Kategorien
Tagesmail

Alles hat keine Zeit LXXXVII

Tagesmail vom 05.03.2021

Alles hat keine Zeit LXXXVII,

„Weder Angela Merkel noch Jens Spahn sind seit dem vergangenen Sommer ihren Aufgaben gerecht geworden. Eine frische, tatkräftige Regierung wäre dem Land und seinen Bürgern sehr zu wünschen gewesen. Die aktuelle hat nun nachhaltig bewiesen, dass sie es nicht kann. Das erschüttert auch lang gepflegte Selbstzuschreibungen. Lange waren wir Deutschen davon überzeugt, in einem modernen, innovativen und gut organisierten Land zu leben. Die Pandemie hat uns diese Selbsttäuschung genommen. Wäre die Bundesrepublik tatsächlich ein modernes, innovatives und gut organisiertes Land – und hätte zugleich das Glück, eine umtriebige, ambitionierte, hellwache politische Führung zu haben, sähe die Situation jetzt rosiger aus.“ (Markus Feldenkirchen in SPIEGEL.de)

„Und niemand fühlt sich verantwortlich, niemand ist zuständig, in der Stadt nicht, im Land nicht, im Bund nicht, kein Staatssekretär, kein Minister, kein Unternehmer, keine Kanzlerin. Warum ist niemand zur Rechenschaft gezogen worden für diesen Irrsinn? Wieso hat niemand Schadensersatzansprüche gegen Chefs und politisch Obere erhoben? Warum sind nicht Staatsanwälte losgegangen und haben verantwortungslosen Verantwortlichen nachgespürt? Es ist, offenkundig, ein abstoßendes Spiel im Gang, hinter den Kulissen. Die Verantwortlichen sind nicht verfolgt worden, weil das Schadensersatzklagen Dritter nach sich gezogen hätte. Es mag Schuldige geben, aber man wird sie nie dingfest machen, man sucht sie erst gar nicht, weil das womöglich zu teuer käme. Bei uns, in Deutschland, wird heutzutage gern groß geredet, aber am Ende ganz klein gedacht.“  (SPIEGEL.de)

BER, das neue Kürzel für BRD, die Einübung in die Coronakrise. Wir ahnten und wussten es, wir hätten es wissen müssen – aber wir wollten es nicht wissen. In Deutschland wird keine Politik gemacht. Man springt auf den fahrenden Zug und überlässt alles höheren Mächten. Siegen diese Mächte, gehört man zu den Siegern; verlieren sie, war man Opfer.

Die Pandemie war das erste Projekt, das die Deutschen in kompletter Eigenregie hätten durchführen müssen. Vom Ursprung bis zum Ziel, von der Quelle bis zur Mündung, von der Wiege bis zur Bahre. Erforschung der Ursachen gehört zum Ursprung, Ziel wäre die Besiegung der Krankheit – die Herdenimmunität, die Gesundheit der Nation. In medizinischer Sprache: Diagnose und Therapie gehören zusammen. Nichts davon in Berlin. Der Schlendrian ging weiter.

Warum sind immer mehr Menschen zornig, so furchtbar wütend und hasserfüllt? Weil sie Leidtragende einer Politik sind, die sich weigert, Diagnosen zu stellen und wirksame Therapien zu entwickeln. Das Leben, ein Verhängnis, brettert über sie hinweg und hinterlässt Amputierte und Beschädigte.

Die Gesellschaft: ein Organismus, der krank ist, aber gesund sein könnte, ja gesund sein wollte?

Neeein, welch fluchwürdige Begriffe einer schrecklichen Vergangenheit. Die Gesellschaft ist eine Maschine, die, im Wettbewerb mit anderen Maschinen, trunken in die Zukunft braust. Wer als erste das Ziel erreicht, erhält den Gesamtpreis: Sieger der Geschichte. Augapfel des Himmels. Erwählter. Das Ziel? Kennt niemand. Wer sich als erster als Sieger ausruft, ist es auch.

Wer auf der Strecke bleibt, hat es verdient. Hätte er sich doch mehr bemüht, sich nicht so hängen lassen, wäre er intelligenter und durchsetzungsfähiger gewesen, hätte er das Glück gehabt, in den Machtetagen geboren zu sein – dann säße er heute in einer weißen Villa mit Blick auf das Meer auf einer weit entfernten, glücklichen Insel. Über Impfdosen, Inzidenz und R-Werte könnte er nur grinsen.

Können Gesellschaften krank sein oder gesund? Neeeein. Wer möchte bestimmen, was gesund ist? Das gäbe Mord- und Totschlag. Waren gesunde Gesellschaften nicht jene „Idealstaaten“, die von Besserwissern totalitär regiert wurden? Wer erkühnt sich, seine Gesundheit dem Nachbarn vorzuschreiben?

Kein Doktor schreibt dem Kranken vor, wie seine Gesundheit auszusehen hat. Leib & Seele des Patienten wissen es selbst, denn sie werden geleitet vom Prinzip natürlicher Selbstheilung. Jede Gesundung weiß und ahnt, welches Ziel sie anstreben will. Der Arzt ist nur Gehilfe des Organismus, der in seinem dunklen Drang sich des Weges wohl bewusst ist.

Politik muss aufhören, Maschinen zu bedienen, zu reparieren oder zur Höchstleistung anzufeuern. Politik ist Diagnose und Therapie der Menschheit, ihr Ziel ist die Gesundung des Menschen: die Utopie einer lachenden, fröhlichen Gesellschaft.

Und jetzt wird’s gefährlich für die Politik: sie lehnt jede utopische Zielvorstellung ab. Ein klares Ziel wäre ein nachprüfbarer Maßstab, an dem die Politik gemessen werden könnte. Klare Utopien entlarven die Qualität der Politik, sie machen sie falsifizierbar.

Eine Utopie ist der Gottseibeiuns jedes Politikers, der nur ein Ziel kennt: an der Macht zu bleiben. Alles muss für ihn in Bewegung bleiben, Zielen entgegen, die niemand definieren kann, damit sie unerkennbar bleiben. Wer sich im Nirgendwo bewegt, kann nicht geortet werden.

Im Rausch endloser Bewegung kann niemand sagen: Politiker, du hast versagt, dein Ziel verfehlt: verlass das Steuer des Schiffes. Welches Ziel? wird er antworten: Ich kenne nur den Spruch der Unermüdlichen und Ruhelosen: Vorwärts durch die Tundra jagen die Tscherkessen. Haben wir denn schon den Mars erreicht, sind wir bereits unsterblich geworden? Also dawai, dawai!

Die neue Politik muss sich Ziele setzen, nicht willkürliche, sondern Ziele kosmischer Gesundheit. Lasst euch warnen vor dem Satz: die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, aber die Kranken. Nur wenn wir selber gesund werden, können wir jenen Arzt für immer verabschieden, der die Menschen heilt, indem er sie der Erde entfremdet und zum Tode verurteilt, damit sie im Himmel auferstehen – oder in die Hölle fahren.

Der Kampf der Deutschen gegen Antisemitismus ist dieselbe Farce wie ihre Politik. Keine Ursachenforschung! Und an einen Sieg über den Judenhass glaubt niemand. Antisemitismus ist wie Erbsünde, er war schon und wird immer bleiben. Was bleibt dann noch? Immer dieselben Sätze gekünstelten Abscheus. Aus Berlin dringt kein einziger sinnvoller Satz, weder Analyse, noch Diagnose. Wir brauchen eine neue Regierung.

Herr Benz, was ist denn nun Antisemitismus?

„Die Ratlosigkeit ist nicht verwunderlich. Heute tummeln sich unglaublich viele „Experten“, die pausenlos alles Mögliche als Antisemitismus deklarieren. Alle wissen es besser. Zweitens: Niemand will es genau verstehen. Man lässt sich lieber von Emotionen leiten.“ (TAGESSPIEGEL.de)

In welchem Staat lebt der Antisemitismus-Forscher? In einer platonischen Herrschaft der Weisen und Experten? In einer Demokratie kann er unmöglich leben, sonst wüsste er, dass jeder Mündige mitreden soll. Wer Unsinn redet, muss mit Gegenwind rechnen. So ist das Leben in der Polis. Für deutsche Gelehrte noch immer eine terra incognita.

„Antisemitismus ist das älteste religiöse, kulturelle, soziale und politisch-wirtschaftliche Vorurteil, dass die Menschheit kennt.“

Aller Anfang ist falsch. Ursprünglich gab es keine Spannungen zwischen antiken Völkern und den Kindern Israels. Wegen ihres Monotheismus wurden sie von griechischen Weltreisenden gar als philosophisches Volk gerühmt. Es entstand sogar die Legende, Juden und Spartaner seien verwandte Völker. Wirtschaftliche Vorurteile konnte es gar nicht geben, denn Wirtschaft spielte anfänglich keine Rolle. Dass Juden den Kapitalismus erfunden haben sollen, ist deutscher Irrsinn.

Die jüdischen Stämme waren ein zurückgezogenes bäuerliches Land, das die ersten wirtschaftlichen Erfahrungen erst durch die hellenische Besatzungsmacht kennenlernte. Wie in allen besetzten Ländern schlugen sich die einheimischen Eliten auf die Seiten der Besatzer, um durch Geschmeidigkeit ihre Macht zu vergrößern. Tiefe Risse entstanden zwischen heidnisch angepassten Stadteliten und dem streng gläubigen Volk auf dem Lande.

Erst die späteren Flüchtlinge in Alexandrien, die in selbstverwalteten jüdischen Vierteln wohnen durften, erlernten die wirtschaftlichen Regeln des damaligen Kapitalismus, wurden wohlhabend und reich. Nicht selten überflügelten sie die Einheimischen. In Rom setzte sich diese Entwicklung fort. Die mittelalterlichen Fürsten des Abendlandes luden sie in ihr Land ein, um ihre wirtschaftlichen Kompetenzen zum Nutzen ihres Landes auszubeuten.

Die Juden waren ehrgeizig, denn ihr Gott erklärte sie zu seinem auserwählten Volk, das den Heiden grundsätzlich überlegen sei. In der Diaspora verwandelten die Juden ihre Auserwähltheit in Überlegenheit in allen Dingen. Mit den Worten Friedrich Heers aus seinem Buch: „Gottes erste Liebe“:

„In Alexandrien lebt eine hochgemute jüdische Intelligenz, die, stolz auf ihre religiöse Überlegenheit den „Heiden“ gegenüber, gleichzeitig empfindlich berührt ist durch ihre Unterlegenheit in Sachen der Literatur, der Philosophie, der geistigen Weltbildung. Diese jüdische Intelligenz wird nun aggressiv. Mit vielen Schriften betont sie ihren überlegenen Monotheismus: den Vorrang der Bibel gegenüber den griechischen Philosophen. Die Bibel sei älter als alle griechische Weisheit. Hochgemute jüdische Autoren fälschen nun Texte Homers, Hesiods, des Aischylos, des Sophokles zu Ehren des einen Gottes um. In der Sphäre des religiös-politischen Streites ist die fromme Fälschung, pia fraus, Jahrhunderte hindurch an der Tagesordnung. Die griechische Intelligentsia in Alexandrien reagierte erbost auf diese „Arroganz“ der Juden, auf diese Anmaßung und Herausforderung. Dieser erste geschichtlich greifbare „Antisemitismus“ ist eine Reaktion, eine griechische, später lateinische Gegenoffensive gegen eine jüdische Expansion. Eine groß angelegte jüdische Propaganda zieht aus, um Proselyten zu gewinnen.“

Der religiöse Hochmut zeichnete auch die späteren assimilierten deutsch-nationalen Juden aus, die „auf ungebildete Gojim ebenso herabschauten wie auf die nicht-assimilierten Ostjuden.“ (ebenda)

Die Kluft zwischen dem streng religiösen Landvolk und den hellenisch angepassten Stadtjuden hatte mit der Besatzungspolitik Alexanders und seiner Nachfolger begonnen. Es gibt Schriften im Alten Testament, die deutlich hellenische Einflüsse zeigen – wie das Buch der „Sprüche“.

Heers historische Herleitung des Antisemitismus als Reaktion der Heiden gegen die „Arroganz“ der Juden, die ihre Erwähltheitsideologie benutzten, um Tafelgemeinschaften mit den Heiden abzulehnen, wäre heute ein Affront. Damals entstand das polemische Wort vom jüdischen „Hass auf das Menschengeschlecht.“ Das war kein typisches Vorurteil der Griechen gegen die Juden, schon gar nicht auf Basis des Christentums, das damals noch gar nicht existierte.

Die Animosität der antiken Völker gegen die Juden war kein Vorurteil, wie Benz pauschal unterstellt, sondern Re-aktion gegen den Hochmut der Juden. Der „klassische“, religiös begründete Antisemitismus begann erst sehr viel später unter den christianisierten germanischen Völkern.

Benz entwickelt eine allgemeine Psychologie des Menschen, wonach die Schuld des eigenen Versagens immer bei anderen liegt. Der Sündenbock muss unter Minderheiten oder Fremden gesucht werden, damit das eigene Versagen vertuscht werden kann.

„Offensichtlich gehört es zur psychologischen Grundausstattung des Menschen, dass er Feinde benennt – und das sind meistens die Minderheiten. Wir sehen sie durch die Brille unserer Vorurteile. Wir schreiben ihnen böse Eigenschaften zu, damit wir sie ablehnen können.“

Fremdenfeindschaft und Sündenbocksuche sind keine generellen Eigenschaften aller Menschen. Wie viele Völker gibt es, die Fremde gastfreundlich willkommen heißen? Wie oft staunten Völkerkundler über ihre freundliche Aufnahme bei den Stämmen, die sie jahrelang wissenschaftlich erforschten.

Feindschaft gegen Fremde und Ungläubige ist die hervorstechende Eigenschaft der Erlöserreligionen, die die Welt einteilen in Gute und Böse, Rechtgläubige und Heiden, die sich der alleinseligmachenden Botschaft verschließen.

„Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.“

Der Verdammungs- und Seligkeitsdualismus der Schrift ist modernen Kanzelrednern unangenehm. Noch haben sie Hemmungen, diese „Hypotheken“ „neu zu interpretieren“, um sie los zu werden. Gemach, was nicht ist, kann noch werden.

Derselbe Dualismus gilt auch für ultraorthodoxe Juden, etwa in Israel, für die Palästinenser nichts als „Tiere“ sind. Christen- und Judentum haben sich in Europa in der Nachkriegszeit weitgehend solidarisch erklärt, um die gemeinsamen wunden Punkte zu verbergen. Seit Einwanderung vieler Mohammedaner verbinden sich Christen und Juden, um ihre eigenen Schattenseiten zu vertuschen und allein dem Islam aufzubürden.

Der Kampf gegen intolerante und aggressive Muslime wäre ehrlicher, wenn dieselbe Intoleranz der Christen und Juden nicht unter den Teppich gekehrt werden würde.

Antisemitismus ist Verdrängungs- und Vernichtungskampf der Christen gegen die Juden, deren Auserwähltheit sie für sich selbst reklamieren. Als die Juden den Glauben an den christlichen Messias verweigerten, wurden sie von Gott fallen gelassen. Das Christentum wurde zur allein seligmachenden Religion im Abendland. Alle christlichen Nationen definierten sich als die neuen Auserwählten. Alle Kriege der Neuzeit, vor allem die zwei fürchterlichen Weltkriege hatten den Sinn, jene Frage ultimativ zu beantworten: welche Nation ist denn nun die wahre auserwählte?

Die religiöse Vergiftung Europas, auch in der Moderne, wird von Historikern gern unter den Teppich gekehrt. Über religiöse Kindereien ist man doch hinaus. Erleichtert greift man zur neuen Vokabel „Rassismus“.

„Im Antisemitismus geht es um die sogenannte Rasse. Heute wissen wir, dass es gar keine Rassen gibt. Damals war das die modernste wissenschaftliche Erkenntnis. Nun kamen die üblichen Schwarmgeister und drittklassige Schriftsteller auf den Plan und begründeten, warum der Jude schlecht ist: Es liegt in seinen Genen.“

Oberflächlicher geht’s nicht. Der Rassismus der Deutschen war, nicht anders als die gesamte Säkularisierung, nichts als Umwandlung religiöser Inhalte in pseudowissenschaftliche Erkenntnisse.

Heute mag es keinen doktrinären Rassismus mehr geben. Eine nicht weniger gefährliche Variante ist die ewig gestellte Frage: Was bestimmt den Menschen: seine genetische Ausstattung oder seine Erziehung (nature or nurture)?

Der bislang siegreiche Westen verlässt sich nicht gern auf wankelmütige und unberechenbare Erziehungssprüche. Er will seine Überlegenheit naturwissenschaftlich verankert wissen. Gibt es noch Rassismus in den westlichen Demokratien? Ja, in der Form dominanter Gene, die zum unveräußerlichen Repertoire christlicher Sieger gehören. Religion hat man im Blut.

Der Kampf gegen Antisemitismus müsste in Deutschland besonders intensiv geführt werden. Davon kann keine Rede sein. Es ist nachvollziehbar, dass Benz und seine Kollegen alle Kritik an den Juden – selbst, wenn sie historisch gerechtfertigt wäre – prophylaktisch aus dem Weg räumen. Damit fanatische Antisemiten keinen Vorwand erhalten, ihren Hass mit „wissenschaftlichen“ Erkenntnissen zu rechtfertigen. Das wäre ein nachvollziehbarer Grund, die Judenanimosität der Antike als „angeborene“ Fremdenfeindlichkeit zu definieren – und nicht als verständliche Re-aktion auf das arrogante Auserwähltheitsverhalten der Juden.

Das ist vergleichbar der deutschen Feigheit, die menschenrechtsverletzende Politik Netanjahus (geprägt von den Ultraorthodoxen) zu kritisieren, weil jede Kritik an Israel als Antisemitismus gebrandmarkt wird.  In gleichem Sinn beschreibt man das antike Judentum in perfekter Unfehlbarkeit, die an der Entstehung des Judenhasses keine Mitschuld tragen darf.

Das ist verständlich, aber zu kurz gedacht. Ja, es ist kontraproduktiv. Denn die Weißwaschung, gedacht als deutsche Sühne für den Holocaust, erzeugt das Gegenteil: der Antisemitismus wird gestärkt und nicht geschwächt. Die Menschen spüren die dogmatische Kritiklosigkeit und halten sie für geschickte politische Demagogie. Das Ressentiment, das hier erzeugt wird, ist kein genuiner Antisemitismus, kann aber dazu beitragen, den christlichen Antisemitismus zu verschärfen.

Welche Religion die Juden auch immer erfanden, welche Fehler sie begingen: die heutigen Juden für die Mängel ihrer Vorfahren verantwortlich zu machen, ist ein Frevel. Das wäre jahrtausendealte Sippenhaftung.

Für die Religion ihrer Vorfahren sind heutige Juden nicht verantwortlich. Religionskritik ist kein Antisemitismus und hat mit genuinem Judenhass nichts gemein. Wie viele moderne Juden gibt es, die sich von der Religion ihrer Vorfahren distanzieren? Fast alle jüdischen Aufklärer von Moses Mendelssohn bis Saul Ascher wären Antisemiten oder jüdische „Selbsthasser“, wenn religiöse Kritik nichts als die Fassade eines verborgenen Antisemitismus wäre.

Ascher verweigert den Orthodoxen das Recht, „zu definieren, wer ein Jude ist und wer nicht, wer in eine jüdische Gemeinde gehört und wer nicht“. (Christoph Schulte, Die jüdische Aufklärung)

Für den Kantianer Ascher ist „die jüdische Geschichte nicht mehr göttlich gelenkte Heilsgeschichte, sondern Geschichte des jüdischen Volkes. Wenn aber nicht Gott, sondern die Juden ihre Geschichte machen, dann ist sie die profane Geschichte des jüdischen Volkes. Jüdische Geschichte ist keine heilige Geschichte mehr, sondern weltliche“. (ebenda)

Warum werden die jüdischen Aufklärer heute von allen Seiten totgeschwiegen? Weil sie weder die israelische Unrechtspolitik, noch den unredlichen Kampf der Deutschen gegen Antisemitismus unterstützen würden.

In allen Dingen müssen wir von vorne beginnen. Auch in der Humanisierung der jüdisch-deutschen Beziehungen.

Moses Mendelssohn könnte uns den Weg weisen: „Die Gesetze ihrer Religion gelten nur für die Juden selbst. Dennoch erkennt die Religion die Gerechten und Tugendhaften aller Völker.“

Mendelssohn wünschte sich, wie er schreibt, in einem Vaterland geboren zu sein, „wo ich Socrates zum Muster und Lessing zum Freunde haben könnte.“

Welcher deutsche Denker oder Dichter wäre zu diesem Bekenntnis fähig gewesen?

Fortsetzung folgt.