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Alles hat keine Zeit LXI

Tagesmail vom 04.01.2021

Alles hat keine Zeit LXI,

Deutsche, seid nicht so moralisch. Ihr bringt Unglück über die Welt!

Danke, Deutscher, für deine moralische Belehrung. Wir werden uns im neuen Jahr vorbildlich amoralisch verhalten. Ab jetzt wird Amoral die Moral Deutschlands sein.

Jeder Streit um Moral ist ein moralischer. Der Streit soll klären, welche Moral die bessere ist – und welche als amoralisch verworfen werden muss. Amoralische Moral ist auch Moral.

Solange der Mensch keine Maschine ist, muss er sich entscheiden, welchen Verhaltensregeln er folgen will. Ist er gründlich, studiert er die verschiedenen Moralen, die ihm die Menschheit anbietet und wählt diejenige, die ihm am besten dünkt.

Schon sitzt er in der Falle – wenn seine Mitmenschen eine andere Moral gewählt haben. Es kommt zum Konflikt zweier unverträglicher Moralen. Wer der gemeinsamen Moral einer Gesellschaft folgt, gilt als tugendhafter, vorbildlicher Bürger; wer sie missachtet und verletzt, als Verbrecher. Verbrecher und Bösewichte haben auch eine Moral, auch wenn sie den Vertretern der Gesellschaft als amoralisch (oder unmoralisch) erscheint. Streng genommen müssten wir von einer moralischen und einer amoralischen Moral sprechen.

Das bedeutet, der Begriff Moral hat zweierlei Bedeutungen, die strikt auseinander gehalten werden müssen (was keinen deutschen Intellektuellen interessiert):

a) Moral als Überbegriff allen amoralischen und moralischen Verhaltens und

b) Moral als subjektiv gewählte Norm – im Gegensatz zu jeder fremden Norm, die meine Moral für verderblich hält.

Beim Streit um Moral geht es nicht darum, ob Moral eingesetzt werden soll oder nicht, sondern welche Moral.

Seit Menschengedenken gibt es zwei Grundtypen von Moral. Die Griechen sprachen vom Naturrecht der Starken und vom Naturrecht der Schwachen. Die Starken wollten Herrschaft, die Schwachen Verständigung, natürlich mit allen Übergängen von Macht bis zum friedlichen Miteinander.

Eine andere Einteilung der Moral betraf ihre Herkunft. War sie die Zwangsgabe eines Gottes, verbunden mit Lohn und Strafe, dann reden wir von Heteronomie oder Fremdbestimmung. War sie das Denkprodukt menschlicher Vernunft, war sie autonom oder selbstbestimmt.

Sowohl fremdbestimmte wie selbstbestimmte Moral umfassen die gesamte Palette von Macht-Gewalt bis zu einträchtigem Frieden. Erlöserreligionen forderten ultimative Unterordnung unter göttliche Gebote, Autonomie hingegen forderte von jedem Menschen die Wahl der besten Moral aus seiner subjektiven Sicht. Göttliche Moral forderte schlechthinnige Unterwerfung ohne Debatte, Vernunftmoral forderte Argumente und eigene Erfahrung.

Ist die Entscheidung getroffen, dass der Mensch kein Sklave der Geschichte, Evolution oder der Natur ist, weder prädestiniert noch sonstwie determiniert, muss er eine moralische Wahl treffen. Tut er‘s nicht, wird er zum gedankenlosen Mitläufer der herrschenden Moral.

Weshalb die deutsche Allergie, Moral aus dem Spiel zu lassen, Nonsens ist. Moral ist immer im Spiel, fragt sich nur, welche: eine göttlich-heteronome oder eine vernünftig-autonome in zweifacher Ausfertigung: a) als Moral der Stärke, um Zeitgenossen zu unterdrücken oder b) als Moral der Schwäche, die auf friedfertige Argumente setzt.

Schwäche meint Verzicht auf Macht, die geistige Stärke erfordert. Die sokratische Moral der Schwäche erfordert eine seelische Stärke, die sich „normale“ Menschen selten zutrauen.

Vernunftmoral ist ein logisches Entweder-Oder. Verständigung schließt Machtstreben über andere aus, Machtstreben schließt Verständigung aus. Das Gute kann nicht böse, das Böse nicht gut sein – wenigstens in der Theorie. Da Menschen Wesen in ihrem Widerspruch sind, können sie widersprüchliches Verhalten zeigen.

Will der Mensch so gut wie möglich werden, muss er durch Selbstbeobachtung seinen Widersprüchen auf die Spur kommen. Nur wenige Weise können vollkommen werden: davon waren Stoiker überzeugt. Wer nicht an sich arbeitet, kann abgleiten ins Amoralische. Die Norm autonomer Vernunft verlangt wachsende logische Eindeutigkeit.

Je mehr Menschen ihrer moralischen Autonomie folgen, je humaner wird die Gesellschaft, in der sie leben. Demokratie sollte die moralischste aller Regierungsformen werden, denn sie will selbstbewusste Mitglieder, die ihre Mitmenschen als gleichberechtigte anerkennen.

Zwischen religiöser Fremdbestimmung und heidnischer Selbstbestimmung sieht der Historiker Eduard Meyer eine denkbar größte, ja, eine unübersteigbare Kluft:

„Erlösung ist der stärkste Gegensatz gegen die gleichzeitig sich ausbildende griechische Kultur, der denkbar ist. Hier die weitergreifende Bewegung zur Freiheit, die mit allen überkommenen Anschauungen bricht und vor keiner Autorität haltmacht, der Menschengeist, der durch eigene Kraft die Welt und das innere Leben des Geistes zu begreifen und zu beherrschen versucht. Dort die absolute Gebundenheit, die nur den Willen des Einen absoluten weltbeherrschenden Gottes kennt.“ (Geschichte des Altertums)

Vernunftmoral ist der Logik und Eindeutigkeit verpflichtet. Die Theorie dieser Moral muss widerspruchsfrei sein. Die Praxis wird selten diese Eindeutigkeit erreichen und kann sich nur durch Selbstkritik der idealen Theorie nähern.

Besteht ein Widerspruch zwischen Reden und Handeln, ohne dass er selbstkritisch vermerkt wird, muss er als Heuchelei gebrandmarkt werden. Der Vorwurf der Heuchelei kann nur in der autonomen Moral erhoben werden, denn nur hier herrscht das oberste Prüfungskriterium der logischen Widerspruchslosigkeit.

In der Erlösermoral sind Widersprüche belanglos. Hier wacht keine Logik über die Einstimmigkeit von Kriterien und Taten. Der Grund liegt in der Definition des allmächtigen Schöpfergottes, der alles erschaffen hat, nicht nur das Gute, sondern auch das Böse. Da auch Satan, die Verkörperung des Bösen, den Willen des Gottes ausführen muss, ist Gott erhaben über das Kriterium logischer Widerspruchsfreiheit.

„Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel, / ich bewirke das Heil und erschaffe das Unheil. / Ich bin der Herr, der das alles vollbringt.“

In der christlichen Kultur ist das Böse nicht nur erlaubt, sondern geboten. Ohne seine elementare Kraft gäbe es in der Heilsgeschichte keinen Fortgang zum Ende der Geschichte, an dem Gott allen Menschen das Urteil sprechen wird. Das war der Grund, warum es in der abendländischen Geschichte fast keinen nennenswerten Denker gab, der ohne das Böse als treibendes Element zum Fortschritt ausgekommen wäre. Die primitiven Anfangsverhältnisse konnten nur durch die motorische Energie des Durcheinanderwerfers voran getrieben werden.

Popper nennt die friedlichen Anfänge der Kultur – die von Bachofen als Matriarchat bezeichnet wurden – eine geschlossene Gesellschaft, die durch unfriedlichen Wettbewerb und soziale Aggressionen in eine moderne Gesellschaft verwandelt werden muss, in der – trotz aller Regeln – die Starken das Sagen haben.

 Demokratie ist eine Mischung aus friedlichem Miteinander und konkurrierender Überlegenheit über seine Mitmenschen. Machtfreies Debattieren ist nur in Gesellschaften möglich, in denen Einigkeit herrscht über prinzipielle Grundelemente. Fehlt dieser Grundkonsens, ist die Demokratie gefährdet. Das war in der athenischen Polis der Fall, die anfänglich vom Geist einer Grundeinigkeit geprägt war. Doch der immer stärker werdende Konflikt zwischen dem Naturrecht der Starken und dem der Schwachen zerriss das fragile Gebilde.

Poppers Definition der geschlossenen Gesellschaft wird den eingeborenen Stämmen nicht gerecht, die ohne Fortschritt, Streitigkeiten und Konkurrenzen auskommen. Wenn ein Stamm in unendlichen Zeiten sich auf Regeln des Zusammenlebens geeinigt hat, können seine Mitglieder auf künstliche Debatten verzichten. Gestritten muss nur werden, wo Uneinigkeit herrscht. Streiten ist kein Selbstzweck. Die Abwesenheit demokratischen Streits muss nicht bedeuten, dass der Frieden des Stammes durch faschistische Gewalt hergestellt wäre. Wär‘s anders, würden alle unterdrückten Stammesmitglieder beim ersten Kontakt mit der modernen Gesellschaft Reißaus nehmen. Das Gegenteil ist der Fall.

Die abschätzige Formel vom glücklichen Wilden, verbunden mit der Verachtung aller historischen Utopien, ist dem heimlichen Neid der Moderne auf das glückliche Leben der „geschlossenen Gesellschaften“ geschuldet. Die eigene Glücksunfähigkeit der Modernen muss kompensiert werden durch endlose Gier nach Macht über Menschen und Herrschaft über die Natur.

Die Definition modernen Glücks ist – Unglück, Hektik, Unruhe, die Unfähigkeit zur machtlosen Eintracht mit allem, was da kreucht und fleucht. Despotie über das, was die Frommen Schöpfung nennen, ist der selbstruinöse Ersatz für das Glücksverbot auf Erden in Jenseitsreligionen.

Zwar hat sich in der christlichen Welt die autonome Moral der Heiden in hohem Maße zurückgemeldet, doch an der fortwährenden subkutanen Herrschaft christlicher Moral gibt es keinen Zweifel. Der Widerstand der Eliten gegen Moral zeigt den noch immer herrschenden Widerstand frommer Seelen gegen die Unverschämtheit selbstbestimmter Moral.

Das Gegenteil zur logischen Widerspruchslosigkeit autonomer Vernunft ist die Antinomie (= Gesetzlosigkeit) der Allmachtsreligion, in der Gutes und Böses nach Belieben möglich ist. Der mephistophelische Spruch: ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, ist das Motto der gesamten Moderne. Wenn das Böse von Gott erlaubt oder geboten wird, muss es von seinen Gläubigen nicht gemieden werden. Ja, das Böse ist die unbedingte Voraussetzung der Erlösung. Ohne Sünde keine Notwendigkeit der Gnade und Vergebung.

Christen können nach Herzenslust sündigen, denn sie wissen, ihre tätige Reue und Buße wird sie von allem freisprechen. Die heutige Schmähung der Moral ist am wenigsten eine Schmähung göttlicher Imperative, sondern die uralte Aversion der Erleuchteten gegen die Anmaßung der selbstbewussten irdischen Vernunft. Seitdem die deutsche Gesellschaft zu wanken beginnt, kann man die Aufforderung zu welcher Moral hören? Zur christlichen Tugend der Demut. Sie waren hochmütig geworden. Plötzlich empfanden sie ihren Hochmut als Hybris gegen Gott, den sie bereuen mussten, damit der Herr der Heerscharen nicht zuschlägt.

Deutschland ist au fond noch immer ein frommes pietistisches Land, das eine gnädige Obrigkeit benötigt, die den Untertanen vergibt, wie diese der von Gott gegebenen Obrigkeit vergeben. Diese bewusstseinslose Restfrömmigkeit ist noch immer so stark, dass die Aversion gegen heidnisches Selbstbewusstsein sich als Schmähung weltlicher Moral kundtun muss.

Historiker Winkler ist keine Ausnahme unter den gegenwärtigen Moralschmähern:

„Der Historiker wundert sich über das Sendungsbewusstsein der Deutschen und weist dem Protestantismus eine maßgebliche Rolle bei der Moralisierung der Politik zu. Als könne Deutschland die Weltprobleme lösen.“  (SPIEGEL.de)

Wache Menschen haben die Moral erfunden, um ihre Probleme zu lösen. Moralisches Verhalten ist Problemlösungsverhalten. Spräche das nicht für die Deutschen, dass sie den Mut haben, ihre eigenen Probleme und die der Welt nicht Göttern zu überlassen, sondern selbst in die Hand zu nehmen?

Unter Moral ist nicht – wie die Deutschen partout missverstehen wollen – privates Angeberverhalten zu verstehen, das mit politischen Problemen nichts zu tun habe. Moral ist Wahl der richtigen Politik, moralische Weltpolitik ist die einzige Politik, die das Überleben der Menschheit sichern könnte. Unlösbar und überkomplex sind diese Probleme ganz sicher nicht, denn sie wurden vom Menschen in die Welt gesetzt. Also hat er sie auch zu lösen. Alles andere wäre denkfaule und moralisch angekränkelte Dekadenz – oder unbewusste Anhänglichkeit an Gottes Botschaft, dass der Mensch ein sündiges Wesen sei, das aus eigener Kraft nicht selig werden könne.

Winkler hat nichts gegen praktische Hilfsbereitschaft:

„Diese Hilfsbereitschaft ist hocherfreulich. Aber nicht die Neigung, Deutschland als die moralische Leitnation Europas zu präsentieren. Das muss auf große Skepsis bei anderen Völkern stoßen. Manchmal hat man den Eindruck, als glaubten viele Deutsche, Deutschland könne die Weltprobleme lösen. Nach der Parole: Kommt her zu uns, alle, die ihr mühselig und beladen seid.“

Nun treffen wir auf ein seltsames Phänomen. In der neoliberalen Gesellschaft soll in allen Dingen mit allen gnadenlos konkurriert werden, um die Besten zu ermitteln und auszuzeichnen. Nur in moralischen Dingen nicht, den wichtigsten Faktoren zur Problemlösung der Weltprobleme.

Erinnert sich noch jemand an Gandhi, Albert Schweitzer, Nelson Mandela, Martin Luther King, ja, auch an Willy Brandt und Gorbatschow? Waren sie perfekt? Das klingt kritisch, dient aber hämischen Zwecken. Denn niemand ist perfekt und dennoch waren die Genannten moralisch-politische Helden der Menschheit.

 Heute gibt es immer mehr moralische Helden auf der Welt, die sich gegen korrupte Regimes wehren. Unter ihnen viele Frauen, inzwischen auch Jugendliche, die für ihre Zukunft kämpfen. Keine Regierung mag Unruhestifter. Die Mächtigen schicken entweder prügelnde Polizisten oder sagen pauschal Ja und Amen zu allen Forderungen – und fahren danach fort, als sei nichts gewesen. Das ist Merkels palliative Politik. 

Deutschland soll in Maßen moralisch sein, so Winkler, aber sein Licht soll es unter den Scheffel stellen. Nach Winkler müsste Sokrates zu Recht zum Tode verurteilt worden sein – und wenn es nur die verdiente Strafe für seine Besserwisserei und seinen moralischen Hochmut gewesen wäre. Entschuldigt euch, ihr Deutschen, für eure massen-neurotischen Liebes-Anfälle gegen Fremde und Flüchtlinge. Ihr blamiert das Land in der ganzen Welt. Ist da nicht sogar eine heimliche Neigung zu jesuanischem Messianismus zu erkennen? In ihrem Wandel sollen sie ihrem Heiland täglich ähnlicher werden. Doch wehe, sie versuchen es, dann werden sie wegen maßloser Gottebenbildlichkeit teuflischem Hohngelächter preisgegeben.

Wie geht der biblische Spruch weiter?

„Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir.“

Wie kann man von einem anderen lernen ohne ihm ähnlicher zu werden? Die Deutschen sollen Christen sein, doch wehe, sie werden es. Das nennt man paradoxe Intervention, auf Deutsch: Heuchelei und Doppelmoral.

Woher diese „moralische Selbstüberhöhung“? Hier stoßen wir auf politische Abgründe:

„Sie speist sich aus dem Wunsch, dem Fluch einer schuldbeladenen Vergangenheit durch eine Politik zu entkommen, die höheren moralischen Maßstäben genügt als die anderer Nationen. Norbert Blüm, der langjährige Arbeitsminister in der Regierung von Helmut Kohl, hat es im Frühjahr 2016 nach dem Besuch eines Flüchtlingslagers in Griechenland so ausgedrückt: Gerade weil wir Deutschen so schreckliche Verbrechen begangen hätten, sei es doch wundervoll, wenn wir jetzt in aller Welt anerkannt würden als ein Land, das sich um besondere Menschlichkeit bemühe. Gerade weil es sich bei Krieg und Holocaust um deutsche Menschheitsverbrechen handelt, sollten wir mit deren tagespolitischen Inanspruchnahme aufhören. Das läuft sonst auf eine Banalisierung nationalsozialistischer Verbrechen hinaus.“

Wäre moralische Kompetenz nicht die einzige Möglichkeit, der schrecklichen „Unmoral“ des Dritten Reiches zu entgehen und der Welt zu beweisen, dass die Deutschen aus ihren Verbrechen gelernt haben? Allmählich wird das Gedenken an die deutschen Menschheitsverbrechen zur mystischen Religion, zu der Vernunft keinen Zutritt erhält. Das war schon bei jener Demonstrantin der Fall, die sich an Sophie Scholl orientierte, nun sehen wir: ganz Deutschland soll aufhören mit dem überheblichen Versuch, aus seiner Vergangenheit Konsequenzen zu ziehen. Es ist wie bei Luther: schon der Versuch, durch Werke gerecht zu werden, ist ein gotteslästerliches Unternehmen.

SPIEGEL: Wenn es um die Moralisierung der Politik geht, weisen Sie dem deutschen Protestantismus eine »maßgebliche Rolle« zu. Warum?“

Von wem stammt der Satz: pecca fortiter, sed fide, sündige tapfer, wenn du nur glaubst? Und dieser Luther soll schuld sein an der Moralisierung der deutschen Politik? Er ist schuld am Gegenteil, an der hemmungslosen Machiavellisierung der deutschen Politik seit Friedrich dem Großen. Den Gipfel des guten Gewissens zum Bösen bildeten die NS-Schergen, die tatsächlich glaubten, dass sie mit verruchten Taten Gutes tun würden für die Deutschen und die Welt.

Es folgt der nächste Geniestreich Winklers. Den Moralismus der Gegenwart führt er zurück auf die Anmaßung der Deutschen, in der antinapoleonischen Epoche die Erlöser und Heilande der Welt zu sein:

„Die Idee einer deutschen Sendung findet sich schon bei den Gründervätern des deutschen Nationalismus. »Turnvater« Friedrich Ludwig Jahn, Sohn eines evangelischen Pfarrers, gedachte 1810 in seinem Manifest »Deutsches Volkstum« den Deutschen eine Rolle als »Weltbeglücker« und »Heiland« der Erde zu.“

Um ihrem politischen Elend zu entkommen, steigerten sich damals nicht wenige Deutsche in die Rolle von Heilanden und Welterlösern. Vor allem Fichte, der im Gelehrten die Inkarnation Gottes sah: „Der Gelehrte ist der berufene Mittler zwischen Gott und dem Menschengeschlecht: er setzt die Schöpfung fort.“

Aus dieser Vergöttlichung der Gelehrten als Fortsetzer der Schöpfung leitet Fichte die Berufung der Deutschen ab, die Heilande der Welt zu werden. Turnvater Jahn war eine kleine Leuchte dieser Bewegung. Doch sein Erlösungswahn der Welt gegenüber gründete in einer glühenden Feindschaft gegen die Welt. Man muss erlösen, was man nicht für existenzberechtigt hält. Die erlöste Welt wird am Ende der Tage im Nichts verschwinden.

„Haß alles Fremden ist des Deutschen Pflicht“. „Jahn vertrat die Ansicht, Deutschland sei allen anderen Nationen überlegen und deshalb sei es seine Aufgabe, „die Erde als Heiland zu segnen und den Völkern Menschlichwerdungskeime einzupflanzen“. Deutschland müsse und könne eine größere Rolle in Europa einnehmen, wenn man sich auf die Einheit der „Deutschen“ besinne. Ihm schwebte ein „Großdeutschland“ vor, zu dem auch die Schweiz, Holland und Dänemark gehören würden..“

Der messianische Welterlösungsgedanke war die geistige Vorbereitung zur Eroberung und Zerstörung Europas durch Hitler.

Und dieser Hass gegen die Welt soll die Grundlage einer moralischen Politik sein? Hören wir, was Heine zu den messianischen Umtrieben der Deutschen meinte:

„Heine sieht in Deutschland, rund um Jahn und seine Erben, eine „schäbige, plumpe, ungewaschene Opposition gegen eine Gesinnung, die eben das Herrlichste und Heiligste ist, was Deutschland hervorgebracht hat, nämlich gegen jene Humanität, gegen jene allgemeine Menschenverbrüderung, gegen jenen Kosmopolitismus, dem … alle Gebildeten in Deutschland immer gehuldigt haben.“ In den Bücherverbrennungen deutscher Studenten 1817 sieht er ein Vorspiel: „Das war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.““ (in Heer, „Europa, Mutter der Revolutionen“)

Eine vorbildliche moralische Haltung hält der Historiker nicht für eine Einladung an die Völker, gemeinsam die Weltprobleme anzugehen, sondern für eine Variante „der fatalen Tradition des Hypernationalismus und Hypermilitarismus“.

Das schlägt dem Fass den Boden aus. Wer solche Historiker hat, der braucht für militante Duckmäuser und Amoralisten nicht mehr zu sorgen.

Seid moralisch, ihr Deutschen, ist die Botschaft Winklers, aber sorgt dafür, dass eure Moral in der Welt nicht ungünstig aufgenommen wird. Dass man für eine moralische Welt leidenschaftlich kämpfen kann, das bleibt die privilegierte Erkenntnis der tapferen Frauen in Belarus, Ägypten und vielen Ländern der Welt; nicht aber deutscher Tiefendenker, die sich ob ihrer humanistischen Leidenschaft schämen.

Dieses Deutschland hat sich eine Kanzlerin redlich verdient, die sich ihrer humanen Anfälle zu schämen begann und sich seitdem demütig mit Amoral begnügt. Nun verstehen wir, warum die mächtigste Frau Deutschlands ihre wichtigsten Pflichten schleifen lässt, um ihrem Heiland und Erlöser noch eine Chance zu geben.

„Die Idee einer besonderen humanitären Mission Deutschlands findet sich auch in Diskursen über Umwelt, Frieden oder Europa.“

Deutsche, seid nicht so moralisch, ihr bringt nur Unglück über die Welt. Das wird offenbar die kollektive Lehre, die Deutschland aus dem Holocaust ziehen soll.

Wir müssen nichts verändern und verbessern, wir müssen nur absegnen, was ist: was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig. Ein blendender Auftakt für das Jahr 2021.

Fortsetzung folgt.