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Alles hat keine Zeit LXXIII

Tagesmail vom 01.02.2021

Alles hat keine Zeit LXXIII,

Antje Vollmer fordert einen Neubeginn. Hieße das nicht, Eulen nach Athen tragen? Rühmt sich die Moderne nicht, dem Neuen ununterbrochen auf der Spur zu sein? Modern ist, was neu ist? Trägt die Moderne – „neu, neuzeitlich, gegenwärtig, heutig“ – ihre Abneigung, ja, ihren Hass gegen das Alte nicht bereits in ihrem Begriff?

„Wenn die westlichen Demokratien nicht dauerhaft verlieren wollen, müssen sie endlich ihre Lage begreifen und über Fehlentwicklungen der letzten 30 Jahre diskutieren. Sie müssen sich von der geliebten Annahme der selbstverständlichen, unbestreitbaren Überlegenheit ihres Systems in Form und Inhalt verabschieden. Sie müssen ganz neu anfangen, ihre eigenen Feindbilder und Hysterien zu bekämpfen, die längst einen neuen Kalten Krieg vorbereiten. Sie müssen wieder lernen, diplomatische Kompromisse zu schließen: mit China, mit Russland, mit dem Iran, mit Griechenland, Polen und Ungarn. Sie müssen alles auf die Karte der Uno setzen. Sie müssen endlich den internationalen Konzernen, Banken und Hedgefonds, Google und Amazon, Steuern und Regeln verordnen, sie dürfen vor US-Sanktionen nicht länger kuschen. Sie müssen die Rüstungsausgaben begrenzen und umgehend mit einer weltweiten Entspannungspolitik ernst machen. Sie müssen sich neu als Demokratie erfinden.“ (Berliner-Zeitung.de)

Seit dem Streit zwischen den Alten und Neuen (Ende des 17. Jahrhunderts) wurde das Neue zum Alten, das unter dem falschen Begriff Fortschritt seinen Kurs des Immergleichen ins Grenzenlose fortführen will. Das Neue wurde zum Alten und Verhärteten, das keine Selbstkritik zulässt.

Nein, Demokratie muss nicht neu erfunden werden. Das wirklich Neue wäre, das Alte aus der Verbannung zu befreien und unter globalen Bedingungen neu zu beleben.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit taugen die alten Eliten nicht zu dieser Wiederbelebung des Alten. Zu festgefahren und versteinert, benutzen sie ihre Wiederholungszwänge nur, um die ganze Menschheit zu gefährden.

Die Führungsschichten sind zur machtgierigen Weltsekte geworden, die niemanden in ihren Reihen duldet, der sie zur Umkehr bewegen wollte. In vehementer Beschleunigung, die keine Warnung mehr zulässt, rasen sie über Stock und Stein, Natur und Mensch, einer Zukunft entgegen, die sie als unbekannte Wahrheit anbeten. Von dieser Zukunft wissen sie nichts – außer, dass sie die Erfüllung ihrer Allmachtswünsche sein soll.

Die Natur haben sie in einen unfehlbaren Rechenautomaten, den Menschen in eine leblose Maschine verwandelt, die nichts anderes kann, als den Befehlen des Automaten zu gehorchen.

Wieder ist es ein Dualismus aus beiden Urkulturen, der die Fähigkeiten zur Unterjochung des Planeten entwarf.

Auf der einen Seite die Entdeckung des Pythagoras, dass Natur berechenbar ist, weil ihr System aus Zahlen besteht.

Auf der anderen Seite der göttliche Befehl: macht euch die Erde untertan.

Die Erforschung der Zahlen wurde in den Dienst der Naturbeherrschung gestellt, nein, nicht der Beherrschung, sondern der Verwüstung der Natur.

Rationale Erkenntnis der einen Seite wurde zum Instrument religiöser Zerstörung der anderen. Erkennen um des Erkennens willen wurde zum Instrument bedenkenloser Machtausübung. Erkennen und Wissen, die der Bewunderung der Natur hätten dienen sollen, wurden Werkzeuge ihrer Verachtung. Natur wurde zum Alten, das durch himmlische Eingriffe dem Verderben übergeben wurde. Das Neue wurde zur Folterung und Ausschaltung des Alten.

So wurde der Fortschritt definiert. Das Alte muss getötet werden, um dem Neuen Platz zu machen. Das Neue darf dem bewährten Alten nicht kooperativ hinzugesellt werden, um beide zu versöhnen. Es muss ein Riss durch die „Schöpfung“ gehen. Natur ist keine Schöpfung, sie ist ihre eigene Erschafferin. Sie braucht keinen vor Grandiosität überschwappenden Übermann, der sie aus Nichts ins Sein zaubern könnte.

Pythagoras war Entdecker der mathematisch begründeten, rationalen Natur. Eine Entdeckung, die die Geschichte der Menschheit grundlegend verändern sollte. Natur war dem Menschen erkennbar und absolut verlässlich durch mathematische Erkenntnisse.

Die Epochen der Bewunderung und Angst vor der Natur verwandelten sich – beeinflusst durch den Schöpfungsglauben – in Verachtung und Herrschsucht. Der Glaube an eine ewige Natur wurde beendet. An seine Stelle trat der fremdgesteuerte Glaube an eine Natur, die eines unbestimmten Tages in jenem Nichts verschwinden wird, aus dem sie gekommen war. Im Auftrag seines Gottes erhob sich der Mensch zum Herrn der Natur.

Die Pythagoreer begründeten die neue Auffassung der Natur als reine Vernunft. So beschrieb der Physiker Erwin Schrödinger in seinem Buch „Die Natur und die Griechen“ die geniale Entdeckung der Griechen in Unteritalien. Ihre Grunddoktrin soll gewesen sein: „Dinge sind Zahlen.“ Die Unterteilung musikalischer Saiten im Verhältnis kleiner ganzer Zahlen erbrachte musikalische Intervalle, die „zur Harmonie eines Liedes komponiert, die Menschen zu Tränen rühren konnten. Sie sprachen unmittelbar zur Seele.“

Nicht nur materielle Dinge wurden zu Zahlen, allmählich kamen nicht-materielle Dinge wie Seele, Gerechtigkeit hinzu, die durch Zahlen symbolisiert werden konnten. Quadratzahlen etwa hatten mit Gerechtigkeit zu tun. Je bedeutungsvoller die Zahl, je mehr wurde sie zur Chiffre menschlicher Ideen.

„Das abstrakte Gebilde oder die mathematische Formel bringen plötzlich Ordnung in ein Gebiet, für das sie gar nicht bestimmt waren, woran man ursprünglich gar nicht dachte. Mathematik schien plötzlich allem zugrunde zu liegen, da der Mensch sie plötzlich und unerwartet ohne sein Zutun antraf.“

Warum kam es gerade im griechischen Unteritalien zu dieser weltbedeutenden Entdeckung? „Diese Gemeinwesen standen nicht unter dem Joch einer organisierten Kirche. Hier gab es nicht, wie in Babylonien und Ägypten, eine erbliche privilegierte Priesterkaste, die, wenn sie nicht selbst herrscht, doch die Regierenden beim Bekämpfen neuer Ideen unterstützt.“ (ebenda)

Auf diese Entdeckung antwortete der Monotheismus in Hiob mit dem Glauben an den allmächtigen Gott, dessen Macht unergründlich und durch keine Zahl darstellbar sei:

„Gott ist weise und mächtig; wer stellte sich ihm entgegen und blieb unversehrt? Er versetzt Berge, ehe sie es innewerden; er stürzt sie um in seinem Zorn. Er bewegt die Erde von ihrem Ort, dass ihre Pfeiler zittern. Er spricht zur Sonne, so geht sie nicht auf, und versiegelt die Sterne. Er allein breitet den Himmel aus und geht auf den Wogen des Meers. Er tut große Dinge, die nicht zu erforschen, und Wunder, die nicht zu zählen sind. Siehe, er geht an mir vorüber, ohne dass ich’s gewahr werde, und wandelt vorbei, ohne dass ich’s merke. Siehe, wenn er wegrafft, wer will ihm wehren? Wer will zu ihm sagen: Was machst du?“

Das war eine rabiate Kampfansage. Wie konnte es dennoch zur Fusion der inkompatiblen Weltanschauungen kommen?

Im Mittelalter begannen Pythagoras und der Glauben an die Allmacht Gottes ineinander zu fließen. Eine erste Synthese formulierte Francis Bacon mit seiner Formel: Wissen ist Macht. Wissen wurde der Erkenntnis um ihrer selbst willen entfremdet und in Macht verwandelt. Ein Gedanke, den die Griechen verworfen hätten. Platon lehnte alles Experimentieren in der Natur ab, denn dies hätte zur Degradierung der Natur geführt.

Indem Erkennen zum Wissen und Wissen zur Macht wurde, erhob sich der Mensch zum Stellvertreter Gottes auf Erden. Doch seine Macht konnte er nur zur zeitlich begrenzten Herrschaft über die Natur ausbauen. Das apokalyptische Ende der Natur und ihre vorlaufende Destruktion standen fest. Mit seiner Macht wurde der Mensch zur Marionette Gottes, unfähig, sich eine auf Wertschätzung beruhende Beziehung zur Natur zu erarbeiten. Der Mensch wurde zum Guillotinisten der Natur im Auftrag Gottes. Wohl besaß der Mensch Macht über die Natur, aber nur die Macht, die Natur planmäßig zu zerstören.

„Der große Gedanke, der diese Männer beseelte, war, dass die Welt, die sie umgab, verstanden werden kann, wenn man sich nur die Mühe gab, sie richtig zu beobachten, dass sie nicht der Tummelplatz von Göttern, Geistern und Dämonen ist, die nach momentaner Laune mehr oder weniger handeln und von Leidenschaften, Zorn, Liebe und Rachsucht angetrieben, ihrem Hass freien Lauf lassen, aber durch fromme Opfergaben gnädig gestimmt werden können. Sie betrachten die Welt als einen recht komplizierten Mechanismus, der nach ewigen, ihm innewohnenden Gesetzen abläuft, welche sie begierig waren aufzufinden. Das ist die Grundeinstellung der Naturwissenschaft bis auf den heutigen Tag. Der Antrieb ist Neugierde. Das erste Erfordernis für den Naturforscher ist, dass er neugierig sei. Er muss fähig sein, sich zu wundern und versessen zu sein aufs Erkennen und Herausfinden. Babylonier und Assyrer wussten freilich eine Menge über die Gesetzmäßigkeiten der Gestirne. Aber sie sahen das als religiöse Geheimnisse an und waren weit davon entfernt, nach natürlichen Erklärungen zu suchen.“ (ebenda)

Diese Sätze erklären nicht nur die spätere Faszination der Welt für die mathematischen Naturwissenschaften, sondern sind nebenbei auch eine vernichtende Kritik heutiger Schulen und Universitäten, die von den Früchten eines Geistes leben, den sie durch pädagogische Zwangsprogramme vernichten. Zeitlich angeordnete Drillpläne verhindern jedwede spontane Neugierde, jede Fähigkeit zum Staunen, jede Muße, seine Erkenntnisbedürfnisse selbst zu entfalten. Moderne Schulen sind das strikte Verhinderungsprogramm griechischer Neugierde.

Die fatalen Folgen dieser Erkenntnisdrosselung liegen auf der Hand. Moderne Naturwissenschaftler sind keine Philosophen wie ihre antiken Vorläufer, die nicht machtgetrieben einem Programm folgten, sondern umfassend über ihr Tun reflektierten.

Mit welchem Ergebnis?

„In den letzten drei Jahrhunderten vdZ trennten sich Naturphilosophie und Forschung, fast wie in unserer Zeit. Später erlosch das naturwissenschaftliche Interesse, als in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung die Welt sich mehr und mehr ethischen Problemen und metaphysischen Fragen seltsamer Art zuwandte und gegen Naturwissenschaft gleichgültig wurde.“

Hier erliegt Schrödinger einem verhängnisvollen Irrtum, der den Fortschritt der Wissenschaft unlösbar mit dem Fortschritt der Macht verband. Eben dies hatten die hellsichtigen Griechen erkannt, als sie sich von der Naturwissenschaft abgewandt und ethischen Fragen zugewandt hatten. Dem lag die nüchterne Erkenntnis zugrunde: was nützen uns die tollsten Erkenntnisse am Himmel oder in den Tiefen der Natur, wenn wir unfähig sind, unsere Angelegenheiten auf Erden human zu regeln?

Wortführer dieser Erdung der Philosophie in ethischen Fragen, hinweg vom Spekulieren am Himmel, war Sokrates.

„Ich bin nämlich lernbegierig; und die Landschaft und die Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber in der Stadt die Menschen.“

Schrödinger, wie alle modernen Naturwissenschaftler, hielt diese Wendung der griechischen Naturphilosophie für einen Abfall vom ursprünglichen Erstaunen und Erkennen. Er sieht nicht, dass es sich umgekehrt verhält. Indem moderne Naturwissenschaft sich von politisch- moralischen Fragen – die nicht exakt mit mathematischen Formeln beantwortet werden könnten – abwandte, verschrieben sie sich blind dem Wissen-ist-Macht-Prinzip, das nicht mehr die urphilosophische Frage stellen darf: erfahren wir von der Wissenschaft Wesentliches zur Lösung unserer Probleme – oder schweifen wir in jenseitigen Sphären umher, die zwar unsere Macht vergrößern, aber nicht mehr unsere Verhältnisse humanisieren können?

Würden wir in Utopia leben, könnten Wissenschaftler in den Tiefen und Höhen der Natur nach Belieben umher forschen. Das wäre ein niedlicher, aber belangloser Zeitvertreib. Heute aber, wo die Konflikte überkochen, ist es fahrlässig, die Denkenergie an Dinge zu verschwenden, die uns nichts zu sagen haben. Woher kommt die Manier der Wissenschaftsjournalisten, die neuesten Erkenntnisse in weit entfernten Welten als spannend und faszinierend dazustellen, obgleich sie für 99% aller Menschen völlig gleichgültig sind?

Die jetzige Debatte um die Virologie hat klar gezeigt, dass entrückte Coronaexperten nicht unterscheiden können zwischen Laborerkenntnissen und politischen Schlussfolgerungen. Plötzlich erschienen sie im ordinären politischen Raum wie Götterboten, die auf die Erde mussten, obgleich sie Besseres zu tun hätten.

„Virologe Hendrik Streeck wirft der Bundesregierung vor, Experten mit anderen Sichtweisen zu ignorieren. Er und ein weiterer Kollege seien nicht zu Beratungen eingeladen worden, obwohl Politiker das begrüßt hätten. Wenn die Regierung sage, sie folge der Wissenschaft, sei das nicht so einfach. Es gebe zum einen die Daten, aber zum anderen die Interpretation dieser Daten, die bei verschiedenen Wissenschaftler:innen offensichtlich unterschiedlich aussieht. Darauf basierend müsse eine politische Meinung gebildet werden, so Streeck. „Ich sehe da auch die Politik in der Pflicht, nicht nur eine Position zu hören.“ (Frankfurter-Rundschau.de)

Historiker E. Meyer hat die Wendung des Sokrates vom Himmel zur Erde besser erfasst als der politvergessene Naturwissenschaftler:

„Statt seinen Scharfsinn auf jene hohen Dinge zu verschwenden, soll der Mensch seine ganze Kraft den gebieterisch eine Lösung erheischenden Problemen zuwenden, die sein eigenes Wesen ihm stellt.“

Wäre es nicht dringlicher, dass Menschen lernten, ihre hausgemachten Probleme zu lösen? Die Demokratie wäre die richtige Plattform für gemeinsame Erkenntnissuche. Doch hier offenbart sich das ganze menschliche Elend. Jeder hält sich für kompetent und niemand spürt die Notwendigkeit, diese Fähigkeiten durch Dialoge und Streitgespräche erst zu entwickeln.

„Was nützte es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“

Wieder einmal übernahm die Religion eine Erkenntnis der Heiden, um sie für ihr eigenes Seelenheil ins Abseits zu führen. Richtig müsste der Satz heißen: Was nützte es dem Menschen, in den Tiefen des Universums geniale Erkenntnisse zu gewinnen – wenn sein irdisches Leben verloren ginge?

In allen Fällen verhängnisvoller Folgen der Naturwissenschaft spielten Erfinder und Entdecker verträumte Wissenschaftspriester, die sich verwundert und entsetzt die Augen reiben mussten über die ach so verhängnisvollen Folgen ihres Tuns. So die Atomphysiker erst nach Hiroshima und Nagasaki. Intern gab es schon zuvor Differenzen, ob das Bauen einer Atombombe ethisch zu vertreten sei. Doch diese Debatten wurden der Öffentlichkeit vorenthalten. Die Genies blieben unter sich.

Zum Erwachen der Naturwissenschaft kam es erst, als die ökologische Krise nicht mehr zu verdrängen war. In den 60er und 70er Jahren erschienen grundlegenden Werke, die zur Umkehr mahnten. Unter den Verfassern nicht wenige erschütterte Naturwissenschaftler.

Kaum setzten die ersten Gegenprozesse ein – gesteuert von Industriegiganten, die schwere Profiteinbußen befürchteten –, verlor der Aufklärungsprozess der Wissenschaft an Kraft. Als auch die Bewegung der Grünen ihre erste Fundibegeisterung beendete und sich der Machtgewinnung zuwandte, war es um die erste Öko-Leidenschaft geschehen. Die neoliberale Gegenbewegung, von Weltmonopolen in Gang gesetzt, hatte keine Mühe, die Naturschützer als Träumer und Schwärmer vom Feld zu jagen.

Das war bereits das Ende der politischen Naturwissenschaft. Inzwischen sind einige Wissenschaftler wieder aufgewacht. Doch es gelingt ihnen nicht, sich als solidarische Wissenschaft (ähnlich der jugendlichen Bewegung FFF) zu organisieren und penetrant am Ball zu bleiben. Von Virologen ist kaum ein Wörtchen über die Ursache der Pandemie zu hören. Zur Vermeidung neuer Pandemien müsste gefordert werden, dass der Mensch nicht immer weiter in Tiefen der Natur dringen dürfte. Je mehr er der Natur auf den Leib rückt, je energischer könnte sie zurückschlagen.

Von einer Kanzlerin, die vor kurzem dafür gelobt wurde, wie nüchtern und sachlich sie als Physikerin ihre Politik betreibe, hört man zu all diesen Fragen nichts. Vermutlich versteht sie nichts davon, sollte sie doch davon verstehen, scheint sie ihre Untertanen für unfähig zu halten, ihre hehren Komplexitäten zu verstehen.

Die Wissenschaft hat der Natur erstaunliche Erkenntnisse abgelauscht. Doch diese nützlichen Erkenntnisse sind nichts, im Vergleich mit den selbstzerstörerischen Drohungen ihrer Grundlagenerkenntnisse. Ist der Prozess der Wissenschaft ein linearer Erkenntnisprozess? Keineswegs. Zurzeit befindet er sich in der Sackgasse. Die Erkenntnisse einiger Nobelpreisträger an dunklen Löchern sind für die politische Weiterentwicklung so wichtig wie das Wissen der Gläubigen über die Tiefen der Dreieinigkeit.

Freud sprach von drei Kränkungen durch die moderne Wissenschaft. Kopernikus vertrieb uns aus dem Glauben, Mittelpunkt der Welt zu sein, Darwin servierte uns die Kränkung, mit Tieren verwandt zu sein – und er selbst, Freud, mutete uns die Erkenntnis zu, von unbewussten Triebregungen kommandiert zu werden.

Freud irrte. Seine drei Kränkungen waren nur solche für gläubige Biblizisten. Die Griechen hatten nicht das geringste Problem mit einem heliozentrischen System. Einer der ersten Vertreter dieses Systems war der griechische Astronom Aristarch. Vermutlich kannte Kopernikus seinen antiken Vorläufer. Dass der Mensch kein abgesondertes Geistwesen, sondern Teil der Natur ist, war für alle Griechen eine Trivialität – abgesehen von einigen Orphikern und vom späten Platon. Dass der Mensch sich anamnestisch erforschen müsse, um sich selbst zu erkennen: das war das Zentrum der sokratischen Lehre.

Es war die Heilige Schrift, die die Erde in den Mittelpunkt der Schöpfung stellte, den Menschen zum Herrenwesen über Flora und Fauna erhob. Dass er von bösen Trieben gesteuert werde, war für Anhänger der Erbsünde keine neue Erkenntnis.

Der Vorrang der exakten Naturerkenntnis mit Hilfe der Mathematik erbrachte schon bei den Griechen nicht nur Vorteile. War die ganze Natur berechenbar? Was geschah mit jenen Teilen der Natur, die sich der mathematischen Erkenntnis entzogen? Den Farben der Natur, den Sinneseindrücken des Menschen wie Süßigkeit, Bitterkeit?

Von Demokrit ist ein kleiner Wettstreit des Verstandes mit den Sinnen überliefert.

Verstand: „Scheinbar ist Farbe. Scheinbar Süßigkeit, scheinbar Bitterkeit; in Wirklichkeit nur Atome und Leere.“

Es antworten die Sinne: „Du armer Verstand, von uns nimmst du die Beweisstücke und willst uns damit besiegen? Dein Sieg ist dein Fall.“ (zit bei Schrödinger)

Bei Galilei wiederholt sich dasselbe Problem. Bei ihm – und vielen folgenden Philosophen – werden Sinneseindrücke, die nicht berechenbar sind, zu Illusionen erklärt. Die schöne bunte Welt, die ersten Erfahrungen der Kinder, die erholsame Freude der Erwachsenen, wird für null und nichtig erklärt:

„Alle Eigenschaften wie Klang, Geschmack, Geruch, Farbe etc „ruhen nur im Bewusstsein: wenn der lebendige Betrachter nicht vorhanden wäre, wären all diese Erkenntnisse null und nichtig.“ Galilei hoffte, dass eines Tages auch diese „sekundären Eigenschaften“ in messbare Eigenschaften der Materie verwandelt werden könnten.“ (Durant, Kulturgeschichte)

Wen wundert es, dass sich seitdem alle Geisteswissenschaften bemühen, das Unmessbare des Menschen auf statistische Erkenntnisse zu reduzieren? Mit anderen Worten: das unberechenbare Denken des Menschen soll ihm ausgetrieben werden. Mit ihm die politische und moralische Autonomie des Menschen. Denn was man berechnen kann, ist ferngesteuert von einer Natur, die zur bloßen Maschine verfälscht wird.

Wenn Sinneseindrücke als Lug und Trug abgetan werden, wird Naturempathie zur lebensgefährlichen Täuschung. Wen wundert es, wenn der Mensch die illusionäre Natur demontieren will?

Den demokritischen Dialog zwischen Verstand und Sinnen kommentierte Schrödinger mit den Worten:

„Zahlreiche Fragmente dieses großen Denkers könnten typische Stellen aus Kant sein: dass wir nichts erkennen, wie es wirklich ist, dass wir in Wahrheit nichts wissen, dass die Wahrheit in tiefes Dunkel gehüllt ist.“

Wenn Kant Recht hätte mit seinen Thesen, würde das Erschreckendes bedeuten. Je mehr Machtwissen wir anhäufen, desto weniger wissen wir wirklich über der Natur. Was wir zu wissen glauben, sind keine der Natur abgelauschten Erkenntnisse, sondern solche, die wir der Natur großmäulig vorschreiben. Kant spricht von apriorischen Erkenntnissen. Was aber unterscheidet diese autoritären Zuschreibungen von selbstfabrizierten religiösen Märchen? Je mehr die Naturwissenschaften Erkenntnisse zusammentragen, die mit der Welt des Menschen nichts zu tun haben, desto mehr nähern sie sich den Illusionserkenntnissen der Religion.

Naturwissenschaften: auch sie müssen von vorne beginnen. Erneuern wir uns: studieren wir das Alte.

Fortsetzung folgt.