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Alles hat keine Zeit LXXXVI

Tagesmail vom 03.03.2021

Alles hat keine Zeit LXXXVI,

Die Grünen wollen an die Macht. Mit einem radikalen – Vielleicht.

Robert Habeck plädiert für eine „neue Dekade des Humanismus und einer neuen Renaissance.“ Vielleicht.

Vielleicht beginne nach der Pandemie und einem Jahrzehnt des rechten Populismus eine »neue Dekade des Humanismus, eine neue Renaissance«. Das wäre dann, so der Grünenchef, »die Grundlage für einen anderen Kapitalismus, vielleicht für etwas ganz anderes, das heute noch keinen Namen hat.« (SPIEGEL.de)

Das Neue ist so außerordentlich, dass es noch keinen Namen trägt. Vor langer, langer Zeit haben die Grünen sich von ihrem radikalen Fundamentalismus verabschiedet und auf die Spur des Regierens begeben. Realistisch, pragmatisch, biegsam und geschmeidig. Kopf hoch, wird schon.

Nun stehen sie unmittelbar vor den Toren der Macht und fallen zurück auf den Radikalismus ihrer Anfänge. Vielleicht.

Reparatur der Unfehlbarkeit.

Heribert Prantl will zurück in die unfehlbare Kirche seiner behüteten Kindheit. Also verbündet er sich mit dem unfehlbaren Papst. Beide machen sich ans Werk, um die aktuelle, tief blutende Wunde der Schrift zu reparieren. Gott sollte fähig sein, den Menschen in Versuchung zu führen? Der himmlische Vater sollte das Böse erfunden haben?

Prantl weiß es besser als die Schrift. Er muss sie belehren. Es sind die Menschen, die sich einen Gott erfunden haben, um ihn für ihre Bosheit verantwortlich zu machen. Gott muss unschuldig sein an allen Übeln seiner Schöpfung. Alle Textstellen, die der Weißwaschung des Herrn widersprechen, müssen getilgt – oder richtig gestellt werden. Denn der Schöpfer war des Formulierens nicht ganz mächtig und schrieb wie ein Analphabet. Da müssen gewiefte Edelschreiber und Deuter kommen, um Seine Fehler unkenntlich zu machen. Nicht durch grobschlächtige Korrektur, sondern durch dezente Neuinterpretation:

„Warum haben die Kirchen Gott immer wieder zum Vorwand genommen, Menschen von sich abhängig zu machen? Sie haben Gott missbraucht, um das zu tun, was sie wollten. Die Kreuzritter haben einst „Deus lo vult“ („Gott will es“) auf ihre Fahnen geschrieben. Sie sind der Versuchung der Eifrigen, der Frommen, sie sind der Versuchung des Fundamentalismus erlegen. Die Kreuzfahrerzeit ist mit den Kreuzfahrern nicht zu Ende gegangen. Religion soll die Menschen nicht in Versuchung führen.“ (Sueddeutsche.de)

Plötzlich lesen wir Religion. Nicht Gott. Ein klares Dementi klänge anders. Religion, also Gott, soll nicht in Versuchung führen? Tut er‘s also doch und muss ermahnt werden, das fluchwürdige Tun einzustellen? Die Menschen erfanden das Böse, um die Erde mit Sünde zu überziehen? Gott aber benötigten sie als bequemen Sündenbock?

Hat Gott nur das Gute erschaffen, der Mensch aber war Urheber des Bösen? Dann wäre er ja Mitschöpfer und Gegenspieler Gottes von Anfang an gewesen! Die folgende Textstelle müsste aus der Bibel gestrichen werden!

„Der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe das Übel. Ich bin der HERR, der solches alles tut. – Geschieht ein Unglück in einer Stadt und der Herr hätte es nicht gewirkt? Kommt nicht vom Munde des Höchsten so Glück wie Unglück?“

Da haben die Textreparateure noch alle Hände voll zu tun, um die Offenbarung auf Vordermann zu bringen. Entweder konnte Gott nicht bis Drei zählen oder seine irdischen Stenographen entstellten das göttliche Diktat nach Belieben. Der folgende Urtext wäre ersatzlos zu streichen:

„Als aber der HERR sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es den HERRN, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen, und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe.“

Gott selbst gesteht, dass er versagt hat. Es reut ihn, dass er die Menschenbrut erschuf. Es reut ihn, dass er sie erschaffen hat. Offen gesteht er seine Schuld. Der böse Mensch ist sein Geschöpf. Außer Ihm gab es niemanden, der diesem das Böse hätte einflößen können.

Prantls Kollege, der Papst, kennt den wahren Schöpfer des Bösen:

„Franziskus hat Gott vehement verteidigt; er will Missverständnisse ausräumen: „Wir können ausschließen, dass es Gott wäre, der die Versuchungen auf dem Weg des Menschen auslöst. Als ob Gott seinen Kindern einen Hinterhalt legen würde!“ Es sei nicht Gott, der den Menschen in Versuchung stürze, um dann zuzusehen, wie der falle; der Versucher sei der Satan.“

Wo kommt denn nun der Teufel her? Ist er Gott ebenbürtig und hat seinem Widersacher ins Handwerk gepfuscht? Das würde ja bedeuten, dass das christliche Credo zwei gleichmächtige Götter kennen würde und Gott nicht allmächtig wäre? Wäre das kein Dualismus? Solch eine Spaltung der Welt in zwei gleichmächtige Reiche will das Christentum eben nicht sein. An der Allmacht des Herrn darf nicht gerüttelt werden.

Ist Satan nicht ein ehemaliger Engel, der schmählich von Ihm abfiel? Ist er nicht ein Knecht des Herrn, der für die Schattenseiten der Schöpfung zuständig ist? Was sagt Prantls unfehlbare Kirche?

„Die Macht Satans ist jedoch nicht unendlich. Er ist bloß ein Geschöpf; zwar mächtig, weil er reiner Geist ist, aber doch nur ein Geschöpf: er kann den Aufbau des Reiches Gottes nicht verhindern. Satan ist auf der Welt aus Haß gegen Gott und gegen dessen in Jesus Christus grundgelegtes Reich tätig. Sein Tun bringt schlimme geistige und mittelbar selbst physische Schäden über jeden Menschen und jede Gesellschaft. Und doch wird dieses sein Tun durch die göttliche Vorsehung zugelassen, welche die Geschichte des Menschen und der Welt kraftvoll und milde zugleich lenkt. Daß Gott das Tun des Teufels zuläßt, ist ein großes Geheimnis, aber ‚wir wissen, daß Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt‘. (Kath. Katechismus)

Gott hat dem Menschen den freien Willen geschenkt, damit er wählen könne zwischen dem Guten und Bösen. Wählt er das Böse, ist es seine Schuld und nicht die seines gütigen Gottes.

Damit ist es dem Katholizismus gelungen, die Freiheit des selbstbestimmten heidnischen Menschen zum Ursprung des Bösen zu erklären. Ein genialer Schachzug zur Diskriminierung der Ungläubigen. Wundert es jemanden, dass heutzutage Freiheit nur als Motiv zum Verantwortungslosen, Fahrlässigen und Amoralischen betrachtet wird?

Warum nur kennen Lutheraner und Calvinisten keinen freien Willen?

„Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.“ „Und in ihm sind wir auch zu Erben gemacht worden, vorherbestimmt nach der zuvor getroffenen Entscheidung dessen, der alles nach dem Ratschlag seines Willens wirkt.“

Nicht nur bei Calvin, auch bei Luther waren die Menschen prädestiniert. Von Lutheranern wird das gern vertuscht.

Wie kann es sein, dass die beiden mächtigsten Kirchen des Christentums in einer Zentralfrage des Glaubens das absolute Gegenteil vertreten? Antwort: wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Erlöserreligionen sind die perfektesten Produktangebote der Geschichte. Hier kann jeder beliebig selig – oder verdammt werden, wie die jeweiligen Priestereliten gerade gelaunt sind.

Christen können alles tun – und sein Gegenteil. Alles können sie Liebe nennen: Völker vernichten oder Hospitäler eröffnen, Kriege führen oder Samariter spielen.

Um die – vermutlichen – Wirkungen des Gebetes nicht Gott anzulasten, verweltlicht Prantl das Gebet:

„Beten heißt: eine Sprache und Geste finden und haben für Glück, Unglück, Verzweiflung und Wünsche. Man kann auch ungläubig beten und bitten und klagen. Wer das dann nicht mit dem religiösen Wort „Gebet“ benennen will, nenne es therapeutisches Selbstgespräch. Wenn es dabei hilft, in schwierigen, in aussichtslos scheinenden Situationen standzuhalten und wieder aufzustehen, dann ist so ein Gebet, so ein Selbstgespräch überhaupt nichts Frömmlerisches.“

Das ist, in Perfektion, eine Verweltlichung der Schrift, um ihre Botschaft zu retten. Ein Gebet ist also auch nichts anderes als ein „therapeutisches Selbstgespräch“. Dann wäre jede therapeutische Selbsterkenntnis nichts als ein Gebet? Und schwupp, ist die Welt vom allwissenden Glauben wieder mal eingemeindet.

Eine Therapie ist eine Arbeit an sich selbst, um sich zu verändern. Ohne den Glauben an die eigene Lernfähigkeit ist keine Therapie möglich. Weshalb dieser Glaube an sich selbst (im Gegensatz zum Glauben an einen Gott) eine selbsterfüllende Prophezeiung sein muss. Das gilt für alle psychischen und somatischen Selbstheilungen.

Psychosomatische Mediziner wissen: letztendlich ist jede Heilung, auch die mit Pillen und Medikamenten, nichts als ein „Placebo“ oder eine selbsterfüllende Prophezeiung. Ohne den Glauben an die eigene Heilkraft des Patienten ist jeder Doktor machtlos.

Im kläglichen Streit um die Homöopathie – die man beileibe nicht für richtig halten muss – galt das Placeboprinzip als Rosstäuscherei. Wenn aber Unfehlbare sich dieses Prinzips bemächtigen, um ihre magische Praxis „wissenschaftlich“ aufzupolieren, schaut niemand hin.

Was die rechte Glaubensgesinnung betrifft, gilt der perfekteste Widerspruch des Neuen Testaments:

Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich.
Wer nicht wider mich ist, der ist für mich.

Und wer entscheidet nun, ob ein Mensch angenommen oder verworfen wird? Petrus und seine Erben:

„Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.“

Alle Neu-Interpretationen der Schrift, die den Ursprungstext nicht zum Reden bringen wollen, sind keine Deutungen, sondern Verfälschungen. Was müsste ein redlicher Mensch tun, um sich von Worten der Schrift zu lösen, denen er nicht mehr zustimmen kann?

Er müsste sich unmissverständlich von dieser Textstelle distanzieren und sich verabschieden von der Unwiderlegbarkeit der Bibel. Nicht göttliche Worte bestimmen über sein Leben: er allein bestimmt über seine Erkenntnisse, mit denen er sein Leben gestalten will.

Was hingegen machen die unredlichen Neuinterpreten der Schrift? Sie verharren in blindgläubiger Heteronomie – und verfälschen dennoch alles, was ihnen gerade gefällt. Die europäische Theologie wurde zur Fälscherwerkstatt des Abendlandes und vergiftete die gesamte Denk- und Schreibkultur der westlichen Moderne.

Textmanipulationen sind die Grundlagen der gegenwärtigen Vergangenheitsauslöschung und fehlenden Selbstkritik der Marseroberer :

Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern? Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Medien legen keine Rechenschaft ab über ihre Rösselsprünge von gestern. Starr schauen sie nach vorne, um ihre Sünden der Vergangenheit auszublenden.

Jahrzehntelang unterstützten sie fast kritiklos die Übernahme des Neoliberalismus, als sei er die neue Botschaft des Weltgeistes, dem niemand zu widersprechen hatte. Die Wenigen, die dagegen waren, wurden aus dem Weg geräumt. Inzwischen beginnt sachte eine Ablösung vom menschenmordenden Kapitalismus, doch nirgendwo liest man den Begriff Neoliberalismus, schon gar nicht die Namen seiner einstigen kompetenten Kritiker, unter denen Alexander Rüstow der exzellenteste war. In Gablers Wirtschaftslexikon findet man nicht mal den Namen des in die Türkei geflohenen Nazigegners, dessen drei Bände „Ortsbestimmung der Gegenwart“ zu den herausragenden Büchern des letzten Jahrhunderts gehören.

Rüstow war es, der den Begriff Neoliberalismus prägte – damit meinte er jedoch das Gegenteil des heutigen Neoliberalismus, den er „Paläoliberalismus“ („Steinzeitliberalismus“) nannte.

In der Mont-Pèlerin-Society, einer jährlichen Zusammenkunft der wichtigsten Ökonomen der Welt in der Schweiz, lieferte er sich mit Hayek & Anhängern die erregendsten Debatten der Nachkriegszeit. Kein Ökonom der Gegenwart, kein Journalist, der sich bemühen würde, diese kostbare Gedankenflut zu bergen und sich mit ihr auseinanderzusetzen.

Nur Sybille Tönnies, Enkelin des berühmten Soziologen Ferdinand Tönnies, setzte sich dafür ein, die Gedanken Rüstows der Öffentlichkeit zu vermitteln. Im Nachwort zu Rüstows kleiner Schrift „Die Religion der Marktwirtschaft“ schreibt sie:

„Rüstow war von Hause aus kein Ökonom, sondern Altphilologe. Seine geistige Heimat war die griechische Antike. Seine Beschäftigung mit dem Griechentum hat Rüstow mit einer Freiheitsliebe ausgestattet, die dazu führte, dass er sein ganzes Werk der Darstellung des Kampfes zwischen Freiheit und (wie er es nannte) Überlagerung widmete. Die Überwucherung der Wirtschaft und letztlich des Staates durch die Monopole und Oligopole war für Rüstow nur die in unserer Zeit aktuelle Form jahrtausendealter Überlagerung. Wenn man sich von Rüstows Aufklärungsgedanken anstecken lässt, erfasst man den heutigen Zeitgeist in seiner Passivität, Lethargie und Fauligkeit. Rüstow fühlte sich Kant und Lessing verpflichtet. Für ihn hatte Lessing die deutsche Erbkrankheit chaotischer Dumpfheit und brütender Formlosigkeit restlos überwunden. Nie seit dem griechischen Altertum ist ein Geist der Welt mit größerer männlicher Sicherheit, freier Heiterkeit und Klarheit, streitbarer Versöhnlichkeit gegenübergetreten; dazu eine unerschöpfliche Vitalität und geistige Sprungbereitschaft. Mit diesen Eigenschaften war auch Rüstow ausgestattet.“

Doch sein Schicksal war bereits entschieden, als mit Adenauers CDU der Christengeist – eben noch einer der glühendsten Anhänger der Nationalsozialismus – die junge Demokratie zu beherrschen begann. Das gilt bis zum heutigen Tag. Wer mit der Kanzlerin und ihrer Schreibergarde nicht mitbetet, wird an der Biegung des Flusses begraben.

Die Fauligkeit der Verhältnisse in der Coronakrise führt zu immer schärferen Entmündigungen. Den geistig entleerten Oberschichten fällt nichts anderes ein, als die Fußfesseln der Unterschichten immer enger zu ziehen. Aus Angst vor Machtverlust spielen sie drohende Unheilspropheten.

Verglichen mit Rüstows humaner Ökonomie sind Habecks jüngste Äußerungen zum Kapitalismus von erschreckender Dürftigkeit:

»Der Kapitalismus hat uns unfassbare Erfolge beschert.« Dann aber auch gleich einschränken: »Die ökologischen Kosten unserer Wirtschaftsweise, des ungezügelten Mehr, Besser, Neuer, sind längst nicht mehr tragbar.« (SPIEGEL.de)

Der Kapitalismus hat uns das Gegenteil von unfassbaren Erfolgen beschert. Sonst wären wir heute nicht mit der Klimagefahr konfrontiert. Er hat auch keine Völker der Armut entrissen. Wer sich von den Produkten einer unausgebeuteten Natur ernähren kann, lebt ohne Luxus und Fortschritt, aber stabil und sicher im Einklang mit der Natur. Selbstgeschaffene Klimagefahren muss er nicht fürchten. Wenn Völker sich ausgesaugt fühlen, liegt das nicht an der Natur, sondern an den Despoten, die sie aussaugten, ins Elend stürzten, jedes Menschenrecht versagten.

Der Kapitalismus war nicht von Anfang an seine eigene Perversion. Er war eine Wirtschaftsform im Geist der neuen Freiheit der Polis, die, neugierig auf die Welt, den Handel mit anderen Völkern begann. Das war eher ein kultureller als wirtschaftlicher Akt, der erst allmählich seine Überlegenheit durch internationalen Handel und überragende Profite entdeckte.

Es war Freiheit in ihrer machtgeleiteten, wachsenden Gier, die ihren Kampf gegen Gleichheit und Freiheit begann und sich aus ursprünglich kosmopolitischen Beziehungen in monströse Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse verwandelte. Wirtschaftliche Tätigkeit, die ursprüngliche Neugierde auf andere Völker, das harmlose Bedürfnis, mit anderen zu tauschen, um beiden Seiten fair zu dienen, wurde zum blutsaugenden Koloss, der die Geschicke des Westens, schließlich der ganzen Welt, bis zum heutigen Tage bestimmt, die Natur verwüstet und die Menschheit an den Rand des Ruins brachte.

Aber in Athen blieb das nicht ohne intensive Gegenwehr einer selbstbewussten, auf Gerechtigkeit achtenden Gemeinschaft. Der humane Fortschritt des Urkapitalismus beruhte nicht auf Gier nach Luxus und Macht, sondern auf dem elementaren Bedürfnis, die Botschaft vom freien Menschen in die Welt der Pharaonen, Könige und Tyrannen zu senden.

Erst als weltkundige Händler ihren beginnenden Reichtum als Zuwachs ihrer politischen Macht erlebten, war‘s um den Geist des ursprünglichen Kapitalismus geschehen. Anstatt andere Völker als Zugewinn an Erfahrungen zu erleben, reduzierten sich ökonomische Vorgänge immer mehr auf Ausbeutung abhängiger Arbeiter und Übervorteilung fremder Handelspartner. Die winzige Polis Athen war den Gefahren internationaler Machtzusammenballungen nicht mehr gewachsen. Es war der Hellenismus, vor allem das riesige römische Weltreich, das den Kapitalismus zur obszönsten Wirtschaftsform aller Zeiten entarten ließ. Wirtschaftliche Freiheit, in der Polis noch durch Moral und Gesetz gebändigt, wucherte außerhalb der Polis ungebremst und unkontrollierbar zur Zerstörerin der Demokratie, in der sie das Licht der Welt erblickt hatte.

Der gegenwärtige Neoliberalismus ist ein aufklärungs- und naturfeindlicher Despotismus der Reichen und Tüchtigen, der keinen einzigen Tag länger geduldet werden dürfte. Aus Gründen der Gerechtigkeit, der Verträglichkeit mit der Natur, der Machtbalance der Schichten, in der alle Demokraten gleiche Rechte genießen. Neoliberale Demokratie, ein Widerspruch in sich, muss heute ad acta gelegt werden.

Wir müssen neu beginnen, hier ist Habeck recht zu geben. Doch wo das Neue ist, dazu fällt dem Grünen nichts ein. Das Neue ist das Älteste, die Freiheit der Griechen, Wirtschaft und Handel als geistige und kulturelle Bereicherung zu erleben, die allen Beteiligten gleichmäßig zugutekam und nicht als mammonistische Bereicherung für wenige, auf Kosten vieler Abhängiger.

Als die Klassiker von den Griechen schwärmten, waren sie lediglich von der Schönheit ihrer Kunst und ihrer befremdlich-anziehenden Mythen beeindruckt.

Schwestern und Brüder: wenn wir heute nach Hellas schauen, sollten wir vor allem den Geist der Menschlichkeit in Politik, Wirtschaft und Kunst zu ergründen suchen.

„In der isonomen Demokratie der griechischen Polis gibt es, zum ersten Mal seit der Überlagerung in den Hochkulturen, wieder Freiheit, und zwar in einem Maße, wie es seitdem nie wieder verwirklicht wurde. Auch die Gleichheit vor dem Gesetz, die verfassungsrechtliche Gleichberechtigung aller Bürger, die in der Neuzeit erst wieder durch die Französische Revolution blutig erkämpft werden musste, wurde damals zum ersten Mal in der Geschichte der Hochkulturen erreicht. Darüber hinaus war die Freiheit des Denkens durch keinen theologischen Dogmatismus, die Freiheit des Handelns durch keine sozialen Fesseln eingeschränkt. Und dies nicht durch anarchische Zügellosigkeit, sondern im Rahmen einer denkbar starken und lebendigen Gemeinschaftsverbundenheit.“ (Rüstow)

Fortsetzung folgt.