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Alles hat keine Zeit LXIX

Tagesmail vom 22.01.2021

Alles hat keine Zeit LXIX,

Was ist das Gegenteil von Kritik? Kritische Fragen.

Gelegentlich dürfen Medien ihrer Kanzlerin kritische Fragen stellen. Sie feiern es als Höhepunkt des Jahres. Das Ergebnis der Befragung steht von vorneherein fest:

„Auf dieser Sachebene ist Merkel für Deutschland schlicht ein Segen.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Die Fragestunde im Parlament ist von gleicher Qualität.

„Frau Kanzlerin, haben Sie in der Coronakrise nicht vollständig versagt?“

 Nö. Wir sind ja nicht jemand, der ignorant ist.

Wir – ist ein pluralis majestatis. „Der Pluralis Majestatis („Plural der Hoheit“) wird verwendet, um eine Person, z. B. einen Herrscher, als besonders mächtig oder würdig auszuzeichnen. Teilweise bezeichnet sich die Person auch selbst so, indem sie von sich im Plural spricht. Bei Monarchen oder anderen Autoritäten spielt die Vorstellung eine Rolle, dass sie für ihre Untertanen beziehungsweise Untergebenen sprechen bzw. zu sprechen glauben.“

Pro nobis. Sie ist die Königin der Herzen, die für uns alle spricht. Das Volk sollte sein Mäkeln lassen: so nennt sie die Kritik der Ungesegneten und Unkundigen.

Kritische Gespräche, Streitgespräche waren das Salz der Demokratie. Sie bestanden nicht aus einer Frage und einer gesprächstötenden Antwort, sondern aus vielen Argumenten und Gegenargumenten. Die Antworten wurden erneut kritisiert, diese Kritik ihrerseits auseinandergenommen: ein guter Dialog war ein Pingpongspiel trefflicher Gedanken, die sich nichts schenkten. Die geistige Auseinandersetzung durfte von niemandem durch Verweis auf höhere Kompetenz, Zeitknappheit oder dringliche Geschäfte eigenmächtig beendet werden.

Diese Urform der Kritik ist in der deutschen Demokratie verschollen. Sollte der „Wettkampf um die Wahrheit“ aber tatsächlich das wichtigste Element einer Gesellschaft der Freien und Gleichen sein – was folgte daraus für unsere Republik?

Die nervtötenden Frage- und Antwortrituale wurden zum betrügerischen Ersatz für wahrheitssuchende Kritik. Somit zum Vorläufer der fake-news, der Lügen eines schamlosen Präsidenten oder auf dem chaotischen Rummelplatz asozialer Medien.

„Trump ist ein absolut skrupelloser Lügner. Klar, die meisten Politiker lügen oder biegen sich zumindest die Wahrheit zurecht. Aber rein quantitativ lügt Trump wie, glaube ich, keine historische Figur vor ihm. Und er schämt sich kein bisschen dafür. Das gibt ihm einen enormen Wettbewerbsvorteil. Die Präsidentschaft Trumps war das Ergebnis einer Medienwelt, in der sich Fakten auflösen: Sein Aufstieg zeigt, wohin es führt, wenn seriöser Journalismus – gerade auf lokaler Ebene – zugrunde geht und durch soziale Medien ersetzt wird.“ (SPIEGEL.de)

Deutsche Tagesbeobachter fühlen sich ihren amerikanischen Kollegen haushoch überlegen. Ihre Selbstzweifel erstickten sie durch empörte Angriffe gegen jene, die sie Lügenpresse nannten. Nein, mit Absicht und machiavellistischer Dreistigkeit lügen sie noch nicht. Sie glauben an die Objektivität ihres Schreibens-was-ist. Dass sie die Fakten nach Gusto auswählen, diese schlichte Erkenntnis verdrängen sie.

Richtig bemerkt Snyder, dass Trumps Lügen skrupellos und ohne jedes schlechte Gewissen waren. Für deutsche Christentumskenner der Beweis, dass Trump kein wahrer Christ sein kann.

Das ist abwegig. Nicht nur Platon rechtfertigte die Lüge im Dienst des perfekten Staates. Auch Augustin und Thomas von Aquin halten die heilige Lüge (pia fraus) im Dienste Gottes für glaubensnotwendig. Wie Gott Mord und Totschlag genehmigte, um seine Interessen auf Erden durchzusetzen (deus lo volt), so billigte er auch das Lügen. Machiavelli hat Wurzeln im griechischen Naturrecht der Starken – und in der Lehre der Schrift. Die Offenbarung ist keine kategorische Morallehre.

„Bei der Interpretation der Lügengeschichten des Alten Testaments (z. B. Gen 27,1-40; Ex 1,19; Gen 20,2-13) weist Augustinus’ Argumentation Selbstwidersprüche auf, weil er doch einige Lügen als zulässig ansieht. Kluges Verschweigen und zweideutige Rede sind als leichte Sünden, die den Menschen nicht vom wahren Ziel abhalten, zulässig.“

Deutsche lügen nicht gern, weshalb sie sich belügen müssen, wenn sie glauben, die Realität zum Schutz ihrer Obrigkeit nicht wahrheitsgemäß schildern zu dürfen. Da gibt es wohlfeile Ideologien, die das Lügen nicht direkt erlauben, sondern listig durch die Hintertür kommen: in einem Interview des TAGESSPIEGELs hat die vortreffliche Philosophin Susan Neiman die Ursachen der postfaktischen (= faktenlügenden) Gegenwart genannt:

„Als Philosophin glaube ich, dass es eine tiefere philosophische Strömung gibt, die das postfaktische Zeitalter vorbereitet hat. Der Poststrukturalismus ist eine Art Ideologie der Gegenwart geworden: Die Wirklichkeit, so wird von Denkern dieser Strömung behauptet, bestehe nur aus Narrativen, aus verschiedenen Erzählungen, die alle gleichwertig seien. Die eine Wahrheit gebe es nicht. Ich finde das extrem problematisch. Natürlich gibt es immer mehrere Sichtweisen auf ein Ereignis, ich bin aber der Meinung, dass man, wenn man möglichst viele Narrative untersucht und übereinanderlegt, doch ziemlich nahe an die Wahrheit herankommt. Gegen meine Sichtweise gibt es aber eine tiefe Abneigung, auch unter sehr gebildeten Menschen. Rechte christliche Gruppen arbeiten jetzt schon daran, den Sturm auf das Kapitol in den Geschichtsbüchern unterzubringen. Das ist verheerend. Demokratie wird nicht nur von Gesetzen aufrechterhalten, sondern genauso von Normen.“ (TAGESSPIEGEL.de)

Wahrheit ist kein Abbild der Wirklichkeit, sondern eine beliebige Erfindung der Menschen: es gibt nur „subjektive Narrative“. Jeder propagiert seine „Erzählung“, seine „Wahrheit“, wie es ihm in den Kram passt. Etwas Verbindliches und Objektives gibt es nicht. Jeder kann aus jedem Text, aus jeder Realität machen, was er will.

Poststrukturalismus ist eine Variante der Postmoderne. Lyotard, einer seiner Hauptpropagandisten, will eine generelle Vernunftkritik. Postmodernes Wissen ist das Bewusstsein „der unhintergehbaren Pluralität der Wirklichkeit“, die die vernunftgeleitete Autonomie des Menschen für eine Mär hält. Jedes Ich sitzt vollständig isoliert in seiner gegen alle Seiten verriegelten Monade. Während bei Leibniz noch Gott nötig war, um die atomisierten Monaden von oben zu lenken, gibt es in der Postmoderne keine offiziellen Lenker mehr. An ihre Stelle sind Mächte getreten, die die Menschen per Gottähnlichkeits-Gier zu Marionetten degradiert haben. So viele Individuen es gibt, so viele Wahrheiten gibt es.

Noch vor kurzem waren die deutschen Feuilletons durchtränkt vom Ungeist der Postmoderne. Kein Tag verging ohne den Satz: dies lässt sich auch ganz anders lesen. Schriftsteller erklärten ihr neues Buch mit der Demut ihrer unvergleichlichen Subjektivität: ich habe nichts zu bieten als meine Erzählung.

Inzwischen haben sie Abschied genommen von der postmodernen Beliebigkeit, doch noch immer in koketter Scheu vor der „großen Wahrheit“. Was interessiert sie ihr Schnee von gestern? Neue Umstände, neue Zeitgeistmoden. Ihre massenhaften Widersprüche erklären die Politiker mit der flapsigen Bemerkung: neue Umstände, neue Maßnahmen.

In einer Welt der Unübersichtlichkeiten kann es keine Wahrheiten geben, die in rationalen Dialogen erstritten werden könnten. Gibt es aber keine Wahrheit, kann es weder Demokratie, noch Menschenrechte geben, die für alle Menschen verbindlich sein sollten. Die Welt wird zum Chaos.

Nicht nur nebenbei: auch eine objektive Wahrheit der Geschichte ist ausgeschlossen. Der Holocaust? Wird zur subjektiven Erfindung derer, die aus diesem Narrativ ihre Vorteile ziehen. Der gegenwärtige Kampf gegen Antisemitismus ist deshalb so hohl, weil die philosophischen Grundlagen des Antisemitismus nicht zur Kenntnis genommen werden. Wenn jeder nach Belieben die Geschichte verleugnen, mit seiner erfundenen Wahrheit als ultimative Erzählung hausieren gehen kann, sollten wir den Kampf gegen Antisemitismus für gescheitert erklären.

Die Unterhöhlung des Westens begann mit Denksystemen, die die Objektivität der Wahrheit zu Fall brachten. Eine Hauptquelle dieser Objektivitätsverleugnung ist die Offenbarung, die jede Weisheit der Welt als Torheit vor Gott verflucht.

„Niemand betrüge sich selbst. Wer unter euch meint, weise zu sein in dieser Welt, der werde ein Narr, dass er weise werde. Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit bei Gott. Denn es steht geschrieben (Hiob 5,13): »Die Weisen fängt er in ihrer List«, und wiederum (Psalm 94,11): »Der Herr kennt die Gedanken der Weisen, dass sie nichtig sind».“

Das war das Todesurteil des Himmels (und jener, die sich anmaßten, im Namen des Himmels die Welt zu verurteilen) über alle irdischen Denksysteme. Vor allem über die griechischen Philosophen. Hier werden alle objektiven Wahrheiten, die von der menschlichen Vernunft erkannt werden, in die Grube gefahren. Ab jetzt gilt nur das Narrativ des Himmels, das sich von Augenblick zu Augenblick, von Offenbarung zu Offenbarung, verändern kann.

Gott kämpft gegen die Weisen der Welt. Objektive Vernunft der Welt, die ihre Erkenntnis der Natur als Wahrheit definiert, wird von Ihm versenkt:

„Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen und nicht Christus. Wenn ihr nun mit Christus den Elementen der Natur gestorben seid, was lasst ihr euch dann Satzungen auferlegen, als lebtet ihr noch in der Welt.“

Irdisches Erkennen ist Erkennen der Natur. Vernunft ist Gabe der Natur, um die Mutter aller Dinge peu à peu zu erkennen. Nicht, um Wahrheit zu besitzen, sondern lebenslang nach ihr zu streben.

Offenbarung destruiert die Autonomie der menschlichen Vernunft, die sich anmaßt, die Naturmächte zu entschlüsseln. Die Erleuchtung von Oben verurteilt jede menschliche Anmaßung, in eigener Kompetenz die Welt zu erkennen. Wie Gott sich der Erkenntnis des Menschen entzieht, duldet er auch keine objektiven Erkenntnisse des unrettbaren Sünders. Hier gibt es nur ein Entweder-Oder. Interessant, wie die von Oben erleuchteten Abendländer jedes Hell oder Dunkel, Schwarz oder Weiß verurteilen, obgleich ihre eigene Religion die Welt in Göttliches und Satanisches aufteilt.

Die Postmoderne beginnt im Neuen Testament, durchtränkt die Philosophien der Neuzeit mit wachsender Ablehnung der objektiven Wahrheit. Weshalb fast alle Denksysteme mit der Frage beginnen: Gibt es etwas Objektives? Können wir die Welt erkennen, wie sie ist – oder sind wir Gefangene unserer unaufbrechbaren Subjektivitäten?

Von Epoche zu Epoche schwindet der Glaube an objektive Erkenntnis. Der Nachhegelianer Max Stirner ist ein Höhepunkt der eigenen Ich-Vergötzung:

„Mir geht nichts über Mich“ oder „Ich bin nicht ein Ich neben anderen Ichen, sondern das alleinige Ich: Ich bin einzig“. Er wendet sich damit gegen eine Begründung der Ethik aus Allgemeinbegriffen wie dem der Menschheit.“

Dem Menschen bleibt nichts übrig, als sich an seiner „Einzigartigkeit“ zu orientieren.

„Alles soll meine Sache sein. Mir geht Nichts über mich. Als ich mich dazu erhoben hatte, der Eigner der Welt zu sein, da hatte der Egoismus seinen ersten vollständigen Sieg errungen, hatte die Welt überwunden, war weltlos geworden.“

Das ist die Absage an jede allgemeine Erkenntnis, an jede generelle Moral.

Wittgenstein läuft in der Spur Stirners:

„Was der Solipsismus nämlich meint, ist ganz richtig, nur lässt es sich nicht sagen, sondern es zeigt sich. Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“.

Meiner Sprache, meiner Welt. Die objektive Welt zerfällt in so viele unverbundene Subjektivitäten, wie es Menschen gibt. Auch das Individuum des kapitalistischen Liberalismus ist nur ein Seitenzweig des modernen Solipsismus. Menschen sind nicht durch generelle Vernunft verbunden, sondern durch subjektive Interessen, die sich allein durch die Rest-Objektivität des materiellen Vorteils verständigen können.

Der Staat als Stimme eines objektiven Gesellschaftswillens hat versagt und muss stets neu versagen. Das sähe man, so ein Häuptling der Neoliberalen, gerade heute in der Coronakrise. Michael Hüther in BILD:

„Vater Staat allein ist selten ein guter Problemlöser. Es ist die Eigenverantwortung der Menschen, die uns seit Jahrhunderten voranbringt. Dies ist umso wichtiger, weil wir auch künftig – trotz Impfstoffen – mit dem Virus leben müssen.“ (BILD.de)

Das ist die eine Seite der Moderne: die Zerstückelung der Welt in individuelle Trümmer.

Die andere Seite ist ihre Objektivierung durch naturwissenschaftliche Erkenntnis und technische Überwältigung der Natur. Zwischen diesen beiden Extrempolen bewegt sich in wirren Bewegungen die
a) Demokratie, die eine objektive politische Errungenschaft sein soll, gleichzeitig aber aus Menschen besteht, die dem postmodernen Virus der Ich-Vereinzelung verfallen sind. Erhebt sich die Frage, was sich durchsetzen wird: der Glaube an die Überlegenheit der Demokratie als Glaube an die objektive Vernunft – oder die Fäulnis wahrheitsloser Solipsisten?
b) die objektive Berechenbarkeit und wunderbare Verlässlichkeit der Naturwissenschaften. In enger Verbundenheit mit der Technik, die sich durch objektive Übermacht profiliert?

Zu den Zwischenmächten zählen die Geisteswissenschaften, die sich redlich bemühen, durch statistische Anleihen den Ansprüchen der Naturwissenschaften gerecht zu werden. Allein, die Statistik ist eine Mixtur aus mathematischer Exaktheit und empirischer Wahrscheinlichkeit. Mathematik kann das Generelle nur als Durchschnitt berechnen, das Individuelle entzieht sich der quantitativen Präzision.

Doch jetzt kommt die Crux. Naturwissenschaften sind nur objektiv in ihren Laboratorien, Berechnungen, Beobachtungen im innersten Nervensystem der Natur. Praktische Nutzanwendungen ihrer Erkenntnisse aber gehören in den Bereich des Menschlichen und unterliegen der Willkür des subjektiven Willens. Technik benutzt die Objektivität der Naturwissenschaft, um sie der willkürlichen Subjektivität des Menschen auszuliefern.

Nicht anders in der Ökonomie, die sich anmaßt, eine Erkenntnis von Natur- oder gar Geschichtsgesetzen zu sein. Als ob Geschichte objektiv wäre wie die Natur. Das ist Humbug. Geschichte, das Ergebnis menschlicher Willkürhandlungen, ist weit entfernt von der majestätischen Solidität und Berechenbarkeit der Natur. Die Objektivität der Ökonomie ist angemaßt. Ökonomie ist das Produkt jahrtausendealter Missachtung humaner Regeln, die sich zum System geadelt haben. Der naturwissenschaftlich sein wollende Neoliberale will mit der psychischen Irrationalität des Menschen so wenig zu tun haben wie der Marxist mit der geschichtlichen Unberechenbarkeit, weshalb er sich hinter der törichten Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit der Geschichte verbarrikadiert.

Auch Medizin ist ein Doppelwesen aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen somatischer Gesetze, die sich konkretisieren in unendlich vielen psychischen Individualitäten. Corona ist eine objektive Naturerscheinung, aber realisiert in unendlich vielen Individuen, die von ihrem subjektiven Geist (oder Psyche) geprägt sind. Nicht jeder stirbt, der vom Virus befallen wurde.

Die westliche Demokratie ist ein Kampfplatz dieser verschiedenen, miteinander rivalisierenden Elemente.

Der wichtigste Konflikt besteht aus dem Zusammenprall der politisch objektiven Demokratie, die alle Menschen zur Würde der Freiheit und Gleichheit aufruft – mit der postmodernen Beliebigkeit ihrer philosophischen Prinzipien. Da Erlösungsreligionen noch immer eine grundlegende Rolle in der Weltpolitik spielen, grenzt es an ein Wunder, dass die Demokratien sich nicht schon längst in alle Bestandteile zerlegt haben.

Die Erklärung des Wunders ist – der Mensch, der sich, trotz aller Widrigkeiten, von der Faszination der humansten aller Gesellschaftsformen anstecken ließ. Und nun seine Stimme zu erheben beginnt gegen alle todessüchtigen Regimes der Welt.

Die Demokratien haben nur eine Überlebenschance, wenn sie ihre grundlegenden Kollisionen wahrnehmen und in echten Streitgesprächen zu klären beginnen. Da wird es nicht genügen, kritische Fragen zu stellen, die von rhetorischen Nullformeln erstickt werden.

Eine der gefährlichsten Gegnerinnen der philosophischen Wahrheitssuche war die Rhetorik oder Redekunst, die jede objektive Wahrheitslehre durch Vorwegnahme postmoderner Beliebigkeit zu vernichten drohte. Das Überhandnehmen rhetorischer Verführungskünste im Dienste der Starken trug wesentlich zum Untergang der athenischen Demokratie bei. Rhetorik war die Kunst, „geschickt zu lügen“. Sie lehrte lügen – im Gewand der Wahrheit. Alle Sünden der Gegenwart spielten bereits vor mehr als 2000 Jahren eine verhängnisvolle Rolle.

Heute ist Rhetorik zum Krönungsmodus der Politiker geworden. Eine glänzende Rede und alles ist gewonnen. Merkels Rhetorik hingegen ist Glanz durch Abwesenheit des Glanzes.

Von Athen lernen, hieße nicht nur, die längst verratenen Prinzipien der wehrhaften Demokratie durch strenge Wahrheitssuche zu rekapitulieren, sondern die Krankheitsanfälligkeit der Volksherrschaft durch lügenhafte Redekünste und Vernunftfeindlichkeit zu erkennen. Verhindern kann man nur, was man verstehen und erklären kann.

Ausgeschlossen, dass die Majorität der Gesellschaft zu Fragen verurteilt wird, die von Machteliten mit trügerischen Hohlformeln abgefertigt werden.

Wir müssen streiten lernen.

Fortsetzung folgt.