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Alles hat keine Zeit LXXXVIII

Tagesmail vom 08.03.2021

Alles hat keine Zeit LXXXVIII,

Heißa, die ersten Anzeichen der Entzauberung! Unter der strengen Regie eines stachligen Fastnichts zeigen sich Ansätze nationaler Selbstkritik. Nach Untertanenart zuerst als Kritik an der Regierung. So fängt es an, so darf es nicht bleiben.

In einer Demokratie sind Demokraten für ihre Regierung verantwortlich. Sonst nichts und niemand. Besonders, wenn die immergleichen Machteliten jahrzehntelang das Sagen hatten – und die Untertanen durch überquellende Regale sich das Denken abkaufen ließen.

Hierzulande machen‘s die Vergleiche. Nicht das Erkenne dich selbst ist gefragt, sondern der Blick von außen. Schneiden die Einheimischen gut ab in Rankings, geht’s ihnen gut. Erst wenn sie vergleichsweise schlecht abschneiden, darf es ihnen schlecht gehen. Selbsterkenntnis wird ersetzt durch den fremden Blick, den säkularisierten Blick Gottes.

„Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.“ (Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 1919)

Typisch für Weber, dass er die offizielle Religion verdrängt: Entzauberung ist Überwindung der Magie „geheimnisvoller, unberechenbarer Mächte“, nicht Überwindung eines „geoffenbarten Gottes“, der angebetet werden will. Mythische Mächte lassen sich magisch beherrschen, einem transzendenten Gott muss man sich bedingungslos unterwerfen.

Typisch für den nüchternen Soziologen, dass er nur technische Mittel und Berechnung als alternative Herrschaftsmethoden zulässt. Dass Technik und Berechnung an sich noch keine Mittel sind, um Naturmächte unter Kontrolle zu kriegen, war technik- und wissenschaftstrunkenen Deutschen nicht zu vermitteln.

Technik wozu? Rechnen wozu? Die Entscheidungsmöglichkeit des Menschen wurde ausgeblendet, ausgerechnet von dem großen Soziologen, der für Verantwortungsethik eintrat. Die folgenlose Gesinnung, die er verwarf, war die Gesinnung des Frommen, der alles dem Wirken Gottes überlassen und seine Gesinnung als eitle Anmaßung verwerfen musste.

„Daraus wollen wir die Lehre ziehen … und der „Forderung des Tages“ gerecht werden – menschlich sowohl wie beruflich. Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.“

Damit ist der Entzauberer wieder zu jenen Dämonen zurückgekehrt, die er überwinden wollte. Zudem bleibt er im Bann neutestamentlicher Magie, die dem größten aller Dämonen unterworfen ist, dem allmächtigen Gott:

„Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.“

Nicht im Voraus denken und planen, wie es eine verantwortliche Politik fordert, sondern sich von Tag zu Tag durchwursteln: der Herr wird es schon richten. Womit wir bei der irrationalen Politik der deutschen Gegenwart angekommen wären, die kein Planen und Gestalten kennt. Die Schlampereien in allen Dingen sind opiate Früchte des Glaubens. Sollten die Deutschen ernsthaft beginnen, sich von ihrer symbiotischen Mutterdroge zu verabschieden, wird es ihnen ohne religiöse Entzauberung nicht gelingen.

Was sie in ihrem Wirtschaftswunder erlebten, war ein unverdientes Wunder nach höllischen Verbrechen. Mussten sie nicht annehmen, ihr himmlischer Herr habe sie wieder in Gnaden angenommen und ihre Vergangenheit schnell getilgt? War das nicht doch ein Zeichen ihrer Besonderheit – um nicht gleich von Auserwähltheit zu sprechen?

Das Wohlgefühl der letzten Dezennien beruhte auf dem Gefühl väterlicher Akzeptanz, auch wenn der Vater durch eine Mutter ersetzt wurde:

„Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: Sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.“

Dieses kurzsichtige in den Tag hineinleben war das Gegenteil rationaler Planung und voraus denkender Strategie einer selbstbewussten Vernunft:

„Ethik ruht auf den Pfeilern der Autonomie und Autarkie, hier handelt es sich um keine göttlichen Gebote, die befolgt werden müssen. Wer sie durchführt, der ist der wirklich starke, freie und tapfere Mensch, der nichts, auch den Tod nicht fürchtet und unabhängig von allen Menschen und Dingen, sich selbst genügend, fest und sicher im Sturm des Lebens steht. Diese Ethik hat Sokrates weniger gelehrt als gelebt. Diese Übereinstimmung von Denken und Handeln, diese schlichte Rechtschaffenheit ohne alles Pathos, diese Bedürfnislosigkeit ohne die Eitelkeit des Asketen, diese ruhige Sicherheit und Festigkeit in allen Lebenslagen, die dem Toben der Menge ebenso standhielt wie der drohenden Zumutung eines Gewaltherrschers und nicht zuletzt die heitere Gelassenheit im Tode: das war es, was der Mit- und Nachwelt einen unauslöschlichen Eindruck hinterließ.“ (Nestle)

Doch nie bei den Deutschen.

Die Deutschen leben nicht, sie werden gelebt. Das gilt für die gesamte Moderne. Das Leben ist zerstäubt in futurisches Nirgendwo, präsentische Flucht und Löschung der Vergangenheit. Wer es nirgendwo aushält, jedes glückliche Hier und Jetzt flieht wie die Pest, Zukunft als schillernde Seifenblase fürchtet, die jeden Augenblick platzen könnte, der wird von den Furien seiner Ängste geplagt, die er durch Macht, wirtschaftliche Erfolge und Fortschrittseuphorie dämpfen muss.

Das ging einigermaßen gut, solange die Titanic in voller Fahrt in die Welt rauschte. Seitdem sie aber zu kentern und sinken droht, haben sich die gefesselten Dämonen losgerissen und beginnen ihr Lärmen und Hassen.

Inzwischen beginnt die Kritik an der deutschen Regierung. Was die Medien in der Coronakrise an Mängel der Mächtigen aufdecken, sind aber keine neuen Phänomene. Das sind Strukturen protestantischer Politik seit Jahrhunderten. Woher also die plötzliche Kritik an Merkel & Co?

Simple Antwort: am Untergang der Titanic wollen die Protokollanten der Zeit auf keinen Fall mitschuldig sein. Besser späte Einsicht als gar keine, könnte man sagen. Doch wo bleibt die notwendige Selbstkritik der Vierten Gewalt? Ohne die an Wohlwollen nicht zu überbietenden Schutz- und Trutzkommentare für die Kanzlerin (immer aus der projektiven Innensicht der Kanzlerin, als ob die Beobachter sie besser verstünden als sie sich selbst) hätte sie schon längst ihr Bündel packen müssen.

Jetzt aber beginnt‘s im Blätterwald zu rauschen:

Die Hauptverantwortung trägt die Bundeskanzlerin. Jens Spahn steht noch schlechter da. Als Gesundheitsminister ist er für die Pleiten mitverantwortlich. Von Merkel zu den Tests befragt, lieferte er so schwache Antworten, dass ein Aufschub nötig wurde. Überdies zeigt er sich der Lage persönlich nicht gewachsen, ließ sich von der Frage ablenken, ob er doch noch CDU-Vorsitzender werden könne, und nahm an einem Abendessen mit Unternehmern teil, als ganz Deutschland aufgerufen war, sich bei den Kontakten zu mäßigen. Tags darauf war er infiziert. So verspielt man jedes Vertrauen. Eigentlich wären jetzt zwei Rücktritte fällig.“ (SPIEGEL.de)

„Aber mehr noch als Spahn ist Angela Merkel inzwischen zu einer Belastung für die CDU und für das Land geworden. Hätte sie es doch bei der dritten Amtszeit belassen! Sie hätte ein weitgehend intaktes Erbe in eine wunderbare neue Freiheit mitnehmen können. Aber nein: Sie musste weitermachen, und jetzt droht ein schlimmes Ende ihrer Kanzlerschaft. Deren letztes Bild wird ein unendlich langes Jahr 2020/21 sein, in dem Deutschland in einem beispiellosen Ausnahmezustand gehalten wurde. Merkel ist offenbar umringt und abgeschirmt von ideologisierten Beratern und hat sich in eine Haltung der kompromisslosen Rechthaberei verrannt, aus der es keinen vernünftigen Ausweg mehr gibt.“ (WELT.de)

„Journalisten hatten lange von »Verbrechen aus Leidenschaft« oder »Familiendramen« geschrieben, jetzt war immer häufiger die Rede von Femiziden. Die Politik berief endlich einen nationalen runden Tisch zum Thema häusliche Gewalt ein. Die größte Signalwirkung aber hatte eine Nachricht von Präsident Emmanuel Macron. Am 6. Juli 2019, am Abend nach einer Demonstration, räumte er auf Facebook und Twitter das Versagen der Regierung ein. Er sagte: »Meine Damen, die Republik hat es nicht geschafft, Sie zu beschützen.« Man stelle sich vor, was es hierzulande bedeuten würde, wenn Kanzlerin Angela Merkel so etwas sagte.“ (SPIEGEL.de)

„Während seine Ministerkollegen bei der Bekämpfung der Coronakrise seriell versagen, bastelt Seehofer mit seinen Ministerialbeamten an der dauerhaften Aushöhlung von Grundrechten. Das Internet ist, siehe China, immer auch ein potenziell totalitäres Werkzeug. Seehofer möchte es gerne endlich so nutzen dürfen. Der Mann, der damals Hans-Georg Maaßen »integer und kompetent« fand, versucht, einer von Corona abgelenkten Öffentlichkeit gerade mal eben eine totalitäre, offenkundig verfassungswidrige Neuordnung des Internets unterzujubeln – übrigens schon im mindestens zweiten Anlauf. Schon diese Versuche sind so unanständig, dass man spätestens jetzt sagen müsste: Es reicht. Entlasst Horst Seehofer.“ (SPIEGEL.de)

„Die Bundesregierung steht am Ende der Corona-Saison auf einem Abstiegsplatz. Das liegt auch daran, dass Angela Merkel nie starke Minister geduldet hat. Die Unionsparteien sollten damit aufhören, ihr Personal nach Regional- und Geschlechterproporz auszuwählen. Schon vor Corona war bemerkenswert, dass die SPD im Kabinett ein Projekt nach dem anderen verwirklichte (nicht alles sinnvoll), während die Unionsparteien Missstände verwalteten (Verteidigung, Bauen, Landwirtschaft) oder Flops der Vergangenheit verteidigten (Maut). Angela Merkel hat nie starke Minister geduldet.“ (WELT.de)

„Heute bleiben immer alle im Amt. Die Kanzlerin an erster Stelle. Fast verwegen erscheint es, sie an ihren Taten überhaupt noch messen zu wollen. Als wäre sie nicht an erster Stelle verantwortlich dafür, dass dieses Land im Jahr 2021 noch per Fax kommuniziert und den Impfstoff nicht zu den Bürgerinnen und Bürgern bringt, dafür, dass Menschen immer noch schwer krank werden, fast alle zu Hause eingesperrt sind, viele pleite, manche ohne Zukunftsperspektive und Hoffnung – während andere Staaten, mit denen sich Deutschland einst messen konnte, digital Impfplätze vergeben und zügig wieder zur Normalität zurückfinden.“ (WELT.de)

„Auf 13 Seiten und in einem komplizierten Stufenplan regelt die Bundesregierung, wie das öffentliche Leben in Deutschland langsam wieder aufgenommen werden soll. Nur zu Schulen und Kitas verliert sie kaum ein Wort. Das ist ein Zeichen – und zwar kein gutes. Auf die versprochenen Schnelltests, die Luftfilter und auch die vorgezogenen Impftermine für Pädagogen wartet ein großer Teil der Lehrer- und Schülerschaft immer noch. Während Österreich seine Schüler und Lehrer regelmäßig testet und die USA angekündigt haben, Schul- und Kitapersonal bis Ende März durchgeimpft zu haben, wird hierzulande vor allem gelüftet.“ (WELT.de)

„Früher war es zum Beispiel normal, dass die deutsche Industrie einfach wichtige Posten im Wirtschaftsministerium selbst bemannte, um ihre Interessen durchzusetzen. Es gab gar keine scharfe Trennung von CDU, Regierung und Industrie.“ (TAZ.de)

„Mitte Februar hatte Spahn bundesweite Gratistests für alle angekündigt: Ab 1. März bis zum 30. Juni solle „jeder Bürger und jede Bürgerin zweimal wöchentlich kostenlos einen PoC-Antigen-Schnelltest durchführen lassen“ können. Doch Mittwoch platzte die Blase: Spahn hat die entsprechende Menge zur rechtzeitigen Einführung seiner „Nationalen Teststrategie“ noch gar nicht bestellt!“ (BILD.de)

Die Frage ist falsch gestellt: wo hapert‘s im Wunderland Deutschland? Stattdessen müsste man fragen: was eigentlich funktioniert noch im Land der Erfolgreichen? Nur noch die Reste ihrer einstigen Tüchtigkeit, die sie im Laufe ihres Wohllebens geschreddert haben. Nach dem Krieg wollten sie beweisen, dass sie Wunderkinder des Neuanfangs sind und unterwarfen sich widerstandslos ihren jovialen Besiegern, die den Eifer ihrer Musterschüler wohlwollend beurteilten.

Die ständig guten Noten für die Bekehrten waren Balsam für die deutsche Seele. Amerika wurde zum neuen Mekka des jungen Kapitalismus, den sie mit Überschwang verinnerlichten und in vorbildliche Taten umsetzten. In gleicher Weise importierten sie später den Neoliberalismus, der in kürzester Zeit die soziale Marktwirtschaft in eine Schröder‘sche Armen-Degradierungs-Republik verschandelte. Justament die Partei der Proleten hatte die Schnauze voll von kohle-verseuchten Vorortsvereinen. Aufsteigen wollten sie und gaben die Losung aus: die SPD ist die Partei der Aufsteiger. Wer nicht aufsteigt, nicht zum Genossen der Bosse wird, soll im Hartz4-Freiluftgefängnis verkommen. Kaum einer der ehemaligen Willy-Gefährten, der sich dem „Dritten Weg“ Schröders – den er von Blair minutiös kopierte – entgegengestellt hätte. Demokratiefeindliche Sätze machten die Runde: Opposition ist Mist! (Müntefering)

Das Scharmützel um Thierse, früher um Sarrazin, zeigt die bodenlose Desorientierung einer Partei, die nur am Bändel der frommen Ossi-Aufsteigerin ein bisschen Macht schnuppern konnte. Auf eigenen Beinen hätten sie es nie gewagt, sich dem Votum der Bevölkerung zu stellen.

Schröder, Spezi Putins, schafft es noch immer, sich in die Schlagzeilen zu stehlen. Dort zeigt er seine alte Wirrnis, die er doktrinär vor sich herträgt: ihr kriegt mich nicht dazu, meine schmutzige Beziehung zum Kreml zu revidieren – solange der Rubel rollt:

„Eine moralisierende Politik ist zum Scheitern verurteilt. Gerade in Zeiten großer Umbrüche und Veränderungen sollten wir auf stabile internationale Beziehungen und die Wahrung unserer eigenen Interessen achten. Wertvorstellungen zählen dazu, aber sie dürfen nicht zum alleinigen Kriterium unserer Außen- und Wirtschaftspolitik werden. Stattdessen sind wir gut beraten, den Dialog zu führen und multilaterale Strukturen zu stärken. Das bietet die Chance, auch mit schwierigen Partnern zusammenzuarbeiten.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Einen Dialog führen, um auch mit schwierigen Partnern zusammenzuarbeiten, ist – amoralisch? Werte ja, aber bitte streng rationiert: kann man moralische Werte beliebig zerstückeln, wenn sie den Geschäftsinteressen im Wege stehen?

Die SPD krankt an denselben Symptomen wie die CDU: Werte wurden zur Dekorationsware, die man ungerührt opfert, wenn holder Mammon winkt. Oh ja, es gibt Wertekonflikte, die nicht einfach zu lösen sind. Deshalb hat Gott die Staatsraison erfinden lassen. Doch solche Verteidigungsmaßnahmen dürfen nur streng limitierte Ausnahmen und Notlösungen sein, die das Ziel des Friedens nicht aus den Augen lassen.

Die Haltung aufrechter und wehrhafter Demokratie ist verschwunden, auch bei der EU-Chefin, Merkels getreuer Schülerin von der Leyen. Die beiden mächtigsten Damen Europas denken nicht daran, den immer undemokratischer werdenden Staaten Polen, Ungarn zu zeigen, wo Bartels den Most holt. Deutsche Grundsatzlosigkeit zerstört das Fundament der EU.

Der ehemalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi verteidigt den prinzipienlosen Amoralismus der Partei in doktrinärer Härte:

„Martin Heidegger bleibt ein bedeutender Philosoph, Ezra Pound ein bewunderter Dichter, Hans Pfitzner ein wichtiger Komponist, Emil Nolde ein großer Maler und Otto von Bismarck der Gründer des deutschen Kaiserreichs – wie immer wir sie heute auch als Zeitgenossen ihrer vergangenen Gegenwärtigkeit beurteilen. Verstehen ist dann oft richtiger als urteilen. Ich finde es grundfalsch, wenn wir Geschichte nicht nach ihrer Zeit beurteilen, sondern nach unseren heutigen Maßstäben. Dazu sagt der Soziologe Norbert Elias etwas sehr Kluges, ich zitiere: „Nichts ist gewöhnlicher als Historiker, die über wehrlose Menschen früherer Zeiten zu Gericht sitzen und dabei Werte ihrer eigenen Gegenwart als Maßstab gebrauchen.“ Dürfen wir beim Thema Klimawandel der vorangegangenen Generation „moralisches“ Versagen vorwerfen, obwohl es doch eigentlich nur zeitgemäße Irrtümer waren. Ich habe zum Beispiel den Parteiausschluss von Thilo Sarrazin immer für einen Fehler gehalten und habe ihn bei seinem ersten Ausschlussverfahren auch verteidigt. Weil ich der Meinung bin, dass seine Thesen und Überlegungen in meiner Partei erst ausgetragen werden müssten – aber doch nicht durch Ausschluss beendet. Seine Themen bleiben nämlich virulent in der Gesellschaft.“ (WELT.de)

Alles, was rechts ist, aber genial, wird unverwandt bewundert. Romantische Genieverehrung spottet aller moralischen Gleichheit der Aufklärung. Die Geschichte darf nicht nach Maßstäben der Gegenwart verurteilt werden? Dies sei schon die Ursünde kategorischer Moralapostel gewesen. Über „wehrlose Menschen früherer Zeiten“ dürfe nicht gerichtet werden. Gerichtet werden? Demokratische Kritik wird verboten, weil die Toten sich nicht wehren können! Bildung dient nicht der Gegenwart, sondern wird zur renommierten Fassade, die keiner Kritik unterzogen werden darf.

Damit hätten wir unsere Vergangenheit erfolgreich aufgearbeitet. Der arme Hitler ist rehabilitiert. Wie Medien über das, was ist, nicht urteilen dürfen, ist es Historikern verboten, über alles, was war, eine kritische Meinung zu bilden. Demokratische Kritik wird zum Fremdwort, wird verschandelt zum religiösen Richten, welches das apokalyptische Endgericht Gottes vorweg nimmt.

„Dürfen wir beim Thema Klimawandel der vorangegangenen Generation „moralisches“ Versagen vorwerfen, obwohl es doch eigentlich nur zeitgemäße Irrtümer waren“? Irrtümer sind nur belanglose Defizite des Intellekts und haben nichts mit Moral zu tun? Das ist die zweite Weißwaschung der Alten, die sich lästerliche Anklagen der FFF-Jugend energisch verbitten. Mögen sie die Welt tatsächlich an den Rand des Abgrunds gebracht haben: ihr Herz bleibt rein, soll niemand drin wohnen als Jesu allein. Wenn Dohnanyi Sarrazin wegen fremdenfeindlicher Pseudoerkenntnisse nicht aus der Partei ausschließen will – dann wird er die Überwachung der AFD durch den Verfassungsschutz bestimmt heftig kritisieren.

Hat die SPD keine Prinzipien, gegen die man verstoßen kann? Dann sollte sie sich flugs zur Allparteien-Partei küren lassen und Menschenfeinde jedweder Couleur ans Herz drücken. Irgendwie muss der Mitgliederschwund doch gestoppt werden.

Was ist der tiefste Grund der jetzigen Krise? Das labile Gleichgewicht zweier konträrer Elementarkräfte droht zu zerbrechen. Das Gleichgewicht zwischen dem unbewussten Drang christlicher Nationen a) nach der Wiederkehr des Herrn und somit dem Sieg der Erwählten über die massa perditionis und b) dem unlösbar damit verbundenen Drang nach dem Endgericht Gottes, der die ganze Welt vernichten wird, um eine neue Schöpfung aus Nichts zu zaubern. Hoffnung auf ewigen Sieg und Angst vor ewiger Strafe haben sich bislang die Waage gehalten.

Panische Untergangsängste wurden durch genialen Fortschritt im Zaume gehalten. Pessimistische Düsternis (Untergang des Abendlandes) wurde in Deutschland durch gewaltsame Rettung und Umwandlung der Welt in das 1000-jährige Reich kompensiert. Vorübergehend kompensiert. Das war die politische Eschatologie der Deutschen.

Die amerikanische Version ist die technische Flucht weniger Erwählter ins All, um der korrupten Erde für immer Ade zu sagen. Um die Flucht ins All abzusichern, ist Silicon Valley dabei, die Flüchtlinge ins All unsterblich zu machen. Elon Musk lebt bereits jenseits der Apokalypse, mit der Menschheit hat er abgeschlossen, auf zu neuen Ufern mit einer Handvoll Milliardäre und einigen nützlichen Technikfanatikern. Jetzt eilen und hasten sie, den Mars in eine zweite Erde zu verwandeln. Dann beginnt die biblische Geschichte Teil II.

Die Transformation der biblischen Heilsgeschichte in den Wettlauf der Nationen ist den Amerikanern voll bewusst. Die Deutschen haben sich jegliche Assoziationen mit biblischen Endvorstellungen strikt verboten. Weshalb sie den Widerspruch der Amerikaner zwischen heidnischer Demokratie und biblischer Verheißung nie und nimmer verstehen. Nach vielen chiliastischen Heilserwartungen mit schrecklichen Völkermorden haben sich die Deutschen alles „Metaphysische“ aus dem Herzen gerissen und es mit der Erfolgsgeschichte von Mercedes und Volkswagen gut sein lassen.

Diese erkünstelte Oberflächlichkeit, sie stürzt jetzt ein. Nach symbiotischer Geborgenheit mit der Mutter der Nation folgt – was? Es droht der Sturz in nationale Verzweiflung. Denn die drohende Rückkehr der Männer wird im ersten Moment eine Erleichterung sein, im zweiten aber droht eine – erbarmungslose Entzauberung.

Der Fall aus der Geborgenheit des Mythos in die nackte Realität, ohne Hilfe eines selbstbewussten Logos, wird die Deutschen in Bedrängnis bringen.

Wir müssen aufhören, unsere Zukunft mit Wirtschaftswachstum und nationaler Überlegenheit gewinnen zu wollen. Was bleibt? Wir müssen Menschen werden, um Hand in Hand mit der Menschheit die drängenden Probleme der Erde in Angriff zu nehmen.

Fortsetzung folgt.