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Alles hat keine Zeit LXXXV

Tagesmail vom 01.03.2021

Alles hat keine Zeit LXXXV,

„Die Krauts schaffen‘ s nicht.“ Die Weltmeister im Tunnelbohren und Herstellen umweltvergiftender Autos stürzen ins Bodenlose. Klappt noch was im Land? Funktioniert etwas? Die Liste der bankrottierenden Institutionen wächst ins Unabsehbare.

Die Krauts schaffen’s nicht. Dies muss von einem amerikanischen Journalisten geschrieben werden, der aus Deutschland berichtet. Die Deutschen sind dazu nicht in der Lage. Sie haben alle Hände voll zu tun, die Hauptverantwortliche des Fiaskos auf Händen zu tragen. Um nicht zu sagen: anzubeten.

„Genauso wie die Deutschen darüber verwirrt waren, dass Millionen Amerikaner Donald Trump trotz seiner Inkompetenz treu blieben, wundert mich die deutsche Bereitschaft, Angela Merkel einen Freibrief für ihr Pandemiemanagement auszustellen. Trotz der vielen Versäumnisse und der unsicheren Aussichten auf eine schnelle Impfung bleibt Merkel mit einer Zustimmungsrate von fast 70 Prozent die beliebteste Politikerin des Landes. Dass Historiker auch so nachsichtig mit ihr sein werden, ist unwahrscheinlich.“ (WELT.de)

Im Auftreten unterscheiden sich Trump und Merkel, in der Art der christlichen Verwesungspolitik sind sie gleich. Trump kann sich auf seine biblizistischen Anhänger verlassen, auch wenn er noch so viele Sünden begeht; Merkel auf ihre abendländischen Wertevermittler, die Christen sein wollen, obgleich sie kaum wissen, wie das Vaterunser klingt.

Nimmt man Poppers Definition als Ausgangspunkt: Demokraten sind daran zu erkennen, dass sie ihre politischen Versager abwählen, um eine neue Regierung zu berufen, dann hätten die Deutschen keine Demokratie mehr. Die Kanzlerin kann schmählich versagen: ihre Untertanen tragen sie auf Händen. Die Deutschen praktizieren die lutherische Staatsvergottung in romantischer Verklärung: es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott wäre. Christliche Politiker können noch so viele Fehler begehen: der himmlische Vater und seine Frommen vergeben ihnen.

Nach mühsamer Lernarbeit in der Nachkriegszeit, fallen die Deutschen zurück in die lange Tradition ihrer Demokratieaversion. Solange sie Geld verdienen konnten mit ihrer Tüchtigkeit, ließen sie sich das demokratische Spiel gefallen. Jetzt, wo ihre Tüchtigkeit ins Gegenteil umkippt, klammern sie sich fest an einer promovierten Beterin – und lassen das demokratische Getue sein.

Der Beterin sind irdische Institutionen ohnehin Jacke wie Hose, sie wartet – wie Trump & Anhänger – auf den „lieben Jüngsten Tag“, wo alles Sündige endet. Darüber aber macht sie – im Gegensatz zu Trump& Co – ein großes Geheimnis, damit ihre hochaufgeklärten Untertanen sie nicht in die Ecke der Sektierer und Esoteriker stellen.

Da Volk und Mutter-der-Nation in eiserner Untätigkeit verharren und nicht daran denken, die Menschheitskatastrophen zu verhindern, sei der tiefenpsychologische Verdacht erlaubt, dass das kollektive Unbewusste der Deutschen zurückgefallen ist in eine fromme Symbiose, wie die Romantiker sie vor 200 Jahren hymnisch beschrieben.

Was ist die tiefste Ursache des gelähmten Abwartens auf die Katastrophe, schwankend zwischen Entsetzen und verdrängter Gierde nach dem ganz Neuen? Es ist der Glaube an die Verheißung: Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde sind verschwunden und das Meer ist nicht mehr.

Was die Deutschen als Credo verwerfen: ihre Sehnsucht nach der neuen Erde, dringt ihnen aus allen Poren ihrer präapokalyptischen Erwartungsstarre.

Ihr biblisches Unbewusstes ist Ursache ihrer Untätigkeit. Die Instrumente dieser Selbstlähmung hingegen sind ihre Aversionen gegen den heidnischen Satz des Widerspruchs. Kaum einer ihrer gesprochenen oder geschriebenen Sätze, der nicht von Widersprüchen paralysiert wäre. Aus widersprüchlichen Aussagen aber folgt Beliebiges. (ex falso quodlibet)

Eben dies ist die Grundlage ihrer Schriftdeutung. Die Bibel quillt über von widersprüchlichen Aussagen, und jeder Schriftkundige kann beliebige Meinungen mit heiligen Zitaten belegen. Diese Mühe macht sich kein moderner Theologe mehr. Kommt die Kirche wegen einer anstößigen Formulierung in die Bredouille, hilft das Abrakadabra der kontinuierlichen Offenbarung. Gottes Botschaft ist durch keinen heiligen Text festgelegt. Schreiten die Zeiten voran, sind die von Gott Erleuchteten jederzeit befugt, dem alten Text eine neue Botschaft zu injizieren, die sie triumphierend als himmlische Originalbotschaft präsentieren. So verfuhr Galilei, der seine bibelwidrigen neuen Thesen der Erkenntnis der Natur verdankte, einer Natur, die selbst die neue Offenbarung des Himmels war.

Dieses Schema übertrugen die neuzeitlichen Textinterpreten auf die Sprache der Völker. Es gibt keinen festgelegten Sinn der Worte. Wer eine neue Botschaft zu sagen hat, deutet sie nach Belieben in die alte Sprache hinein. So wird die moderne Sprache zum Wünsch-dir-was aller beliebigen Meinungen.

Eben das ist der Grund, warum die heutigen Medien keinen Wert auf Definitionen legen. Sie benutzen die Begriffe, wie es ihnen in den Kram passt. Aus der Beliebigkeit der Sprache wird die Beliebigkeit des Sprechens und Verständigens, pardon des Nicht-Verständigens. Die Notwendigkeit des Verständigens fällt weg, weil es keine objektiven Bedeutungen der Worte gibt.

Gibt es nur noch eine projektive Sprache, öffnet sich das beliebige Feld der Vieldeutigkeiten. Eine Regierung, die sich einer solchen Maische-Sprache bedient, ist unfähig, ihren unmissverständlichen Willen dem Volk mitzuteilen. Jeder Tag kommt ein neuer Erlass, eine neue Erkenntnis, die mit der gestrigen nicht übereinstimmt. Das Volk fühlt sich – wie jetzt in der Coronazeit – in die Irre geführt („verarscht“) und beginnt zunehmend zu murren. Experimente mit solch paradoxen Interventionen haben keine Mühe, die Probanden an sich selbst irre werden zu lassen.

Sprechakte, die alles und nichts bedeuten können, dienen nicht der Verständigung, sondern der Bewusstseinsspaltung. Die gegenwärtige Lähmung der Bevölkerung ist nicht nur das Ergebnis des Entzugs der Freiheitsrechte, sondern der täglichen Berieselung mit widersprüchlichen Botschaften. Die lähmende Funktion der Widersprüche ist der Bevölkerung so unbekannt wie den Machteliten. Das zeigt sich in den Talkshows, wo niemand niemanden auf seine Widersprüche aufmerksam macht. Entschuldigen Sie, Sie haben sich widersprochen. Wenn Sie das, was Sie sagen wollen, nicht widerspruchsfrei formulieren können, ist unser Gespräch am Ende.

Für Aristoteles gab es nur eine Möglichkeit, der Täuschung durch sophistische Vieldeutigkeit zu entgehen: der strikten Anwendung des Satzes vom Widerspruch:

„Doch das sicherste Prinzip von allen ist das, bei dem eine Täuschung unmöglich ist […] Welches das aber ist, wollen wir nun angeben: Denn es ist unmöglich, dass dasselbe demselben in derselben Beziehung zugleich zukomme und nicht zukomme.

Erstaunlich, dass nicht lange vor Aristoteles im weit entfernten China der Denker Konfuzius zum selben Ergebnis wie der Grieche kam:

„Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeihen Moral und Kunst nicht.“

Ohne Präzision des Redens und Schreibens ist keine Demokratie möglich, denn eine Verständigung zwischen verschiedenen Meinungen ist ausgeschlossen. Der Dialog auf dem Marktplatz als Mittel der Erkenntnissuche fällt flach. Ohne dialogischen Streit keine sinnvollen Volksversammlungen, in denen nach Auseinandersetzungen aller Beteiligten das Prinzip der Mehrheit über den Volkswillen entscheidet. Nicht als Kriterium letztgültiger Wahrheit, aber als vorläufige Einigung im weiteren Lernprozess der Polis.

Die Wiedergeburt der griechischen Logik seit der Renaissance entlarvte die Widersprüchlichkeit biblischer Aussagen so weit, dass die Aufklärung den Schluss ziehen konnte: Schluss mit allen theokratischen Aussagen, die in ihrer Widersprüchlichkeit in allen Farben schillern. Die Logik ist die oberste Bedingung jeder Wahrheitssuche und jeder demokratischen Disputation.

Dann der Hammerschlag Hegels, der seine universelle Gelehrsamkeit benutzte, um die Parole auszugeben: Vorwärts, Deutsche, wir müssen zurück zu Luther. Das ging nicht ohne Diskreditierung des Satzes vom Widerspruch, die Eliminierung der heidnischen Logik als Mittel der Erkenntnis.

An die Stelle der Logik setzte Hegel die Dialektik, die den Grundsatz der Logik: These und kontradiktorische Antithese schließen sich aus, außer Kraft setzte. Widersprüche müssen sein, ohne sie gibt es keine echte Erkenntnis: These und Antithese werden harmonisiert durch die Synthese.

„Widerspruch ist die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit.“ „Es ist dies eine zu große Zärtlichkeit für die Welt, von ihr den Widerspruch zu entfernen; in der Tat ist es der Geist, der so stark ist, den Widerspruch ertragen zu können.“ „Der Widerspruch ist das Erheben der Vernunft über die Beschränkungen des Verstandes.“ „Was die Welt bewegt, ist der Widerspruch“. „Den Prozess des Gegensatzes, Widerspruch und Lösung des Widerspruchs durchzumachen ist das höhere Vorrecht lebendiger Naturen.“ „Das Denken des Widerspruchs ist das wesentliche Moment des Begriffes.“

Den Begriff Dialektik übernahm Hegel vom vorsokratischen Denker Heraklit, doch die Bedeutung, die er ihm gab, hatte mit dem Griechen nichts zu tun. Als junger Theologe war Hegel einer der schärfsten Kritiker des Christentums. Doch dann fiel er in eine existentielle Krise, die es ihm unmöglich machte, seinen anti-christlichen Kurs fortzuführen. Eine Rückkehr zum pietistischen Glauben aber war ihm ebenfalls verwehrt.

Dann kam die Erleuchtung, die seine jugendliche Krise beendete und seinen Weg zum führenden Denker Deutschlands öffnete: er harmonisierte dialektisch Vernunft und Glauben, Griechentum und Christentum. Athen und Jerusalem schlossen sich nicht aus, sondern waren nur vorübergehende Polaritäten, die durch dialektische Versöhnung der Widersprüche zur finalen Einheit der einst feindlichen Brüder führte. Und er, Hegel, war der Versöhner des bislang Unversöhnlichen.

Wie Jesus die Welt mit Gott versöhnte durch Harmonisierung von Tod und Leben, so versöhnte der schwäbische Jesus die heidnische Weisheit der Welt mit der Torheit Gottes oder umgekehrt: die Torheit der Welt mit der Weisheit Gottes.

Mit dieser revolutionären Tat im Reich der Gedanken hatte Hegel den unauflösbaren paulinischen Widerspruch zwischen Gott und Welt, Ungläubigen und Gläubigen, überwunden. Dass Fichte die Deutschen zum Messias der Welt erklärte, konkretisierte sein Rivale Hegel mit der messianischen Denkertat, alle Widersprüche zwischen Schöpfer und gefallener Welt aufzuheben. Nun ging es nicht mehr um Vernichtung der Welt durch Gott oder von Gott durch die Welt:

„Vernichten werde ich die Weisheit der Weisen und die Einsicht der Einsichten werde ich verwerfen.“

Was Christen blind zu glauben hatten, konnten denkende Menschen im dialektischen Prozess verstehen. Glaube wurde zum Denken. Beide versöhnten sich irreversibel zur Harmonie der Welt, die ihre Perfektion über unendliche Stufen der Widersprüche am Ende der Heilsgeschichte erlangte. Gott, oder die vollständige Erkenntnis, war ein werdender Gott, der seine Versöhnung nicht auf einen Schlag vollbrachte, sondern die gesamte Geschichte der Menschheit benötigte, um am Ende alle Widersprüche zu überwinden und in zeitlose Harmonie zu überführen.

Das Kreuz mit der Rose war Hegels persönliches Symbol: der Tod am Kreuz, versöhnt mit der Schönheit irdischen Lebens. Hegels Dialektik hatte die Spaltung der Welt in Gott und Teufel, menschliche Autonomie und göttliche Weltherrschaft zur Einheit gebracht. Kühner und gottgleicher ging es nicht. Ab jetzt waren die Deutschen die denkerischen Führer der Welt, auf dem Weg zu den totalitären Führern durch erlösende Macht und Gewalt.

Nach dem Debakel des Dritten Reiches hätten die Deutschen nicht nur Demokratie lernen, sondern zurückgehen müssen bis zur Aufklärung, um ihre dialektischen Erlösungsbegriffe durch unverfälschte Logik aus dem Weg zu räumen und ihre Sprache dem scharfen Logos zuzuführen.

Vergeblich, die Neigung, alles Unverträgliche zu ignorieren durch das neue Motto: kein Entweder–Oder, kein Hell oder Dunkel, der Kompromiss ist die Spitze der Erkenntnis, Wahrheit an sich ist totalitär, führte zur heutigen Schlamperei des Denkens und Schreibens.

Die Frankfurter Schule sorgte zudem für eine marxistische Wiedergeburt Hegels, die in Adornos Satz gipfelte:

„Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint.“

Horkheimer und Adorno hatten in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ den Satz geprägt: Aufklärung ist totalitär. Später revidierte Adorno in Teilaspekten den Bannfluch der Gegenaufklärung, im Prinzip jedoch änderte sich nichts. Kein Wunder, dass der Studentenführer Dutschke seinen jugendlichen Glauben nahtlos in Marxismus überführen konnte.

Seitdem stehen sich in der BRD zwei Läger gegenüber: christliche Dauermachthaber gegen linke Dialektiker, die im Grunde nur zwei verschiedene Varianten des christlichen Erlösungsmythos sind.

Dass alles mit allem irgendwie zusammengehört, ergo es ein Entweder-Oder zwischen Wahrheit und Irrtum nicht geben kann, erzeugte die vermodernde All-Kompromiss-Atmosphäre der deutschen Politik. Scharfe Alternativen Mangelware. Alles ist alternativlos, wie eine christlich-sozialistische Doppeldialektikerin jeden Widerspruch wegzubügeln pflegt.

In dieser Gesamtstimmung „alles-ist-irgendwie-richtig“ (sofern es mit dem Kurs der Regierung übereinstimmt) werden die Gegner des Einheitsbreis als Besserwisser mit totalitären Neigungen verurteilt. Ein Sokrates, der seine Wahrheit stolz vertrat, solange sie nicht widerlegt wurde, wäre in Merkels Reich schon längst als Obdachloser verkommen.

„So ist für Sokrates wie für die Sophisten das Erziehungsproblem das fundamentale Problem der Weisen. Auch er ein Lehrer, nach seiner Überzeugung der allein wahre Lehrer der politischen Kunst.“ Für Platon war dieser Standpunkt die Legitimation, die Weisen zu totalitären Erziehern im idealen Staat zu ernennen. Nicht aber für Sokrates, der seine Weisheiten zur ständigen Überprüfung durch Streitgespräche offerierte und von Überredung durch Gewalt nichts wissen wollte. Im Gegenteil: besser Unrecht erleiden als Unrecht tun, ist sein Motto, das nächstenliebenden Christen bis zum heutigen Tag absurd erscheint.

Trotz Popper und Popper-Fan Helmut Schmidt ist es den Deutschen unmöglich, zwischen Sokrates und Platon zu unterscheiden. Die Gelehrten verehren Platon und nichts als Platon, weil sie sich als legitime Erben der Weisen fühlen, die das Volk reglementieren können. Wahrheiten aber erweisen sich nicht durch Gewalt, sondern durch Überzeugung und Vorbildlichkeit.

Warum ist der Westen unfähig geworden, die Wahrheit der Demokratie und Menschenrechte wider alle totalitären Regimes standhaft zu verteidigen? Weil er seine Demokratie durch christliche Bigotterien längst verunstaltet hat. Sie folgen nicht der Wahrheit, sondern technischem und wirtschaftlichem Erfolg.

Warum sollte China, diese ungeheuer erfolgreiche Nation, nicht zum neuen Vorbild des dekadenten Westens werden? Bei allen Despoten einen Bückling machen, um noch ein Geschäftchen an Land zu ziehen. Derweilen aber kräftig aufrüsten, um die globale Atmosphäre zunehmend zu verwüsten.

Demokraten stellen ihre Wahrheiten durch Reden und Handeln jeder Überprüfung. Was wären das für Demokraten, die die Würde des Menschen und die universellen Menschenrechte zur Disposition stellten?

Fast ein halbes Jahrhundert lang war die Idee der Demokratie dabei, die Völker der Welt zu überzeugen. Je mehr aber die westlichen Nationen dazu übergingen, ihren demokratischen Missionierungseifer mit List, Tücke und Gewalt zu kompromittieren, je mehr sank die Begeisterung der Welt für das Modell der menschlichen Selbstregierung.

Immer mehr Staaten regredierten in theokratische Systeme. Auch Demokratien öffneten sich immer mehr dem Einfluss ihrer Frommen und ließen die Strukturen der Volkssouveränität verkommen. Unter ihnen Amerika, Israel, Deutschland, die Türkei, Ägypten, der Iran etc.

Mit welch sadistischer Wollust die deutschen Eliten die Coronakrise als Vorwand benutzen, um die Bevölkerung mit irritierenden Botschaften als störrische und unfolgsame Kinder zu schikanieren, erleben wir gerade. Wer beim Flanieren einen Augenblick stehen bleibt, wird von einer allpräsenten Polizei zur Kasse gebeten. Zur Bekämpfung der wachsenden Schwerkriminalität fehlt hingegen das Personal.

Das Prinzip der griechischen Aufklärung hieß: nur die Wahrheit kann uns retten. Nur gegenseitige Kritik im Namen der Wahrheit ist demokratische Solidarität. Kritik kann weh tun; sie zu akzeptieren, um sich selbst zu entfalten, ist das Zeichen demokratischen Reifens. Ohne Kritik hingegen verkommt die Demokratie zur Macht der Reichen und Experten.

Warum ist die theokratische Verfälschung der Demokratie für viele eine Versuchung? Weil lästige Kritik vom Himmel verboten wird. An ihre Stelle rückt die gnadenlose Verurteilung am Ende aller Tage. Religiös verdammen ist allemal gottgleicher als fundierte Rückmeldungen in solidarischer Atmosphäre zu senden und zu empfangen:

„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn wie ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden.“

Die Befugnis zur Kritik wird dem mündigen Menschen entzogen, womit das gemeinsame Lernen durch Kritik unmöglich wird. Da wir nur durch Selbst- und Fremdkritik unsere Fehler wahrnehmen und korrigieren können, ist das Verbot der Kritik ein Beitrag zur Entmündigung. Der Mensch als lernendes Gemeinschaftswesen wird zum homo homini lupus.

Andere soll man nicht kritisieren (= richten), damit man selbst nicht kritisiert(= gerichtet) wird. Nur Gott ist der Allwissende, der die Menschen am Jüngsten Gericht ihrem ewigen Schicksal zuführen wird. Eine Minderheit wird selig, die Massen der Verdammten kommen ins Feuer.

Welch ein Zynismus: ihr werdet mit dem Maß gemessen, mit dem ihr andere messt. Es gibt kein objektives Recht, mit dem geurteilt wird, sondern nur ein persönliches Rachemotiv, das man schlau für den eigenen Vorteil einsetzen kann. Wer den anderen nicht richtet (kritisiert), wird selbst nicht gerichtet (kritisiert) werden. – Das ist Nicht-richten, um selbst der Kritik zu entgehen. Aus Beurteilen nach objektiven Maßstäben wird ein subjektives Schachern um des eigenen Vorteils willen.

Die deutsche Nation versinkt in den Abgründen ihrer Religion, deren palliativen Pseudosegnungen sie nicht widerstehen kann. Sie hält einer Kanzlerin die Treue, deren Inkompetenz sie nicht länger hinter Masken der Demut verbergen kann. Die Kanzlerin ist unfähig, Schaden vom Volk fernzuhalten. Von dieser Schuld kann sie niemand freisprechen.

Die wahren Schuldigen einer Demokratie aber sind immer diejenigen, die die unfähige Regierung wählten und versäumt haben, sie zu kritisieren und aus dem Amt zu entfernen. Nur eine selbstkritische Demokratie wird fähig sein, dem Verhängnis zu entkommen. Richtet euch selbst, damit ihr mit einem blauen Auge davonkommt.

Fortsetzung folgt.