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Alles hat keine Zeit LXXII

Tagesmail vom 29.01.2021

Alles hat keine Zeit LXXII,

„Seht doch auf eure Berufung, Brüder und Schwestern! Da sind nicht viele Weise im irdischen Sinn, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme, sondern das Törichte in der Welt hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und das Schwache in der Welt hat Gott erwählt, um das Starke zuschanden zu machen. Und das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt: das, was nichts ist, um das, was etwas ist, zu vernichten, damit kein Mensch sich rühmen kann vor Gott.“

Der Westen nennt sich christlich. Im Christentum hätte es keine Selbstdenker (Weise), Vornehme und Mächtige geben dürfen. Wie konnte es kommen, dass der Westen auf seine Weltüberlegenheit, seinen Fortschritt in Macht und sein überlegenes Wissen so stolz ist?

Trump und Merkel – zwei Törichte, Niedrige und Verachtete? Zwei Nichtse, die Gott als Werkzeuge benutzt, um „das, was ist, zu vernichten“? Denn vor Gott darf niemand mit seinen Fähigkeiten brillieren.

„Denn nicht der ist bewährt, der sich selbst empfiehlt, sondern der, den Gott empfiehlt.“

Warum bezeichnen die Psychoanalytiker – die das Revier der Politik noch immer nicht entdeckt haben, sondern mit merkwürdig politfreien Kunstbegriffen hantieren – den Ex-Präsidenten Trump als eitlen Fratz, als Narzissten?

Weil sie den christlichen Urgrund ihrer Ideologie nicht zur Kenntnis nehmen. Eitle gibt es zuhauf: diese triviale Selbstgefälligkeit sollte das Alleinstellungsmerkmal eines demokratie-zerrüttenden Gauklers sein – der sich für allmächtig hielt?

Das Christentum, die Gemeinde der Schwachen, Törichten und Verachteten, hat die Welt der Starken und Mächtigen überwältigt? Sind sie selbst zu Vornehmen und Gewaltigen geworden – haben sie die Starken zu Nichtsen degradiert? Wenn ja, wären sie gar nicht so schwach gewesen, sondern taten nur, als ob?

War das nur eine raffinierte Tarnung, um die Welt in die Irre zu führen? Ist Christentum eine göttlich beglaubigte Welttäuschung?

„Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, auf dass ich möglichst viele gewinne. Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen unter dem Gesetz bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, damit ich die unter dem Gesetz gewinne. Denen ohne Gesetz bin ich wie einer ohne Gesetz geworden – obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin im Gesetz vor Christus –, damit ich die ohne Gesetz gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne.“

Dann wäre die christliche Botschaft die raffinierteste Täuschung der Geschichte. Die weise und mächtige Welt wäre zu hirnlos gewesen, um die Maskeraden des Heiligen zu durchschauen?

In der gegenwärtigen Weltkrise kommen alle Fehler der Menschheit, die sie je begangen hat, über ihr eigenes Haupt. Wie sie unter ihrem materiellen Abfall erstickt, erstickt sie zugleich unter dem Müll ihrer nichtswürdigen Gewaltphantasien. Abfall ist das sündige Produkt der Loslösung von Gott. Der Protest gegen Gott flutet die Welt bis in die Tiefen des Ozeans.

„Der Abfall vom Absolutenwar für Schelling die Ursünde des Menschen.

„Wenn z.B. die Natur es schafft, keinen Abfall bei ihren Prozessen zu produzieren, sondern alles 100% wiederzuverwerten, dann sollte das der Mensch erst recht können und umsetzen.“ (Hegel)

Bis jetzt scheint der Mensch unfähig, das Niveau der abfallfreien Natur zu erreichen. Die Qualität der Natur ist ihm zu utopisch. Weshalb seine Abfallmassen die Erde ersticken müssen, als Strafe für seine Unfähigkeit, der Natur ähnlich zu werden.

Aus Rache für seine unkorrigierbare Unterlegenheit unter die Natur, muss er ihren Gesetzen gehorchen, um sie – wiederum mit der List der Minderwertigkeit – in die Knie zu zwingen. Francis Bacon hat verstanden, wie man die Macht der Welt und der Natur bezwingt: indem man tut, als gehorche man ihren Gesetzen.

Hat Nietzsche die christliche Umwertung aller heidnischen Werte verstanden – die er erneut umwerten wollte, um die „Unschuld“ amoralischer Menschentyrannei zurückzugewinnen?

„Die ritterlich-aristokratischen Werthurtheile haben zu ihrer Voraussetzung eine mächtige Leiblichkeit, eine blühende, reiche, selbst überschäumende Gesundheit, sammt dem, was deren Erhaltung bedingt, Krieg, Abenteuer, Jagd, Tanz, Kampfspiele und Alles überhaupt, was starkes, freies, frohgemuthes Handeln in sich schliesst. Die priesterlich-vornehme Werthungs-Weise hat — wir sahen es — andere Voraussetzungen: schlimm genug für sie, wenn es sich um Krieg handelt! Die Priester sind, wie bekannt, die bösesten Feinde — weshalb doch? Weil sie die ohnmächtigsten sind. Aus der Ohnmacht wächst bei ihnen der Hass in’s Ungeheure und Unheimliche, in’s Geistigste und Giftigste. Die ganz grossen Hasser in der Weltgeschichte sind immer Priester gewesen, auch die geistreichsten Hasser: — gegen den Geist der priesterlichen Rache kommt überhaupt aller übrige Geist kaum in Betracht. Die menschliche Geschichte wäre eine gar zu dumme Sache ohne den Geist, der von den Ohnmächtigen her in sie gekommen ist: — nehmen wir sofort das grösste Beispiel. Alles, was auf Erden gegen „die Vornehmen“, „die Gewaltigen“, „die Herren“, „die Machthaber“ gethan worden ist, ist nicht der Rede werth im Vergleich mit dem, was die Juden gegen sie gethan haben: die Juden, jenes priesterliche Volk, das sich an seinen Feinden und Überwältigern zuletzt nur durch eine radikale Umwerthung von deren Werthen, also durch einen Akt der geistigsten Rache Genugthuung zu schaffen wusste.“

Waren es Juden – oder Christen, die der Welt der Vornehmen und Gewaltigen ihre konträren Gesetze entgegensetzten? Gesetzt, es wären Juden gewesen, die die christliche Raffinesse gegen die Welt der Gojim erfanden: wäre Nietzsche mit seiner Analyse ein objektiver Judenkritiker gewesen – oder ein typisch deutscher Antisemit?

Diese Unterscheidung wird heute ebenso wenig gemacht, wie die zwischen objektiver Israelkritik und verkapptem Antisemitismus, der im Gewand rationaler Kritik daherkommt. Wenn jede Kritik an der alttestamentlichen Religion identisch wäre mit Antisemitismus, könnte es keine legitime Religionskritik am Alten Testament geben. Was wiederum bedeuten würde, alle nichtgläubigen Juden müssten Antisemiten sein, denn ohne Kritik an ihrem Glauben wären sie von ihm nicht abgefallen. Dann aber wären Juden nicht gleich Juden. Man müsste gläubige Juden von nichtgläubigen unterscheiden.

Nietzsches Umwertung aller Werte ist eine Umwertung zweiter Potenz: mit seinerUmwertung will er zurück in die Welt der primären Werte – die angeblich keine Moral kannten. Hier führt ihn sein Hass gegen Sokrates in die Irre.

Die griechische Moral bestand aus zwei antagonistischen Moralen: dem Naturrecht der Starken, die alles erlaubte, was dem Erhalt ihrer Macht diente – und dem Naturrecht der Schwachen, die die Regeln der Humanität erfanden und das in der Devise gipfelte: besser Unrecht erleiden als Unrecht tun. Bei dieser Moral der Schwachköpfe und Feiglinge krümmen sich die heutigen Amoralisten und Machiavellisten vor zynischem Gelächter.

„Am Beispiel des Sokrates, den er als kranken Niedergangs-Typen charakterisiert, vertieft sich Nietzsche in die Probleme der Dekadenz. Nietzsche unterscheidet eine „gesunde“ von einer „widernatürlichen“ Moral. Jede gesunde Moral sei von einem „Instinkt des Lebens beherrscht“, während die widernatürliche, „das heisst fast jede Moral, die bisher gelehrt …worden ist“, sich gegen die „Instinkte des Lebens“ wende und diese, „bald heimlich, bald laut“ verurteile.“

Nietzsche wirft Sokrates lebensfeindliche Moral vor. Nur Dekadente wichen dem tapferen Heroismus aus, die machtbewussten Instinkte des Menschen mit gutem Gewissen auszubilden und der Welt die kühne Frage zu stellen: Wer nimmt es auf mit mir, meinen Gefolgsleuten, meinem Staat?

 Nietzsche hat die Umwertung der christlichen Werte nur oberflächlich erfasst. Er übersah die instrumentelle Paradoxie:

„Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.“

Auch der Erlöser muss leiden und sterben, um als Besieger des Todes ins Leben zurückzukehren und zum Allherrscher des Universums aufzusteigen. Gottes Omnipotenz zeigt sich in seiner Souveränität, die Gesetze der Welt mit scheinbaren Gegensätzen ad absurdum zu führen. Scheinbar deshalb, weil er den Seinen tatsächlich den Endsieg verheißt, wenn sie sich scheinbar irdischen Machthabern beugen. Das Finale der Geschichte ist die Wiederherstellung der wirklichen Überlegenheit Gottes und der Seinen über alle seine Feinde auf Erden: denn mein ist die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Das Wort Dekadenz ist heute tabu. Ist die globale Krise ein Zeichen der Dekadenz?

Dekadenz ist ein ursprünglich geschichtsphilosophischer Begriff, mit dem Veränderungen in Gesellschaften und Kulturen als Verfall, Niedergang beziehungsweise Verkommenheit gedeutet und kritisiert wurden.“

Leben wir in dekadenten Zeiten? Was wären die Ursachen des Verfalls? Sind alle Hochkulturen – wie die der Antike – zum Niedergang verurteilt? Ist das ein unabänderliches biologisches Gesetz der Evolution?

Zu den Pessimisten unter den deutschen Geschichtsdenkern gehörte Oswald Spengler, Autor des äußerst erfolgreichen Buches „Der Untergang des Abendlandes“. Kulturen seien wie Pflanzen, sie blühen auf, zeigen sich in ihrer vollen Pracht, um unwiederbringlich abzusterben. Aus der Sicht Spenglers ist der Mensch ein bloß biologisches Wesen, das den Gesetzen der Natur folgen muss.

Und doch irrt er. In der Natur gibt es nur Kreisläufe. Pflanzen, die vergehen, kommen immer wieder. Nicht immer in identischer Weise, aber immer als Zeichen der zirkulär unendlichen Lebenskraft der Natur. Spenglers Geschichtsphilosophie ist ein biologisches Einsprengsel im Kontext einer linearen Heilsgeschichte.

Die Nationalsozialisten übersetzten Dekadenz mit Entartung.

„Als Ursache für eine „Dekadenz/Entartung“ wurde häufig eine vorgebliche rassische Fremdheit und damit Minderwertigkeit der Vertreter bzw. Schöpfer dieser Vorstellungen und Kunstwerke vorgebracht. Beliebt war es, die westlichen Demokratien als lebensuntüchtig, schwach und dekadent darzustellen. Dieser Dekadenzvorwurf gegen Pluralismus und Demokratie wurde auch von Adolf Hitler in seiner Programmschrift Mein Kampf verwendet.“

Wie Nietzsche und Spengler vertraten die Nationalsozialisten vordergründig einen rein darwinistischen Biologismus. Einen Geist, der die Naturgesetze durch freie Moral hätte prägen können, lehnten sie ab. Geschichte ist nichts anderes als ein unerbittlicher Kampf biologischer Wesen. Gegen Starke haben Schwache keine Chancen. Das gesamte 19. Jahrhundert konnte sich den drohenden Verfall des Westens nicht anders erklären als durch Begriffe einer mechanisch-geistlosen Natur. Da Natur keine Schuld kennt, waren die irrsinnigen Kriege – von Schlafwandler-Kriegen spricht ein moderner Historiker – nichts als moralfreie Naturvorgänge.

Autonomes Denken, Erziehung, Selbsterziehung, geistiger und politischer Wettstreit, Bemühen um Humanität: alles Nonsens.

Auch der Nationalsozialismus war auf den ersten Blick eine rein biologische Ideologie. Doch wer genauer hinschaute, entdeckte die Fesselung der Natur durch eine übernatürliche Heilsgeschichte. Das 1000-jährige Reich, das Dritte Reich des mittelalterlichen Mönches Joachim di Fiore entlarvten die christlichen Grundlagen des Rassismus. Nicht die biologisch Stärksten werden den Wettlauf gewinnen, sondern Gottes Auserwählte, die sich als Sieger der völkermordenden Auseinandersetzungen erweisen werden.

Die aktuelle Regression des Westens zeigt – welch Überraschung – eine Rückkehr zum Biologischen, im folgenden Beispiel Genetik genannt:

„Anstatt zu versuchen, unsere Kinder nach unserem Bild zu formen, können wir ihnen helfen herauszufinden, was sie gern tun und was sie gut können. Mit anderen Worten: Wir können ihnen helfen, zu werden, wer sie sind. Immerhin sind unsere Kinder genetisch zu 50 Prozent so wie wir. Wer Kinder großzieht, hat heutzutage eine anstrengende Aufgabe vor sich. Viele Eltern glauben, sie seien vollständig dafür verantwortlich, wie sich ihr Nachwuchs entwickele: wie gut ihre Kinder in der Schule sind; ob sie glücklich und zufrieden aufwachsen; wie umgänglich und freundlich sie werden. Die gute Nachricht für alle, die unter dieser umfassenden Verantwortlichkeit leiden: Das ist nicht wahr. Wahr ist: Eltern sind zwar unerhört wichtig für das Leben ihrer Kinder. Zugleich aber haben sie auf deren persönliche Entwicklung kaum einen Einfluss. Ich hoffe, dies ist eine befreiende Botschaft. Eine, die Eltern Ängste und Schuldgefühle nimmt, die Erziehungstheorien auslösen können. Ich hoffe, dass ich Eltern von der Illusion befreien kann, dass der zukünftige Erfolg eines Kindes davon abhängt, wie sehr sie es antreiben. Stattdessen sollten sich die Eltern entspannen und das Leben mit ihren Kindern genießen. Ein Teil dieses Vergnügens ist es, zuzusehen, wie Kinder zu dem werden, was sie sind.“ (ZEIT.de)

Alle Erziehungsfragen – ein Haschen nach Wind. Politik als Selbstgestaltung des zoon politicon – eine pure Illusion.

Schuld abgeschafft, Ursachenforschung abgeschafft, Moral und Politik abgeschafft: je abschüssiger der Weg der Menschheit, je freier wähnt sie sich. Wenn sie schon untergehen muss, dann wie eine unschuldige Schlafwandlerin. Nietzsches Unschuld des Werdens feiert ihren Triumph in der Unschuld des Vergehens.

Dabei ist der Mensch, aus Sicht des Genetikers, nur zu 50% festgelegt. Was ist mit der anderen Hälfte?

Richtig ist der Gedanke, dass moderne Erziehung nicht dem Größenwahn von Silicon Valley verfallen darf, aus Menschen allmächtige Beherrscher des Universums zu machen. Schon gar nicht unsterbliche. Das wäre eine sinnvolle Warnung der Genetik: der Mensch ist ein Wesen, das sich seiner natürlichen Grenzen bewusst sein sollte. Gigantische Algorithmen plustern sich auf als gottähnliche „Erzieher“ der Menschheit. Wer alles von uns weiß, bildet sich ein, uns nach Belieben in Phantasiewesen verwandeln zu können.

Weshalb empfiehlt der Genetiker den Eltern, ihre Kinder zu lieben – wenn Liebe als Erziehungsmittel flach fällt? Sind Kinder, mit Liebe erzogen, von Kindern nicht zu unterscheiden, die ohne Liebe erzogen wurden? War Hitlers Verbrecherkarriere genetisch vorherbestimmt?

Fühlt sich jemand an sokratische Mäeutik erinnert? Sokrates wollte der Lehrer von niemandem gewesen sein, obgleich er daran festhielt, seinem Volk eine lebenslange Bremse im Fleisch zu sein. Menschen könne man nicht von außen indoktrinieren. Jeder Mensch birgt alle Weisheit der Natur in sich. Übernatürliche Weisheiten gibt es nicht. Wie das Kind dem Mutterleib entschlüpft, so die Selbsterkenntnis der autonomen Wahrheitssuche jedes Einzelnen. Lernen ist kein autoritäres Hineinstopfen fremdbestimmter Fakten, sondern Entbinden der eigenen Erkenntnisfähigkeit durch Wiedererinnerung. Die Natur gab jedem Menschen alles, was er zu einem erfüllten Leben benötigt.

Was ist der Unterschied zwischen Genetiker und Sokratiker? Für den Biologen ist der Mensch das Produkt der Natur, das durch eigene geistige Arbeit, Erfahrung und Selbsterkenntnis nicht beeinflusst werden kann.

Für den Sokratiker gibt es kein passives Hinnehmen und Erdulden von Erbanlagen. Zur Natur gehört die Fähigkeit des Menschen, seine angeborenen Eigenschaften zu entfalten, zu läutern und zu prägen – durch seine Denkfähigkeit, welche selbst eine Gabe der Natur ist, aber vom Menschen frei betätigt werden kann.

Der Mensch ist keine Maschine der Natur, sondern in eigener Verantwortung denk- und handlungsfähig. Geistige Natur prägt berechenbare Natur. Geistes-Wissenschaften können nie exakte Natur-Wissenschaften werden. Nur der Logos kann dem Logos begegnen.

Geist ist Natur, die Natur prägt. Von diesem Geist will der Genetiker nichts wissen. Er glaubt, den Menschen zu entlasten, wenn er ihn zum Sklaven seines genetischen Erbes macht. Das ist ein – hoffentlich bewusstseinsloser – Rückfall in den Rassismus des 19. Jahrhunderts, der sich im Dritten Reich zum Alptraum der Menschheit entwickelte.

Der Westen besteht aus zwei kontradiktorischen Kulturen, die sich ineinander verkeilt haben, obwohl sie sich gegenseitig das Blut aussaugen.

Die erste Welt besteht aus dem Reich der Vernunft, der selbstbestimmten Erkenntnisfähigkeit und autonomen Ethik, die zweite ist das absolute Gegenteil, in welcher der Glauben an die Stelle der Vernunft tritt, an die Stelle des Erkennens die blinde Übernahme einer Offenbarung, an die Stelle eines selbstbestimmten Verhaltens der Gehorsam gegen göttliche Gesetze.

„Zu derselben Stunde frohlockte Jesus im Geist und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, daß du dies den Weisen und Klugen verborgen und es den Unmündigen geoffenbart hast. Ja, Vater, denn so ist es wohlgefällig gewesen vor dir.“

„In jener Zeit sprach Jesus: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du das vor den Weisen und Klugen verborgen und es den Unmündigen offenbart hast.“

Hier wurden die Weichen gestellt. Entweder irdische Selbstbestimmung – oder himmlische Fremdbestimmung.

Nur wenige deutsche Historiker haben diese Weichenstellung, dieses Entweder-Oder erkannt. Nichts Verhassteres gibt es unter christlichen Zeitgenossen als das christliche Entweder-Oder. Dennoch ist das Entweder-Oder das Zentrum der christlichen Kriegserklärung gegen die Welt.

„Niemand kann zween Herren dienen, entweder wird er den einen hassen und den andern lieben oder er wird dem einen anhangen und den anderen verachten“.

Hegel hat beide Elemente mit Zwang verkettet. Was er Dialektik nannte, wird heute Kompromiss genannt. Das Allheilmittel des Kompromisses ist kein praktisches Übereinkommen, sondern ein Verrat der Wahrheitssuche. Die verschiedenen Positionen der Parteien werden solange platt gemacht, eingeebnet und klein geschreddert, bis alles mit allem bis zur Unkenntlichkeit ineinander verfließt.

Zu den wenigen Ausnahmehistorikern gehört Eduard Meyer (1855 bis 1930). Seinen Kollegen schrieb er ins Stammbuch:

„Mit ängstlicher Scheu gehen alle Historiker dem Christentum aus dem Weg. (Das gilt bis heute). Die Ursprünge der Religion nehmen sie nicht zur Kenntnis.“

Für Meyer sind die zitierten Stellen des Neuen Testaments von grundsätzlicher Bedeutung. Ohne sie kann die Entwicklung des Abendlandes nicht verstanden werden. Die beiden Stellen enthielten eine treffliche Charakterisierung des Christentums und der Umwälzung der Welt, die die Frohe Botschaft gebracht hatte.

„An Stelle der Herrschaft des Intellekts und der geschulten Erkenntnis des Verstandes, die in den philosophischen Systemen ihren vollendeten Ausdruck findet …, treten die Kräfte des Gemütslebens, die Sehnsucht nach Erlösung und Befriedung, nach unmittelbarer Verbindung mit der übernatürlichen Gotteswelt. In der ahnenden Erfassung der Gottheit und der dadurch gewonnenen mystischen Erkenntnis findet sie ihre Befriedigung. Trotz ihrer Verworrenheit vermag sie innere Gewissheit zu schaffen, Zweifel überwinden und den Verstand ruhig zu stellen. Der Gegensatz zwischen heidnischer Vernunft und christlichem Glauben kommt hier in seiner ganzen Schroffheit zutage. Vergeblich suchten die Begründer der christlichen Wissenschaft diesen Gegensatz zu überbrücken oder zu leugnen.“ (E. Meyer)

In den Zeiten Augustins und Tertullians war die Unvereinbarkeit von Athen und Jerusalem noch unbestritten.

„Gottes Sohn ist gekreuzigt worden: ich schäme mich dessen nicht, gerade weil es etwas Beschämendes ist. Gottes Sohn ist gestorben: es ist ganz glaubhaft, weil es ungereimt ist (und sich nicht begreifen lässt); er ist begraben und wieder auferstanden: das ist ganz sicher, weil es unmöglich ist.“ (Tertullian)

Hier hatte sich das Christentum wider alle Realität und Vernunft in trotziger Verstocktheit durchgesetzt. Glauben ist, was der Welt und ihrer Vernunft ins Gesicht schlägt. Ich glaube, weil es absurd ist. Weil, nicht obwohl.

Das scholastische Mittelalter, schon von Aristoteles beeinflusst, ertrug diese Unüberbrückbarkeit nicht mehr. Der erste grundlegende Kompromiss musste geschlossen werden. Er wurde zum faulen Kompromiss der ganzen abendländischen Geschichte bis zum heutigen Tag.

Credo, ut intelligam: ich glaube, damit ich erkenne.

Das credo hat sich heute grenzenlos erweitert: der christliche Westen glaubt, damit er die Welt erobern, die Natur vernichten und der Menschheit trügerischen Trost spenden kann. Christliche Parteien entstanden und übernahmen die Führung in Europa. Heute gibt es von links bis rechts keine Partei mehr, die es wagen würde, den GROKO-Kompromiss zwischen Glauben und Weltbeherrschen zu dementieren.

Sie glauben, damit sie gottähnlich werden.

Fortsetzung folgt.