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Amoralismus

Hello, Freunde des Grundgesetzes,

am 23. Mai ist Geburtstag. Und fast alle Deutsche werden sagen können, sie seien nicht dabei gewesen. Nur die üblich Verdächtigen – ab Bundespräsident nach oben – werden die üblichen Väter- und Mütter-Reden des Grundgesetzes halten. Mit staatserhaltendem Timbre in der Stimme, abgeschirmt von grimmigen Polizeihorden.

Wenn‘s um das Volk geht, muss das Volk draußen bleiben. Vielleicht eine Massenabfertigung im Park von Bellevue – der Pastor zeigt sich einige Minuten huldvoll seiner Gemeinde – mit Grill, Bier und Udo Lindenberg. Dann dürfen sie sich wieder trollen, die, von denen alle Staatsgewalt ausgeht – und niemals mehr zurückkehrt.

Deutschland ist ein religiös verseuchtes Land und hat keine politischen Feste. Und die, die es hat, werden vom Volk nicht gefeiert. Solange der Kalender mit dem lieben Jesulein imprägniert ist – der die jetzige Natur mit dem kleinen Finger abstreifen wird –, solange werden wir nicht in der Demokratie ankommen. Demokratie ist das vitale Leben gleichberechtigter Menschen auf dieser Erde und nicht im Himmel.

Der Geburtstag des Grundgesetzes ist kein nationales Fest. Niemand tanzt um den Freiheitsbaum, niemand deklamiert den Text im Hiphop-Rhythmus auf den Bühnen des seltsamen Landes, das eine Demokratie sein will, bis heute aber alles unternimmt, um

das Wort Demokratie im täglichen Leben als Ekelwort zu meiden.

Hallo, Sie da: was halten Sie vom Ersten Artikel des Grundgesetzes? Stichwort: Würde!

Würde, würde – ist das nicht Konjunktiv? Ist Konjunktiv nicht Möglichkeitsform? Im Gegensatz zum Indikativ, der Wirklichkeitsform? Ah, ich weiß, was Sie meinen: wir haben noch keine wirkliche Demokratie, aber unter bestimmten Bedingungen wäre sie vielleicht möglich?

Der Kandidat hat 99 Punkte. Würde die deutsche Demokratie sich eines fernen Tages entschließen, zu einer wirklichen Demokratie zu werden, würde die Würde des Menschen unantastbar sein. Alles klar auf der Andrea Doria?

Unter welchen Bedingungen?

Unter der Bedingung, dass Demokratie nicht als Staatsform, sondern als Lebensform angesehen wird. Staat ist immer die Machtform der aristoi, jener Wenigen, die sich für die Besten halten. Mögen sie hundertmal die Besten sein: in einer Demokratie bestimmen alle und nicht nur die Besten.

Die Besten mögen für sich die Besten sein, deshalb sind sie noch lange nicht die Besten für eine demokratische Regierung. Der Beste ist vielleicht der Egoistischste, der seine eigenen Interessen am besten vertritt. Oder der Beste im Rechnen – seit Schirrmachers Prophetenkünsten ist altmodisches Rechnen zum Algorithmus geworden, den man skandieren muss wie Halleluja –, doch wer ist der Beste fürs Ganze?

Der Beste muss der Beste fürs Ganze sein. Hört man nicht immer öfter, die Gewählten sollten besser bezahlt werden, damit die Besten ins Parlament gehen und nicht zu BMW abwandern? Die besten Profitmacher sollen die Besten in Demokratie sein?

Ist Demokratie schon zum nationalen Profitakkumulationsverband verkommen? Die Besten sind die besten Naturzerstörer, die besten Moralverächter, die besten Profitgeier, die besten Erfinder menschenverachtender Maschinen?

Dann wird’s langsam Zeit, dass Stefan Raab, Günter Jauch und Maischberger die Plätze im Kanzleramt übernehmen. Gibt es Bessere, Klügere, Beliebtere, Durchsetzungsfähigere als sie, die die kollektive Bühne vor der Couch und das Herz der Nation erobert haben?

Was ist Demokratie? Jetzt weghören, es kommt eine schreckliche Antwort: Demokratie ist die Fähigkeit, moralisch zu sein.

Was war noch mal Moral? Deutsche, wieder weghören: Moral ist, was Deutsche verabscheuen, weil sie es nicht wollen dürfen. Moral halten sie für den Inbegriff der 10 Gebote und der Bergpredigt. Bis heute verstehen sie nicht, dass alles, was ein Gott sagt, mit Moral so viel zu hat wie Maria Furtwängler mit der Kunst des Schauspielens.

Gottes Worte sind höllische Androhungen und himmlische Korruptionsverlockungen, aber keine Moral. „Denn sie werden das Erdreich gewinnen“, das ist der faule Kern ihrer Lohnmoral. Moral ist das genaue Gegenteil zu allen Geboten eines Allmächtigen.

Die Deutschen glauben, ihre Demokratie nicht wahren zu können – ohne Glauben. Moral ist für sie identisch mit Religion, mit Beugen des Kopfes vor Führern im Himmel und auf Erden.

Die folgenden expressiven Äußerungen entstammen derselben Quelle: a) mein Gott und b) mein Führer. Gott ist Führer der Erwählten zur Seligkeit und Führer der Verdammten ins Gegenteil. Der Führer führte seine Erwählten ins 1000-jährige Reich, die Verdammten ins Gegenteil. Am Ende landeten alle mehr oder minder im Gegenteil.

Bei Gott wird’s kein Deut anders sein. Wenn die Frommen tot sind und weit und breit keinen Himmel entdecken, werden sie dumm aus der Wäsche gucken. Hiermit habe ich sie gewarnt, an ihrer Narretei will ich unschuldig sein.

Noch immer haben die Deutschen nicht erkannt, dass sie einen allmächtigen Führer anbeteten, weil sie seit Jahrhunderten einen allmächtigen Gott anbeten.

Den Deutschen ist es zu hoch, ihre eigene Moral zu entwickeln. Was von ihnen stammt, denken sie, kann nur minderwertig sein. Made in germany muss made by god sein. Alles andere ist Mumpitz. Wo sie sich nicht unterwerfen dürfen, das muss miserabel sein. Gott küssen sie die Füße, die Menschen massakrieren sie. Das kann man Religion nennen.

Demokratie ist für Deutsche nicht nur ein Staat, sondern eine bloße Methode, ein mechanisches Knöpfedrücken zwecks Raffens von verrottbarem und unverrottbarem Diridari. Das ist pfälzisch-bairisch und heißt – Kies, Knete oder Moos.

In Bayern Alpha wurde Vittorio Hösle gefragt, warum Aufklärer Habermas die Böckenförde-Doktrin unterstütze. Hösle, verschämt unter sich schauend, meinte, vermutlich habe Habermas als Soziologe gesprochen. Ei gewiss doch, Herr Hösle, bekanntlich funktionierten die Demokratien am besten, als die Kirchen sie mit Feuer und Schwert bekämpften.

Seit dem Kampf der katholisierenden Romantiker gegen die Aufklärer stehen die Deutschen mit der Moral auf dem Kriegsfuß. Schleiermacher, theologisches Sprachrohr der jenseitsvernarrten Jüngelchen, wendet sich entschieden gegen den penetranten Moralismus von Kant & Co. Es sei an der Zeit, „die Sache einmal beim andern Ende anzugreifen und mit dem schneidenden Gegensatz anzuheben, in welchem die Religion sich gegen Moral und Metaphysik befindet“.

Seitdem hat sich nichts geändert im amoralischen Bereich der europäischen Mitte. Man lese einmal Rezensionen: nichts schlimmer, als wenn der Autor mit dem „moralischen Zeigefinger“ kommt. Lieber ist den Bürgerlichen der amoralische Stinkefinger, der ihnen das Rüchlein des Übermenschen jenseits von Gut und Böse verleiht. Seit dem faustischen Pakt mit dem Teufel muss es schon ein wenig nach Schwefel stinken, sonst wird’s spießig in deutschen Kammerdiener-Kammern.

Wenn sie das Wort Moral nicht zu sehr abnutzen wollen, reden sie von polititical correctness. Eine Definition dieses Ungetüms hat‘s noch nie gegeben. Vermutlich meinen sie was Ähnliches, wie wenn die SPD ihren sonnenbankgebräunten Schröder den außergewöhnlichsten Politiker nennt, den die Proleten-Verräter-Partei je in ihren Reihen hatte. Sie meinen: Despotenfreunderl und sagen das Gegenteil.

Oh je, große Männer – und neuerdings auch Frauen – zwängt man nicht ins kleinmoralische Korsett. Das ist unanständig und wird den Deutschen nicht gerecht. Denn sie klagen sich seit Napoleon an, wegen kleinbürgerlichen Moralisierens aus der ersten europäischen Machtliga abgestiegen zu sein. Seitdem sind sie durch die Bank gewiefte Stammtisch-Machiavellisten.

Selbst in linken Gazetten wird der Kampf gegen den Kapitalismus mit amoralischen Methoden gefordert. Zu vermuten ist, dass die Turnschuhschreiber der TAZ sich „wahnsinnig“ witzig vorkommen, wenn sie sich jeden Tag neu erfinden und ihren ätzend-gleichen Kampf mit paradoxer Intervention auffrischen, die sie als rotzfreche Satire verstehen.

Komisch, dass niemand lacht, wenn ein ganz Verwegener – der auf den passenden Namen Lotter hört – Amoral mit Moral identifiziert. Hier weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, dass Logik vergeht, dass Folgerichtigkeit stirbt.

Dabei gibt’s den amoralischen Antikapitalismus schon längst. Er hört auf den aufwendigen Namen Marxismus-Leninismus-Stalinismus. Die drei aparten Herren hielten von Demokratie nichts, von Moral noch weniger.

Das steckt den alten Revoluzzern der 68er noch immer in den Knochen, die beim Gang durch die Institutionen in muffigen Redaktionsräumen hängen blieben, mit dem Kapitalismus ihren Frieden schlossen, um im Feuilleton stattdessen die Moral als Klassenfeind zu vernichten. Und wenn‘s nicht die Moral ist, muss es wenigstens der moralische Protagonist sein, der am Ende der Romane zu scheitern hat.

Gescheitert muss auf jeden Fall sein in der gescheiterten Verbrechernation. Das hat eine pessimistisch-nihilistisch-tragisch-apokalyptische Tradition. Ist die Tradition gottlos ist, sprechen wir vom Untergang des Abendlandes, ist sie gottvoll, vom Abstreifen der alten Welt zugunsten einer neuen aus dem Wunder des Nihil.

Neuerdings wird in Talkshows die intelligente Frage gestellt, warum die Deutschen äquidistant zu West und Ost sein wollen. War Deutschland nicht von jeher mit Leidenschaft das Volk der Mitte? Hans Sedlmayers Buch „Verlust der Mitte“ beschrieb den Untergang Deutschlands, weil das Land die fromme Mitte verlor.

Zum Westen gehörten die Germanen nie, dort herrschte die Moral der Vernunft – zumindest auf dem Papier. Jetzt höret einen wahrhaft erleuchteten Satz: „Die Mittelstellung des deutschen Nihilismus erweist sich darin, dass er weder eindeutig der Ermüdung noch eindeutig der Fülle entstammt“. Schrieb Armin Mohler in „Die Konservative Revolution in Deutschland“. Zur Erläuterung: „Die deutsche Form des Nihilismus steht zwischen der französischen und der russischen mitten drin.“

Es darf gerätselt werden, ob Fülle französisch und Ermüdung russisch ist – oder umgekehrt? Umgekehrt natürlich. Der Westen ist flachbrüstig und pfeift auf dem letzten Loch. Der Osten hat eine unerschöpfliche Tiefe.

Das Doppelgesicht der Deutschen entspricht ihrer Mittelstellung. Wenn Steinmeier eher westlich-flach aussieht, schaut Gabriel eher wie Gromyko düster ins Weltgeschehen. Während Mutter Merkel beide Gesichter perfekt beherrscht. Welches Gesicht sie zeigt, hängt davon ab, mit wem sie konferiert.

Mohler weiß noch mehr: „Im Zusammenhang mit der Konservativen Revolution“ geht es hauptsächlich um jenen bewusst zugreifenden, von sittlichem Verantwortungsgefühl erfüllten und den Durchgang durch die Zerstörung gläubig bejahenden Typus des Nihilisten, den wir vergröbernd den „deutschen“ nennen.“

Moment, zu früh gefreut, wer bei sittlich an moralisch gedacht hat. Das Gegenteil ist der Fall. Man müsste an Faust denken, der amoralisch über Leichen geht, seinen ganzen Lebenswandel aber als sittlich bezeichnet.

Hier kann nur Hegel weiterhelfen, bei dem Freiheit auch das Gegenteil von dem bedeutet, was Krethi und Plethi drunter verstehen. „Ein sittlich tugendhafter Mensch ist darum nicht auch schon moralisch“. Sittlichkeit beginnt nämlich erst dann, wenn das Moralische überschritten und verlassen wird. Sittliches Tun ist identisch mit dem Willen des Objektiven Geistes – der auf Kammerdienermoral keine Rücksicht nehmen kann.

Sittlich ist, Großes zu wollen und die entsprechenden Mittel dafür einzusetzen – die nicht spießig-moralisch sein können. Friedliche Leute wie Philemon und Baucis, die im Wege stehen, müssen da schon mal mit Feuerchen aus dem Wege geräumt werden.

Mohler unzweideutig: „Es wäre nun falsch, in dieser „Konservativen Revolution“ etwas wie Reform zu sehen. Reform ist immer etwas Unblutiges, während es den Konservativen nicht erstaunt, dass Geburt mit Vernichtung bezahlt werden muss.“

Wer das Neue, Gesunde, Messianische will, muss das Alte, Kranke und Satanische töten und begraben. Darin hätte Hegel sich wiedergefunden. Moral ist kleinlich und schreckt vor dem Nötigen zurück. Das Nötige ist immer der Tod. Nur der Tod kann zur Wiederauferstehung führen.

Die Deutschen verfälschten sogar ihre Begriffe, um sich nicht als sittenlos betrachten zu müssen, wenn sie ihren Willen mit List und Gewalt realisieren wollten. Seit Hegel sind deutsche Begriffe das Gegenteil ihrer normalen Bedeutung, weshalb die Frankfurter Schule den Lehrer Hegel und seinen Schüler Karl Marx als Apostel der Freiheit pries. Doch Freiheit war Einsicht in die – von der Obrigkeit verfügte – Notwendigkeit. Also Maul halten und einsehen, dass Putin immer Recht hat. Und hat er mal nicht Recht, gilt § Eins: Putin hat immer Recht.

Warum hat die CDU keine Probleme mit dem deutschen Amoralismus? Warum kann Merkel sich jede antimoralische Dreistigkeit erlauben und bleibt dennoch Liebling der Massen? Weil Christen Christen sind.

Christen sind kein Moralisten, sondern Antinomer, können also tun, was sie wollen, es kömmt nur drauf an, das sie ihr Tun als frommes Tun, als Gehorsam vor dem Himmel, ausgeben können. Und das können sie mit links.

Dies ist auch der Grund, warum die SPD werkelt, tatsächlich aber nur für die Kanzlerin merkelt. Was immer sie Sinnvolles zu tun scheinen, stets ist es Merkel, die den Lohn der guten Tat erhält. Wird die GroKO scheitern, wird die räudige SPD schuld dran sein. Merkel zieht siegreich in die nächste Wahl – und lässt Gabriel tot auf der Walstatt zurück.

Nach dem Massenmord an den führenden CDU-Männern ist demnächst die SPD-Brigade an der Reihe. Nur Schäuble, vom Schicksal gezeichneter Vater, der Merkel nicht gefährlich werden kann, darf mit der Amazone des Herrn in die nächste Runde.

Seit Faust, der kein klassischer, sondern ein romantischer Held ist, gehen die Deutschen auf Gegenkurs zur Moral. Moralisch waren sie lange genug in ihrer lutherischen Vergangenheit und brachten es zu nichts. Nun die große Revolution: also her mit der Unmoral, die zu höherer Sittlichkeit getunt wird, damit die moralisch-bornierten Massen nicht aufbegehren.

Das gelang bis zum Dritten Reich und gelingt noch – unglaublich, aber wahr – bis zum heutigen Tag. Moralisch sind sie nur im belanglosen Privatbereich, wenn‘s an die große Politik geht, sind sie alle bekennende Machiavellisten und Sozialdarwinisten.

Fausts Kompagnon Mephisto war ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft. Denkste.

Was sagt Faust? Faust ist Teil der umgekehrten Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft. Oder sagen wir, fast immer das Böse schafft. Wenn das Böse nicht ausgeschlossen wird, zwingt es das Gute, in seinen teuflischen Dienst zu treten.

Die Deutschen wollen das Gute – und schaffen unter dem Vorzeichen des Guten das Böse. Das absolute Böse ist jenes, das im Schutz des Guten das Satanische vollbringt. Böser als das Böse, das als Gutes daherkommt, geht nicht.

Im Wollen des Guten und Vollbringen des Bösen sind die Deutschen Weltmeister. Das ist übrigens der Grund, warum hierzulande die Gutmenschen gern angegiftet werden. Doch Gutes tun ist nicht identisch mit jenem Guten, das sich dem Bösen – arglos, naiv, töricht, störrisch, pervers, verstockt, ressentimenthaft, idealistisch, nehmt alles in allem: in deutscher Gottergebenheit – zur Verfügung stellt.

Heribert Prantl hat einen bemerkenswerten Kommentar zum Geburtstag des Grundgesetzes geschrieben:

Das Grundgesetz sieht er durch die NSA-Affäre massiv gefährdet und vergleicht unsere Verfassung mit einem amerikanischen Donut: außen Krapfen, innen das hohle Nichts – oder die amerikanische Spähmaschine, die all unsere Grundrechte bis auf den Boden herausgeschossen hat. Das Jubiläum des Grundgesetzes werde nur sinnvoll sein, wenn es dem neuen Untersuchungsausschuss, dem wichtigsten seit der Gründung der BRD, gelingen wird, die Machenschaften der transatlantischen Grundgesetz-Feinde aufzudecken und wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Werde das nicht gelingen, wird „der Verfassungspatriotismus, der schönste Patriotismus der deutschen Geschichte, schon bald Geschichte sein.“

Wo Prantl Recht hat, hat er Recht.