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Alles hat keine Zeit LX

Tagesmail vom 30.12.2020

Alles hat keine Zeit LX,

Jahresende. Zeit der Rückschau, Selbstbesinnung, Katharsis – für diejenigen, die nicht mit sich im Reinen sind.

Auch für die Deutschen? Haben sie ihr Klassenziel erreicht? Sind sie zufrieden mit den Zensuren der Geschichte? Welcher Geschichte? Verteilt die Geschichte Zensuren?

Die Jugendlichen werden regelmäßig überprüft, ob sie Standards genügen, die nicht von ihnen, sondern von mächtigen und gelehrten Erwachsenen festgelegt werden. Alle Heranwachsenden haben in kollektivem Gleichschritt dieselben Anforderungen zu bestehen.

Der Geist der westlichen Gesellschaft ist Individualismus. Jeder Mensch ist unvergleichlich und entwickelt sich nach seinen eigenen, einmaligen Gesetzen.

Der Geist der westlichen Pädagogik ist Kollektivismus. Alle Kinder haben sich in synchronem Gleichschritt zu entwickeln. Abweichungen von der Regel werden geahndet – durch schlechte Startbedingungen in das Reich der Erwachsenen. Wer die Kasernen des Gleichschrittes absolvierte, indem er sich 13 Jahre lang kollektiven Zwängen unterwarf, ist bestens präpariert, das individuelle Reich der Erwachsenen zu erobern. Das individuelle Reich?

Zuerst muss der Absolvent mit einem Freudenschrei seine Kollektivfesseln abwerfen – und ein Jahr lang durch die Welt tigern, womit er sich in bester romantischer Tradition befindet:

Es geht jetzt fort zum fremden Strand, …
Und so sing ich denn mit frohem Mut,
Wie man singet, wenn man wandern tut, …
Gott weiß, zu dir steht stets mein Sinn,
Doch zur Ferne zieht es jetzt mich hin.

Zurückgekehrt ins Heimische, erwartet die Ausreißer eine Stufenleiter zum schein-individuellen Erfolg, ausgezahlt in kollektivem Heller und Pfennig.

Sind diese jungen Erwachsenen bei sich angekommen? Haben sie in der Ferne die Wundmale der Nähe erkannt und bewältigt? Sind sie mit sich ins Reine gekommen und bereit, die Verwerfungen ihrer Väter- und Müttergeschichte zu verstehen? Haben sie Abstand zum Vertrauten gewonnen, um das Ungeheure ihrer Heimat zu bewältigen? Haben sie Eltern, die ihnen vorangehen, um ihnen den Weg der Läuterung zu erleichtern?

Die Deutschen, nein, sind nicht bei sich angekommen. Statt ihre Vergangenheit zu erfassen und zu bewältigen, haben sie ihre Geschichte planiert und geglättet. Es gibt nichts mehr zu bewältigen. Die Stolpersteine und Todeslager sind weggeräumt oder zu folgenlosen Erschütterungsorten saniert und degradiert.

Ihre geistigen Heroen, ob Schurken oder Menschenverächter, sind in Bausch und Bogen zu Helden der Menschheit avanciert. Es gibt niemanden mehr, in dessen Werk sich frühe Spuren des späteren Unheils zeigen würden. Nein, sie müssen nichts revidieren, sich ihrer Vergangenheit nicht schämen, nichts bereuen, sich bei niemandem entschuldigen oder sich um Versöhnung bemühen.

Endlich können sie unbeschwert nach vorne gucken. Siehe, das Alte ist vergangen, es ist alles neu geworden. Ihr Erlöser hat Gnade vor Recht ergehen lassen, ihre Schuld auf seine Schultern genommen, auf dass sie Frieden, Macht und Wohlstand hätten.

Nicht mit Henryk M. Broder:

„Das Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles, das antisemitische Vorfälle inner- und außerhalb der USA dokumentiert, stellt jedes Jahr eine Top-Ten-Liste solcher „Incidents“ zusammen. Bemerkenswert, vor allem aus deutscher Sicht, wird es auf Rang sieben. Da wird nicht irgendeine Person oder Organisation auf die virtuelle Anklagebank gesetzt, sondern die „deutsche Elite“, vertreten und verkörpert durch das Goethe-Institut, die Bundeskulturstiftung, die Berliner Festspiele, das Deutsche Theater, das Einstein Forum, das Humboldt Forum und ein Dutzend weitere staatlich finanzierte Kultureinrichtungen, die sich – getrieben von der Sorge um die Meinungsfreiheit – zusammengetan haben, um – mitten in der Pandemie – gegen eine anderthalb Jahre alte Entschließung des Bundestages zu protestieren. Haben wir es überhaupt mit einem Fall von sublimiertem Judenhass zu tun oder nur mit einem unheilbar reinen Gewissen, das sich ein Ventil sucht? Es sind berechtigte Fragen. Wer sie beantworten will, sollte bedenken, dass man kein Antisemit alter Schule sein muss, kein Auschwitz- und Holocaustleugner, um antisemitische Ideen glaubwürdig zu vertreten. Das wissen wir spätestens, seit die „Süddeutsche Zeitung“ ein Gedicht von Günter Grass („Was gesagt werden muss“) abdruckte, in dem der Nobelpreisträger darüber fantasiert, wie „die Atommacht Israel den ohnehin brüchigen Weltfrieden gefährdet“. Nicht China, nicht Nordkorea, nicht der Iran. Nein, Israel. Der Antisemitismus ist der Populismus der gebildeten Stände.“ (WELT.de)

Eine fulminante Anklage. Bemerkenswerterweise nicht gegen die sonst Verdächtigen: die Rechten auf der Straße, Verschwörungstheoretiker, Impfgegner, die sekundären Antisemiten unter linken Kapitalismuskritikern. Sondern die intellektuellen Eliten der Deutschen. Das wird ein Aufschrei geben, worauf Broder sich jetzt schon freut. Wird es ihm gar gelingen, die Kanzlerin aus ihrer marienhaften Stummheit hervorzulocken?

Noch bemerkenswerter: Broder verzichtet auf die religiösen Urwurzeln des Antisemitismus. Da werden sich die christlichen Theologen die Hände reiben. Ist es ihnen doch meisterhaft gelungen, sich von ihren Sünden im Dritten Reich zu befreien. Weder den Holocaust noch Auschwitz muss man leugnen, um Judenhass zu zelebrieren. Welche Gründe gäbe es sonst noch, um mit Israel ins Gericht zu gehen – anstatt mit China, Nordkorea oder dem Iran?

Broder zitiert Günter Grass: „die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.“ Die Kleinen schlägt man, die Großen lässt man laufen? Wieder einmal werden die Juden für das Elend der Welt verantwortlich gemacht? Wieder einmal müssen sie für die christlichen Völker den Sündenbock und Erlöser spielen?

Broder fragt, er antwortet nicht. Oder doch? Wenn Christen ein unheilbar reines Gewissen haben, das dennoch ein Ventil benötigt, will er sagen: Kommt davon, wenn man sich für perfekt unschuldig hält – obgleich niemand perfekt sein kann. Denn dann muss man sich von unterdrückten Schuldgefühlen durch fremde Schuldzuweisung befreien. Wie Jesus müssen die Juden, stellvertretend für die Menschheit, alle Schuld auf sich nehmen. Der imaginäre Christus wird von seinen Gläubigen ersetzt durch die konkreten Kinder Gottes.

Klingt einleuchtend. Weil ihr Glaube an eine Phantasiefigur die Christen bis heute überfordert, halten sie sich schadlos am jüdischen Volk, das von Christus mit vernichtender Kritik überzogen wird:

„Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließt vor den Menschen! Ihr geht nicht hinein und die hineinwollen, lasst ihr nicht hineingehen. Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr Land und Meer durchzieht, damit ihr einen Proselyten gewinnt; und wenn er’s geworden ist, macht ihr aus ihm ein Kind der Hölle, doppelt so schlimm wie ihr. Weh euch, ihr blinden Führer, die ihr sagt: Wenn einer schwört bei dem Tempel, das gilt nicht; wenn aber einer schwört bei dem Gold des Tempels, der ist gebunden. Ihr Narren und Blinden! Was ist denn größer: das Gold oder der Tempel, der das Gold heiligt? Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Zehnten gebt von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz beiseite, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben! Doch dies sollte man tun und jenes nicht lassen. Ihr blinden Führer, die ihr Mücken aussiebt, aber Kamele verschluckt! Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln außen reinigt, innen aber sind sie voller Raub und Gier.“

Gewiss hatte er gesagt:

„Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht. Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich. Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“

Diese Worte werden immer als Beweis angeführt, dass Jesus seinem Volk treu geblieben sei. Nein, er verfluchte sein Volk, weil es sich anmaßte, das Gesetz selbständig zu erfüllen. Natürlich wollte er das Gesetz nicht auflösen. Sonst wäre sein Gnadenangebot vergeblich gewesen. Das für Menschen unerfüllbare Gesetz war Voraussetzung für sein Angebot, allein durch Gnade (sola gratia) erlöst zu werden, ohne Werke des Gesetzes. Der Mensch musste erkennen, dass er unfähig war, die Gesetze Gottes durch eigene Kraft zu befolgen.

Das schied Christen von den Juden. Die Juden hielten sich für fähig, die Gesetze des Himmels aus eigener Kraft zu erfüllen. Die Christen sollten diesen Anspruch als jene Todsünde betrachten, für die das erste Volk Gottes schwer büßen müsse. Im Gegensatz zu den hochmütigen Juden erkannten die Urchristen ihre moralische Unfähigkeit und warfen sich in die gnädigen Arme des Erlösers.

Es waren nicht nur Juden, die wegen moralischen Hochmuts würden büßen müssen. Auch die Hellenen waren stolz genug, um ihren eigenen autonomen Fähigkeiten zu vertrauen.

Der Unterschied zwischen beiden Populationen lag lediglich in der Herkunft ihrer Gesetze. Für die Juden waren die Gebote himmlischer Herkunft, für die Griechen stammten ihre moralischen Imperative aus der eigenen Vernunft.

Ist es das schlechte Gewissen der Deutschen, das sie treibt, Israel rituell anzuklagen, um sich – wie Josef Joffe formulierte – einen „schlanken Fuß zu machen“? Vieles spricht für diesen Verdacht. Doch genügt es, im Politbereich mit Verdächten zu hantieren?

„Unser aller Onkel Sigmund würde an seiner Zigarre ziehen und fragen, ob sich der Ankläger nicht in einer klassischen Verschiebung als Opfer stilisiere, um sich einen schlanken Fuß zu machen. Warum die rituelle Beschwörung, „Israelkritik“ sei nicht Antisemitismus, wenn dahinter nicht das schlechte Gewissen pochte?“ (ZEIT.de)

Ein Verdacht ist zugleich seine eigene Bestätigung? Selbst Onkel Freud würde hier bleich werden. Es ist in hohem Maße wahrscheinlich, dass das kollektive Unbewusste der Deutschen aus schlechtem Gewissen besteht. Doch Motive entscheiden nicht über die Rationalität der Vorwürfe.

Überbietet ein Wissenschaftler aus bloßem Neid die Theorie eines erfolgreichen Rivalen mit einer noch genialeren Theorie, ist sein Neid keine Falsifikation seiner konkurrierenden Hypothese. Eine rationale Anklage kann nur durch rationale Wahrnehmung und Argumente widerlegt werden. Die Analyse des Unbewussten kann interessante Aspekte über die Persönlichkeit eines Menschen erbringen, aber niemals über die rationale Berechtigung seiner Ideen entscheiden.

Die Kritik an Israels Menschenrechtsverletzungen ist kein bloßer Verdacht. Die Verbrechen gegen Völker- und Menschenrechte sind real und jederzeit nachweisbar. Ja, niemand leugnet sie. Nicht einmal diejenigen, die den „rituellen Beschwörern“ Antisemitismus unterstellen.

Sie selbst – das darf nicht unerwähnt bleiben – kritisieren Israel so gut wie nie. Könnte der Verdacht der Juden nicht gekontert werden mit dem Gegenverdacht: da die Israelverteidiger selbst ein schlechtes Gewissen haben ob ihrer blinden Kritiklosigkeit, schießen sie zuerst, um die Ankläger prophylaktisch zu entwaffnen? Nach dem alten Grundsatz: Angriff ist die beste Verteidigung? Das wäre ein Patt.

Wie lange ist es her, dass man von einem jüdisch-deutschen Dialog sprach, um die Lasten der Vergangenheit von beiden Seiten anzusprechen – und die Differenzen und Spannungen zu mindern? So gut wie nichts ist geschehen. Längst sind die Fronten verhärtet. Die deutsche Seite ignoriert die historische und theologische Ursachenforschung des Antisemitismus auf der ganzen Linie. Und die jüdische Seite verschärft den aggressiven Alleinvertretungsanspruch über die Definition des Antisemitismus bis zur Unfehlbarkeit. Wolffsohns Fanfarenton, nur Juden könnten über Antisemitismus entscheiden, hat das Simon-Wiesenthal-Center in altgewohnter Unbeirrbarkeit bestätigt.

Das ist ein reziprokes Aufschaukeln des Konflikts ins Maßlose. Wie immer schweigt Berlin – und macht sich schuldig. Selbst, wenn es ausnahmsweise mitspräche, würde es nur rituelle Nebelbildungen emittieren.

Im politischen Alltag verlassen sich beide Seiten nur noch auf wichtigtuerische Empörung, folgenloses Ermahnen und sinnloses Verschärfen der Gesetze. Antisemitismus aber ist ein in langen Zeiten entstandenes Problemgewirr, das nur mit anamnestischer Aufklärung und rationalem Dialog zu therapieren wäre. Diese Arbeit scheuen beide Seiten.

Broders Vorwurf ist unüberbietbar:

„Lieber Herr Klein, der Antisemitismus ist eine Krankheit, die wellenartig auftritt, man kann sie nicht aus der Welt schaffen, bestenfalls eindämmen wie eine Epidemie. Sozialpädagogische Maßnahmen – Gruppenreisen nach Auschwitz, christlich-jüdische Liederabende oder Lesungen verbrannter Dichter – sind so hilfreich wie Wadenwickel bei Leukämie, Beschäftigungstherapie und Zeitvertreib.“ (WELT.de)

Wenn eine Seite die andere für unbelehrbar und verstockt hält: was könnte sie besser vom Gegenteil überzeugen als der Versuch, den Zensor durch unermüdliche Praxis zu widerlegen?

Die Deutschen sind nicht mal fähig, sich wegen Broders scharfem Vorwurf gekränkt zu zeigen, geschweige, den Ankläger durch die Tat zu widerlegen. Verfahrener kann der nicht-existente deutsch-jüdische Dialog nicht sein.

In der Öffentlichkeit ist von dieser notwendigen Auseinandersetzung weit und breit nichts zu bemerken. Keine Talkshow will sich mit diesem Thema in die Nesseln setzen. Deutschland, deine Schande.

Warum setzt der Zeitgeist immer mehr auf Schuldlosigkeit? Auf angebliche Großherzigkeit, niemanden an den Pranger zu stellen? Die Eliten krümmen sich vor Lachen: die Drahtzieher der Welt baden ihre Hände in Unschuld. Je schuldiger die Welt wird, je reiner und fleckenloser gibt sie sich.

Warum die Kanzlerin so beliebt ist, hängt mit ihrer Fähigkeit zusammen, niemanden offen zu beschuldigen. Das Volk dankt mit reziproker Vergebung ihrer Sünden. Wenn alle sich ringsum im Kreise vergeben, ist der Staat mit sich im Reinen. Je schlimmer die Welt wird, je mehr rücken sie zusammen und vergeben sich.

Ein einig Volk von Brüdern,
das ist das Volk des Herrn,
verzweigt in seinen Gliedern,
doch eins in seinem Kern;
von oben her geboren,
vom Heilgen Geist getränkt,
von Gott selbst auserkoren,
der liebend sein gedenkt. (H. H. Grafe, 1818 bis 1869)

Niemand könnte heute diesen Choral inbrünstig singen, doch seinem geistlichen Gehalt nähern sie sich konsequent.

Wer ist schuld am Dritten Reich? Eine Handvoll gerissener Scharlatane, die das arglose Volk ins Verderben lockten? Mit langfristigen Ursachen in der deutschen Geschichte hat das 1000-jährige Reich jedenfalls nichts zu tun.

Die klassische Periode war ein Olymp an Humanität, Nietzsche ein feinfühliger Seismograph seiner Zeit mit paradoxen Interventionen, die man so wenig wörtlich nehmen darf wie schreckliche Worte in der Schrift. Hegel war weder Rassist noch ein Vorläufer des NS-Regimes, sondern ein Enthusiast der Freiheit:

„Als moderne Gesellschaft kann im Sinne Hegels nur eine solche Gemeinschaft gelten, welche die Freiheit und das Recht aller Individuen garantiert. Für heutige Rassisten würde Hegels beißende Diagnose wohl lauten: Völliger Mangel an Vernunft, Abwesenheit des Denkens – gefährliche Schädel-Leere.“ (WELT.de)

Von wem stammt dann die Aussage über „Neger“:

„Ausbrüche von greulichen Scharen, gedankenloseste Unmenschlichkeit und ekelhafteste Roheit. Es ist nichts an das Menschliche Anklingende zu finden. Ihr Bewusstsein ist noch nicht zur Anschauung irgendeiner festen Objektivität gekommen“? „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“?

Auserwählte Völker gewinnen den Wettlauf der Geschichte, die verworfenen verschwinden im Orkus:

„Der Geist der Nation bestimmt ihr verborgenes historisches Geschick; und jede Nation, die „zur Existenz zu kommen“ wünscht, muss ihre Seele dadurch behaupten, dass sie die „Bühne der Weltgeschichte“ betritt, das heißt dadurch, dass die anderen Nationen bekämpft; Gegenstand des Kampfes ist die Weltherrschaft.“ (Popper, Die offene Gesellschaft …)

Nur die Sieger des von Gott geleiteten Weltprozesses haben ein absolutes Existenzrecht. Die Verlierer verschwinden im Nichts. Diese religiöse Triage ist schlimmer als Rassismus. Hier entscheidet nicht die Biologie, sondern der Himmel selbst.

Es gibt keine Kritik mehr an deutschen Geistesriesen. Von Moral hält man nichts, doch Kant steht hoch in Ehren, wenn man ausnahmsweise einen philosophischen Friedensverkünder benötigt.

Goethe wurde im Dritten Reich von Germanisten zum Befürworter der Unmenschlichkeit erklärt. Dieselben Germanisten erhoben ihn nach dem Krieg zum Olympier der Humanität. (Hans Tümmler)

W. D. Wilson, amerikanischer Germanist, muss Sätze über Goethe schreiben, die bei Safranski & Co undenkbar wären:

„Goethes Symbiose mit der Macht war tiefer, als man bisher vermutete. Dass er am Soldatenhandel mitwirkte, Fichte und Herder einschüchterte, das Spitzelwesen unter Studenten mit verantwortete, die Universitätsautonomie beschnitt und protestierende Bauern bestrafen ließ – das alles vergrößert die Kluft zwischen seinen humanen Idealen und seiner amtlichen Praxis.“ („Das Goethe-Tabu“)

Jahresende, Zeit zur selbstkritischen Rückschau. Solange wir uns gegenseitig schonen, damit wir geschont werden, riskieren wir unsere Demokratie und setzen unser Lebensrecht aufs Spiel. Wir müssen ehrlich mit uns werden.

Fortsetzung folgt.