alles-ist-erlaubt-Moral und der neuen Falsch-Richtig-Moral ist noch nicht ausgefochten. Die biblische Moral ist eine Mischmoral aus beiden. Der Dekalog bestimmt in lakonischen Geboten, was richtig und falsch ist. Im Neuen Testament gibt’s ausgedehnte „Tugendkataloge“, dennoch gelten diese neuen Gesetze nicht für alle.

Für Gott und seine Erleuchteten gelten sie nicht. Der Schöpfer der neuen Moral muss sich seinen eigenen Gesetzen nicht beugen, das widerspräche seiner Allmacht. ER steht über aller Moral. Ist ER also unmoralisch?

Nur aus Sicht unerleuchteter Menschen und törichter Heiden. Er kann gar nicht sündigen (non posse peccare), denn er ist heilig an sich. Das Heilige ist unfähig zum Sündigen. Alles, was es tut, entspringt einer unfehlbaren Motivation und kann nicht sündig werden: „Den Reinen ist alles rein, den Befleckten und Ungläubigen ist aber nichts rein, sondern befleckt ist sowohl ihr Sinn als ihr Gewissen.“

Gläubige mit rechter Motivation können keine Sünden begehen, auch wenn sie gegen den Dekalog oder die Bergpredigt verstoßen. Umgekehrt gilt ebenso: Ungläubige können niemals tugendhaft sein. Ihre Tugenden sind goldene Laster. Wer über rechten Glauben verfügt, für den gilt nach wie vor die uralte Alles-ist-erlaubt-Moral. Sie sind frei, zu tun und zu machen, was ihnen einfällt.

In dieser grenzenlosen Freiheit sind sie gottebenbildlich. Gottes Freiheit ist unbegrenzt, woraus die wiedergeborenen amerikanischen Christen den Schluss ziehen: auch für sie gilt die unendliche Freiheit ihres allmächtigen Creators, zu tun und zu lassen, was immer sie lustig sind. Vor allem im wirtschaftlichen Bereich.

Der amerikanische Freiheitsbegriff entstammt dem Glauben an einen omnipotenten Schöpfer, dem sie im Glauben wesensverwandt sind. Der europäische Freiheitsbegriff entstammt dem gesunden Menschenverstand der Griechen, die Freiheit nicht als Eigenschaft Einzelner, sondern als Freiheit der politischen Gemeinde definierten. Die Freiheit des Einen darf die Freiheit des andern nicht zerstören.

Freiheit ist ein Ausgleich der Souveränität aller Polismitglieder. Freiheit ist Grenze und Maß. Deine Freiheit endet, wo meine beginnt. Geh ich bei grün über die Ampel, hast du mit deinem Vehikel stehen zu bleiben und wäre es das Papamobil.

Neoliberale Freiheit wähnt sich gottgleich und akzeptiert weder Grenze noch Maß. Die Moral des Kapitalismus ist auf den ersten Blick eine Richtig-Falsch-Moral – Eigentum ist heilig, Stehlen verboten –, genau genommen aber eine uralte Alles-ist-erlaubt-Moral für die Gläubigen, und nur für die Gläubigen. Der Rest der Welt hat sich den Zehn Geboten zu unterwerfen.

Somit kommen wir zum Fazit: die biblische Moral – das gilt für alle drei biblischen Religionen – ist eine Doppel- oder Zweiklassenmoral. Was für die Erwählten gilt, gilt noch lange nicht für die Verworfenen.

Die Lehre von der doppelten Moral ist eine konsequente Folgerung aus der Lehre von der doppelten Wahrheit, die im Hochmittelalter aufkam, als griechische Vernunft über die arabische Philosophie Einzug ins düstere Europa hielt. Die Scholastiker mussten mit Erschrecken die Unverträglichkeit ihres geliebten Aristoteles mit ihrem christlichen Glauben feststellen. Was also tun?

Da kamen sie auf die spitzfindige Idee, zwei konträre Wahrheiten zuzulassen. Die eine – vernünftige – durfte nur innerhalb der Universität in akademischen Debatten verteidigt werden. Für die einfach gestrickten Gemeindemitglieder aber blieb alles, wie es war: wenn Vernunft dem Wort Gottes widerspricht, muss die Weisheit der Welt Torheit vor Gott sein.

Bei zwei Wahrheiten muss es auch zwei Moralen geben. Im „Voluntarismusstreit“ konnte Gott sich weder den Gesetzen der Natur noch denen seiner Moral unterwerfen. In der Natur konnte er nach Belieben die Gesetze unterbrechen und Wunder tun, in der Moral nach Belieben den Wortlaut seines Dekalogs über den Haufen werfen.

Entscheidend war nicht das Gesetz, sondern der grenzenlose Wille Gottes (voluntas), mit dem er nach Belieben über die Schöpfung herrschen konnte. Du sollst nicht töten? Gilt nur für den Menschen – sofern er nicht im Glauben handelt. Für Gott gilt er nie. Für christliche Soldaten ist – nach Kardinal Meisner – das normale Tötungsverbot aufgehoben: „In betenden Händen ist die Waffe vor Missbrauch sicher“, so der Kardinal in einer Soldatenpredigt aus dem Jahr 1996. (Pascal Beucker in der TAZ)

Das Prinzip der Doppelmoral war den Römern nicht unbekannt. Von Terenz gibt es das bekannte Motto: was Jupiter erlaubt ist, ist es dem Hornochsen noch lange nicht.

Die religiös begründete Doppelmoral gehörte zum täglichen Brot des „kleinen Mannes“ in der europäischen Geschichte. Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Die Kassiererin wird wegen drei Euro verknackt, die riesenhaften Verbrechen der Banken und Börsen bleiben folgenlos. Die moderne Klassengesellschaft ist nur äußerlich eine mammonistische, au fond ist sie eine religiöse Gesellschaft zweier Moralen, in der mit zweierlei Maß gemessen wird.

Wenn strikte Moral eine Ausschließungsmoral ist, so besitzt der christliche Westen keine Moral. Trotz vieler Gebote und tugendhaften Überschwangs ist der Bibel keine unzweideutige Moral zu entnehmen. Wenn den Guten im Zweifelsfall alles erlaubt ist, den Bösen alles als Sünde angerechnet wird, dann hat die Moral verloren. Es kommt nicht auf reale Taten an, sondern auf Deklamationen des reinen Gewissens.

Goethe hat sich von dieser Zweiklassenmoral anstecken lassen: Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.

Das Böse hat er den Handelnden zugewiesen, das Gute den kontemplativen Einsiedlern. Nur wer nichts tut, kann dem Bösen entgehen. Da der Mensch tätig sein muss, ist er zur Gewissenlosigkeit und zum Bösen verurteilt.

Wer sagte, die Deutschen seien ein moralisches Volk? Sie waren gebildet, Bildung ist mit Moral nicht identisch. Nicht nur die deutschen Gebildeten, alle europäischen Eliten hatten noch nie Probleme, ihre Teufeleien als Willen Gottes zu rechtfertigen. Der Holocaust war kein Bruch der Zivilisation, sondern eine strikte Folgerung aus der Doppelmoral der Kirchen und Mächtigen.

Von Antinomismus (= gegen das Gesetz) sprechen einige Theologen. Luther verfasste sogar eine kleine Schrift „Wider die Antinomer“, allein, er selbst redete oft genug mit zweierlei Menschen- und Engelzungen. (Einem hessischen Fürsten erlaubte er „aus seelsorgerlichen Gründen“ eine zweite Ehefrau, die Bigamie aber musste verheimlicht werden.)

Auch im griechischen Kulturbereich kämpfte eine neue, philosophisch durchdachte Moral gegen die uralte Alles-ist-erlaubt-Moral. Beide Moralen werden als Naturrecht bezeichnet. Die uralte ist das Naturrecht der Starken, die neue und durchdachte das Naturrecht der Schwachen.

(Deutsche Feuilletonisten haben den Unterschied bis heute nicht kapiert. Das griechische Naturrecht prangern sie an, wenn sie lieblosen Darwin‘schen Egoismus den alten Heiden in die Schuhe schieben wollen.)

Beim Naturrecht der Starken sollte – so formulierte ein Sophist – „das Stärkere von dem Schwächeren nicht gehindert werden, sondern das Schwächere sollte von dem Stärkeren beherrscht und geführt werden, dass das Stärkere vorangehe und das Schwächere folge“.

Nietzsches Wille zur Macht meinte genau dies. Der Pastorensohn vertrat ein lupenreines Naturrecht der Starken, das die Nationalsozialisten mit Freuden übernahmen und in die Tat umsetzten.

Das Naturrecht der Starken war eine Kampfansage der entmachteten adligen Elite gegen das Mehrheitsprinzip der athenischen Polis:

„Nach der Natur ist immer das Schimpfliche auch das Schlechtere, also Unrechtleiden. Nach jetzigem Gesetz dagegen Unrechttun. Unrechtleiden ist kein Verhalten, das eines Mannes würdig wäre, sondern vielmehr eines Sklaven, für den Tod besser wäre als das Leben, der, wenn man ihm Unrecht tut und ihn misshandelt, sich selbst nicht helfen kann und ebenso wenig einem anderen, für den er besorgt ist.“

Die Schwachen hingegen wollen als Mehrheit die Starken sein und die wirklichen Starken an die Kette legen.

Dies ist die Frontlinie des heutigen Kampfes der neoliberalen Starken, die dem Staat – der demokratischen Mehrheit – verbieten wollen, seine Stärke auszuspielen. Die Schwachen verstecken sich in der Masse, weil sie als Einzelne keine Chance gegen die Starken haben.

Das Naturrecht der Schwachen hingegen ist gleiches Recht für alle. Freiheit ist kein Privileg der Starken, sondern gilt für alle Bürger. „Gott hat alle Menschen freigelassen; die Natur hat niemanden zum Sklaven gemacht“, schrieb ein Vertreter der Gleichheit. Auf diesem Boden wuchsen die ersten Emanzipationsbewegungen der Frauen und der kosmopolitischen Gleichberechtigung aller Menschen, woher unsere Menschenrechte stammen.

Die Ablehnung aller Elitenherrschaft, des Rechts der Macht und Gewalt mündete in der sokratischen Devise, dass Unrecht leiden besser sei als Unrecht tun.

Die christliche Moral der Moderne hat es noch nicht zu einer eindeutigen humanen Moral gebracht. Auf zwei verschiedenen Moralen zieht sie nach Belieben die Register, die ihren wechselnden Interessen entspricht. Die biblische Moral unterwarf sich dem unbeweglichen Diktat eines Gottes, der ihr das Korsett einer gläubigen Gesinnung verpasste, die auf Taten keinen Wert mehr legte.

Der Westen ist schon so lange in doppelter Moral befangen, dass er nicht nachvollziehen kann, warum die Welt ihn als doppelzüngig empfindet. Für ihn ist es selbstverständlich, dass er sich Privilegien herausnimmt, die er anderen mit List und Gewalt vorenthält.

Doch wie ist es mit der Umwertung aller Werte durch den leidenden und schwachen Christus? In der Tat scheint es, als ob das griechische Naturrecht der Starken auf Golgatha ins Gegenteil verkehrt worden wäre.

Doch der Schein trügt. Armut, Schmerzen und Unrechtleiden waren nur instrumentelle Methoden, um das finale Gegenteil zu erreichen: Reichtum, Allmacht und Seligkeit im Himmel.

Nietzsche hatte die instrumentelle Umwertung der Werte nicht erkannt. Der leidende Christus am Kreuz war nur dem Schein nach ein Schwacher. In Wirklichkeit besiegte er Tod und Teufel und stieg zum Allherrscher des Universums auf: in diesem Zeichen wirst du siegen.

Das Naturrecht der Schwachen – die demokratische Gleichheit aller Menschen – wird heute immer mehr den Griechen abgesprochen und in eine Erfindung der ecclesia triumphans verfälscht.

Sokrates gilt als einer, der wusste, dass er nichts wusste. Doch eines wusste er genau. „dass das Unrechttun und der Ungehorsam gegenüber dem Besseren, sei es ein Gott oder ein Mensch, ein Übel und böse ist – das weiß ich.“