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Alles hat keine Zeit LXVIII

Tagesmail vom 20.01.2021

Alles hat keine Zeit LXVIII,

„Obama schwörte auf die Original-Bibel von Abraham Lincoln. Biden bringt seine eigene mit. Sie gehört seiner Familie seit Generationen. Sie ist 12,7 Zentimeter dick und wird von einem keltischen Kreuz geziert.“ (BILD.de)

Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung ist eine der bedeutendsten Manifeste der Menschenrechte in der Geschichte der menschlichen Gattung. Ohne sie und die vergleichbaren Deklarationen der Engländer und Franzosen gäbe es keine moderne Demokratie.

Die geschichtliche Herleitung der Menschenrechte, ihre Begründung mit theologischen Sätzen ist indes eine Zumutung.

Die Unabhängigkeitserklärung hat einen Januskopf. Das dominierende Antlitz der Menschenfreundschaft und seiner Begründung durch evidente Vernunft hat die Welt vom deutschen und sowjetrussischen Totalitarismus befreit und die globale Stimmung ein halbes Jahrhundert lang mit dem Geist der Freiheit und Selbstbestimmung geprägt.

In der jetzigen Krise des Westens aber drängt sich die düstere Rückseite des Januskopfes – die sich bislang mit dem gigantischen Aufstieg des Neuen Kanaan zufrieden gegeben hatte – nach vorne, beginnt sich von der Welt abzuwenden und die Grundprinzipien der Demokratie zu unterhöhlen.

Der neue Präsident Joe Biden soll die Wunden des biblizistischen Trumpismus heilen und die beiden verfeindeten Seiten – autonome Demokraten und biblizistische Theokraten – miteinander versöhnen. Versöhnung aber ist nur möglich, wenn die verfeindeten Parteien wissen, was sie trennt und worüber sie streiten müssten. Wer den Streit der Argumente überspringen will, muss zur Gewalt greifen.

Warum wird die gesellschaftliche Atmosphäre immer militanter? Weil niemand die Differenzen wahrnehmen und in Begriffe fassen will. Die Antagonismen müssten in aller Schärfe formuliert werden, damit den Kontrahenten klar wird, wie weltenweit sie voneinander getrennt sind.

Ja, es gibt soziale Ursachen der Krise: die Reichen schwimmen in Geld und Privilegien, die Armen leben in Ängsten und grollen sich immer aggressiver durchs Leben.

Ja, es gibt politische Ursachen: die Mächtigen wollen globale Beziehungen, um sich durch wirtschaftliche Überlegenheit an der Welt zu bereichern. Die Abgehängten wollen Abschottung von der Welt, um sich nicht rechtfertigen zu müssen vor fremden Ländern.

Beide Ursachen sind elementar, der wichtigste Punkt der Gegnerschaft aber ist noch immer die Religion, die in Amerika ihre biblizistische Urform in hohem Maße bewahrt hat. Die Sorge um das ewige Leben übersteigt jedes Bemühen um das irdische Wohlergehen. Ewige Seligkeit und ewige Verdammnis überschatten alle Probleme irdischer Endlichkeit.

Soziale und politische Benachteiligung sind nur vordergründige Verstärker der Sorge um die Seele.

„Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie? Wer ist aber unter euch, der seiner Länge eine Elle zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt? Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: Sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft. Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.“

Heiden sorgen sich um ihr Dasein auf Erden. Für Christen muss die Sorge um jenseitige Seligkeit alles andere in den Schatten stellen. Eine Todsünde, irdische Sorgenpolitik dem Jenseits vorzuziehen.

Für griechische Philosophen gab es nur ein Interesse: was muss ich tun, um in humaner Gesinnung mein irdisches Leben zu gestalten? Das Jenseits war in der griechischen Aufklärung verschwunden. Es gab nur ein einziges Problem, das Menschen zu lösen hatten: wie verhalte ich mich, um mit meinen Zeitgenossen ein menschliches Leben zu führen?

Die amerikanischen Gründungsväter waren nicht die Einzigen, die die revolutionäre Idee der Demokratie aus der Schrift ableiteten.

„Wir halten diese Wahrheiten für selbstevident, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“

Welch verhängnisvoller Irrtum, Menschenrechte seien keine Errungenschaften autonomen Denkens, sondern Gnadengaben eines Gottes. Obwohl der christliche Erlöser jedes Glück auf Erden verflucht und zum Erwerb der ewigen Seligkeit aufruft, wird er zum Urheber des Glücksstrebens auf Erden – ein absoluter Verstoß gegen die Bergpredigt:

„Selig sind die geistlich Armen, denn ihrer ist das Reich der Himmel. Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihrer ist das Reich der Himmel. Freuet euch und frohlocket, denn euer Lohn ist groß in den Himmeln.“

Sokrates war der inkompatible Widerpart des Erlösers.

„Denn „die Philosophie sagt immer dasselbe“; dass es nur ein wirkliches Unglück gibt, nämlich schlecht oder ungerecht zu handeln, und nur ein wirkliches Glück, gut und gerecht zu handeln.“

Gut handeln und glücklich werden: das fällt nie auseinander, sondern ist identisch. Himmlischer Lohn und höllische Strafe sind Erfindungen verwirrter Geister.

Der Unsterblichkeitsglaube ist für Sokrates ein Nichts. Seine Ethik bleibt unberührt von jeder Art Jenseitsglauben.

„Seine Moral ruht auf zwei Pfeilern: der Autonomie und Autarkie. Hier handelt es sich um keine göttlichen Gebote, die befolgt werden müssen, diese Lebenshaltung ist aus dem seelischen Wesen des Menschen abgeleitet und durch Erfahrung erprobt. Wer ihr folgt, der ist der wirklich starke, freie und unabhängige Mensch, der nichts, auch den Tod nicht fürchtet und unabhängig von Menschen und Dingen fest und sicher im Sturm des Lebens steht. Diese Übereinstimmung von Denken und Handeln, diese schlichte Rechtschaffenheit ohne Pathos und Eitelkeit, diese heitere Gelassenheit im Tode: das war es, was an diesem einzigartigen Manne bei Mit- und Nachwelt einen unauslöschlichen Eindruck hinterließ.“ (Nestle)

Was in der frühen europäischen Aufklärung geschah, war der Versuch, die besten Teile des Griechentums mit den scheinbar besten des Evangeliums zur Einheit zu bringen.

Bei den ersten Selbstdenkern musste der Gott der Bibel identisch sein dem Gott der Vernunft. Solange sie Gott mit der Natur gleichsetzten, war die Verschmelzung beider Gottesbegriffe unproblematisch. Spinozas Formel: Gott oder Natur, war kein Angriff gegen die Vernunft – aber ein frontaler gegen die Bibel. Denn der Schöpfer war kein Gott der Natur, sondern Herr über die Natur, Schöpfer und Vernichter alles Natürlichen, das nicht aus sich selbst existierte, sondern geschaffen war, um vom Creator ex nihilo wieder vernichtet zu werden und einer zweiten Schöpfung Platz zu schaffen.

Diese Vermischungen hatten die gebildeten Gentlemen unter den Gründungsvätern aus ihrer englischen Heimat mitgebracht. Vielleicht war es auch geschickte Taktik, um die Puritaner für die Idee der Demokratie zu werben.

Wie dem auch sei, die falsche amerikanische Synthese aus inkompatiblen Widersprüchen der Griechen und Christen war drei Jahrhunderte lang äußerst erfolgreich. Doch heute zerplatzen diese Verstöße gegen Logik und historische Wahrheit und offenbaren ihre Unvereinbarkeit in drohenden Bürgerkriegsszenarien.

Von der ersten bis zur letzten Seite der Schrift gibt es keine gleichen Menschen mit dem unveräußerlichen Recht, in Freiheit zu leben und nach irdischem Glück zu streben. Das Gegenteil ist der Fall. Seid untertan aller Obrigkeit, es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott wäre, auch wenn die Obrigkeit Hitler oder Stalin heißt. Römer 13, die Urstelle der lutherischen Politik, ist – neben dem platonischen Urfaschismus – die theologische Wurzel des modernen Totalitarismus.

Die Wahrheiten der Unabhängigkeitserklärung sollen selbstevident sein. Evident ist „unmittelbar einleuchtend, keines Beweises bedürftig.“ Mit anderen Worten: die Wahrheiten sind Erkenntnisse der Vernunft, die jedem Menschen einleuchten – der sich nicht den Mysterien eines Jenseitsglaubens unterworfen hat.

Verräterisch, dass die Bewunderer des Schöpfers auf begründende Schriftworte keinen Wert legten. Offenbarungen sind nie selbstevident, sie kommen daher als unfehlbare Worte aus dem Munde eines Gottes, der sich eines sterbenden und auferstehenden Sohnes bedienen musste, um seine Vernunftwidrigkeiten mit Wundern zu beglaubigen. Das war der Tod der menschlichen Autonomie.

Im alten Israel gab es nicht den Anhauch einer Demokratie, sondern – nach Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft – eine Herrschaft der Priester. Jesus wurde von den Juden abgelehnt, weil er es von sich wies, ihr politischer Messias zu werden. „Jeder bleibe in dem Stande, in den Gott ihn berufen hatte. Wer im Herrn als Sklave berufen wurde, der ist ein Freigelassener des Herrn, desgleichen, wer als Freier berufen wurde, der ist ein Sklave Christi.“

Sklaven sollen Sklaven bleiben, wer frei ist, ist nichts anderes als Sklave seines Erlösers. Mit einer Politik der Freiheit und Selbstbestimmung haben diese sklavischen Selbstverstümmelungen nichts zu tun.

Der radikale Aufklärer Tom Paine war einer der wenigen, die Schluss machen wollten mit der „Idee des von Gott gegebenen Rechts.“ (Howard Zinn, Eine Geschichte des amerikanischen Volkes)

Die meisten Gründerväter standen auf der Seite von John Adams, der die Forderung stellte, „dass die patriotische Sache nicht zu weit in Richtung Demokratie ging. Volksversammlungen müssten kontrolliert werden, weil sie übereilte Ergebnisse und absurde Urteile“ hervorbringen würden.

Deshalb die Wälle in der Verfassung gegen eine allzu direkte Macht des Volkes. Ohnehin waren nicht wenige Amerikaner aus dem Kreis der Gleichberechtigten ausgeschlossen: Indianer, schwarze Sklaven und Frauen.

Das griechische Denken, das die Demokratie erfunden hatte, wurde nicht nur völlig verdrängt, noch heute werden die Athener als minderwertige Demokraten verachtet, weil sie eine Sklavenhaltergesellschaft gehabt hätten. Und das sagt eine Demokratie, in der heute noch Schwarze geächtet, diskriminiert, ja getötet werden.

Auch John Locke, der als maßgeblicher Ideengeber der amerikanischen Demokratie gilt, war kein reiner Vertreter der Gleichheit. Er ignorierte die bestehenden Ungleichheiten an Eigentum. „Wie konnten Menschen bei krassen Unterschieden an Reichtum wirklich gleiche Rechte haben?“ (ebenda)

Nominelle Gleichheit bei faktisch endlos wachsender Ungleichheit: das wurde zum Zentrum des westlichen Liberalismus, dessen Bigotterien im Trumpismus – ausgerechnet von einem reichen Glücksritter – bis in die Tiefen nationaler Unzufriedenheit aufgewühlt wurden.

Unter Volk hatten britische Parlamentarier nicht den „Pöbel“ verstanden, sondern die „mittleren Leute, den Kaufmann, den ländlichen Ehrenmann.“ (ebenda)

Diese Verachtung der Schwächsten wurde vom kühnsten aller europäischen Revolutionäre, von Karl Marx, übernommen. In ungehemmter Verachtung sprach er vom „Lumpenproletariat.“ Noch in der Etablierung der Hartz4-Gesetze war die Abscheu der Aufsteiger gegen jene Schichten zu spüren, denen sie selbst angehört hatten. Das war Selbsthass der Parvenüs gegen ihre eigene Herkunftsklasse.

Der Trumpismus ist ein Erdbeben, das die Widersprüche der westlichen Demokratie nach oben schleuderte. Zu diesen gehört:

a) die absurde Synthese aus Griechen- und Christentum,

b) die zum System gewordene Heuchelei einer Volksherrschaft, die Freiheit und Gleichheit miteinander verbinden wollte, aber die schrecklichsten Ungleichheiten gebar. Gab es je solche Abgründe an ungleichen Reichtums- und Machtverhältnissen wie in der Gegenwart, in der immer weniger Milliardäre fast den gesamten Reichtum der Menschheit zusammengerafft haben, lässig die Politik hinter sich herziehend, um die Klimagefahr zur ultimativen Katastrophe werden zu lassen?

Im folgenden Artikel sind flagrante Widersprüche der amerikanischen Verfassung zusammengefasst. Bislang war in Deutschland eine fundierte Kritik an Amerika unmöglich, ohne dass der Kritiker des Antiamerikanismus geziehen wurde. Kritik an Freunden, Kritik überhaupt, ist in Merkels Untertanenland nicht mehr vorgesehen:

„Eine Nation, die im Glauben lebt, die größte Demokratie zu sein – woher soll sie die Kraft zur Veränderung nehmen? Die amerikanische Reformunfähigkeit beginnt mit der Verfassung, für deren Lobpreis offenbar kein Wort zu barock und keine Phrase zu abgeschmackt ist. Doch die Verfassung ist ein Relikt aus der Sklavenhaltergesellschaft. Nicht nur im Fall des amerikanischen Bürgerkriegs hat sie bei ihrer Hauptaufgabe, der Sicherung des inneren Friedens, versagt. Sie ist in einem Ausmaß dysfunktional, das für Verfassungen moderner Demokratien tatsächlich einmalig sein dürfte. Und immer und immer wieder hat sie die Schwachen im Stich gelassen. Die Stürmung des Kapitols war alles andere als „unamerikanisch“. Vielmehr ist die US-Geschichte von Anfang bis heute davon geprägt, dass Gewalt über das Recht den Sieg davonträgt. Lynching gab es noch nach dem Zweiten Weltkrieg, Oligarchen spielen mit der Politik und der vielfach strukturelle Rassismus ist eine Geißel des Landes. Unter dem letzten republikanischen Präsidenten führte Amerika offiziell wieder die Folter ein. Wohl in keiner anderen liberalen Demokratie wird der Grundsatz one person, one vote („eine Stimme pro Kopf“) so mit Füßen getreten wie in den USA. Wie soll sich eine Nation, die erklärt, die größte der Menschheit zu sein, und daran auch noch glaubt, in einer globalisierten Welt zurechtfinden?“ (Sueddeutsche.de)

Wie geht Merkel mit Kritik um?

„Merkel entrüstet: „Das lasse ich mir nicht anhängen, Frau Schwesig, dass ich Kinder quäle und die Arbeitnehmer missachte.“ (BILD.de)

Was sie sich verbittet, verbittet sie sich. Ministerpräsidenten kuschen. Allen öffentlichen Streitgesprächen entzieht sie sich.

Für den Logiker Bertrand Russell hat die Selbstevidenz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung eine Wurzel beim antiken Mathematiker Euklid:

„Wenn die Unabhängigkeitserklärung besagt, „wir halten diese Wahrheiten für selbstevident“, so hält sie sich an Euklid. Die Doktrin des 18. Jahrhunderts von den natürlichen Rechten ist ein Versuch, euklidische Axiome auf die Politik zu übertragen.“ (Philosophie des Abendlandes)

An dieser Vermutung mag einiges wahr sein. Die zuverlässige Berechenbarkeit der Welt bei Newton, Galilei und Kepler hatte Spuren hinterlassen bei den Aufklärern, die ihre Moral nach diesem Vorbild begründen wollten. Doch der Unterschied zwischen Natur und Kultur, Naturgesetzen und selbst erfundenen Moralgesetzen bleibt unüberwindbar. Die Natur folgt ewigen und unverbrüchlichen Gesetzen, an denen selbst die scheinbaren Zufälle der Quantenphysik nicht rütteln können. Auf dem Gebiet der Moral aber ist der Mensch keine ferngesteuerte Maschine. Von Mutter Natur ist er zur Autonomie verurteilt. Welchen Verhaltensregeln er folgt, bestimmt ausschließlich er selbst.

Bis heute sind Naturwissenschaftler in der Illusion befangen, die Präzision ihres wissenschaftlichen Tuns würde abfärben auf die Präzision ihres politischen Engagements. Ein selbstgefälliger Trug. In moralischen Dingen sind Wissenschaftler umso inkompetenter, je weniger sie sich mit der Geschichte des Denkens beschäftigen.

Wie konnte es zur abenteuerlichen Herleitung der griechischen Menschenrechte aus biblischen Quellen kommen?

Psychologisch ist nachzuvollziehen, dass die Revolutionäre ihrem Kindheitsglauben nicht mit einem Donnerschlag entkommen konnten. Also mussten sie nach Gleichheiten suchen. Die Schwammigkeit der Grundbegriffe – die sich bis heute nicht geändert hat – tat ein Übriges.

Locke berief sich auf das Naturrecht, das er aus der katholischen Scholastik übernommen hatte. Thomas‘ Naturrecht aus aristotelischen Tugendbegriffen für die Welt und biblischen Begriffen für die Seligkeit erlaubte es Theologen und Philosophen, beliebig von der Welt in den Himmel und vom Himmel zurück auf die Welt zu hüpfen. Was Heiden konnten, mussten biblische Schriftsteller schon lange können:

„Dieser religiösen Grundüberzeugung entsprechend, begründete die Unabhängigkeitserklärung die allgemeinen Menschenrechte theologisch aus dem biblischen Schöpfungsglauben: „Alle Menschen sind gleich geschaffen“ und „der Schöpfer hat ihnen bestimmte unveräußerliche Rechte verliehen“, zu denen „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören“. Die Menschenrechte sind theonomes, d. h. Gottesrecht betreffendes Gedankengut. Diese religiöse Position wird auch im dritten Teil der Erklärung deutlich, in dem die Unterzeichner „den höchsten Richter“ [Gott] anrufen, um die Redlichkeit ihrer Gesinnung zu bekräftigen. Auch für die protestantischen Naturrechtsphilosophen Hugo Grotius, John Locke und Samuel Pufendorf, deren Schriften in den Kolonien großen Anklang gefunden hatten, waren das Naturrecht und die biblische Offenbarung identisch, da beide auf Gott als den gemeinsamen Urheber zurückgingen. Dadurch wurde das seinem Wesen nach inhaltlich unbestimmte Naturrecht durch die ethischen Normen der Bibel, wie sie besonders im Dekalog (Exodus 20 EU) und in Jesu Liebesgebot (Matthäus 5,44 EU) zum Ausdruck kommen, inhaltlich festgelegt.“

In den Zehn Geboten steht mancher Imperativ, der – gemessen am Standard anderer Völker – moralisch trivial ist. Was nicht trivial ist, klingt so:

„Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthause, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist. Bete sie nicht an und diene ihnen nicht. Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die mich hassen; und tue Barmherzigkeit an vielen Tausenden, die mich liebhaben und meine Gebote halten. Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht mißbrauchen; denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht.“

Gott beruft sich nicht auf die generelle Vernunft, sondern auf spezifische Heilstaten an einem auserwählten Volk. Intolerant und eifersüchtig bestraft er jeden, der seine Gebote missachtet. Er übt Sippenhaft bis ins dritte und vierte Glied: Kinder und Kindeskinder bis zur vierten Generation müssen unschuldig für die Sünden ihrer Vorväter leiden. Bestraft werden vor allem diejenigen, die ihn hassen, belohnt diejenigen die ihn liebhaben. Das ist narzisstische Selektivität, kein generelles moralisches Bewusstsein. Bestraft werden diejenigen, die seinen Namen missbrauchen und ihm den Gehorsam verweigern.

Was steht in Matthäus 5, Vers 44?

„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“

Gott ist nicht daran interessiert, die Welt durch Reduktion des Bösen politisch besser zu machen. Die Welt, das Reich des Satans, bleibe in verkommenem Zustand, bis der Herr wiederkehrt. Feindesliebe hat keine politischen Konsequenzen und verbleibt auf der Ebene der Gesinnung, die nur von Gott durchschaut wird. „Liebe – und tu, was du willst!“ (Augustin) Liebestaten dienen nur der Seligkeitsgewinnung oder der Vermeidung der Höllenstrafe. Die Erde bleibe, wie sie seit Adam und Eva schon immer war: sündig und böse.

Lockes Naturrecht war eine trübe Mixtur aus zwei unverträglichen Kulturen: der politischen Vernunft der Heiden und dem solipsistischen Jenseitswahn der Urchristen. Dieser Kessel explosiver Unverträglichkeiten droht gegenwärtig seine Giftgase in der ganzen Welt zu verbreiten. Joe Biden wird seine Hand auf die Familienbibel legen und einen heiligen Schwur ablegen.

Er denkt nicht daran, sich von der demokratiefeindlichen Tradition seines Glaubens zu trennen. Mit milderen Tönen geht die Tragödie der Menschheit in die Verlängerung. Bald werden sich einige langweilen, die die Risikospiele des Weltrüpels vermissen werden.

NB: Erst heute wurde bekannt, mit welchem Abschiedsgeschenk Trump die politische Weltbühne verlässt:
„Den Vereinten Nationen bereitet der Beschluss der US-Regierung, die Huthi-Rebellen im Jemen auf ihre Terrorliste zu setzen, große Sorgen: „Wir haben schon jetzt große Probleme ohne die Einstufung. Mit der Einstufung wird es katastrophal. Es wird buchstäblich ein Todesurteil für Hunderttausende, wenn nicht Millionen unschuldiger Menschen im Jemen sein“, sagte der Chef des Welternährungsprogramms (WFP), David Beasley, vor dem UN-Sicherheitsrat in New York.“ (dw.com)

Fortsetzung folgt.