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Alles hat keine Zeit LIX

Tagesmail vom 28.12.2020

Alles hat keine Zeit LIX,

deutsche Journalisten sind nicht nur leidenschaftliche Zukunftsgucker (früher Propheten genannt), sondern auch verhinderte Geschichtsschreiber, die in auserwählten Augenblicken die Luft anhalten: Was war das heuer für ein Schicksalsjahr? Werden die Geschichtsbücher Merkels Epoche mit drei Sternen auszeichnen?

Welche Geschichtsbücher? Kann es solche noch geben, wenn es keine Geschichte des Menschen mehr geben wird?

Wo warst du, als die Mauer fiel? Als du zum ersten Mal den Namen Corona hörtest? Als Trumps unerhörter Wahlsieg aus dem Äther drang?

Zwischen Prognosen und Prophetien können sie nicht unterscheiden. Prognostiker müssen die Gegenwart kennen, um Zukünftiges vorherzusagen. Aber nur, wenn die Elemente der Gegenwart unverändert bleiben – was niemand vorhersagen kann. Propheten ignorieren alle irdischen Erkenntnisse, nur für göttliche Offenbarungen müssen sie ein Ohr haben.

Tagesschreiber betrachten Geschichte wie das Publikum ein Pferderennen. Mit ihnen hat das Spektakel nichts zu tun. Nicht mal Wetten auf Sieg oder Niederlage können sie abschließen. Denn das Ende der Geschichte werden sie – mit hoher Wahrscheinlichkeit – nicht mehr erleben.

Worüber sie hingegen keine Gedanken vergeuden, sind Fragen zur Zukunftsgestaltung: wie soll die Zukunft der Menschheit aussehen? Fragen nach autonomer Geschichtsbeherrschung des homo sapiens sind verschwunden.

Was bedeutet, die Zeitbeobachter haben die Demokratie beerdigt. Denn Demokratie entstand, als das zoon politicon sich aufmachte, durch gemeinsames Ringen die Herrschaft fremder Schicksalsmächte zu brechen, um selbst Verantwortung zu übernehmen für die Existenz des Menschen – in einer Natur, die ihn nur unter bestimmten Bedingungen überleben lässt.

Solche Bedingungen hält der moderne Mensch für ehrenrührig. Die Randbedingungen seines Siegeslaufs auf Erden will er selbst bestimmen. Alles andere wäre Majestätsbeleidigung. Von Klimakrisen und ähnlichen Belästigungen lässt er sich nicht kujonieren. Auf Autonomie kann er dankend verzichten, nicht aber auf die Herrschaft über Sein und Zeit.

In Zeiten drohenden Untergangs kann es für Siegernaturen nur eine passende Frage geben:

„SPIEGEL: Das Christentum und andere Religionen stellen Gläubigen ewiges Leben in Aussicht. Wäre das aus wissenschaftlicher Sicht überhaupt möglich?

Deelen: Einige Forscherinnen und Forscher gehen davon aus, dass schon jetzt Menschen leben, die 200 Jahre alt werden können. Ich bin da etwas skeptischer. Im Moment sind wir dabei, dass Maximale aus unserer natürlichen Lebensspanne herauszuholen, indem wir die Umwelt an unsere Bedürfnisse anpassen.“ (SPIEGEL.de)

Nicht der Mensch passt sich seiner Umwelt an, vielmehr zwingt er die Umwelt, sich seinen Bedürfnissen anzupassen. Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt. Das ist die angemessene Antwort für demütige Naturdiktatoren, die sich seit christlichen Zeiten die Schöpfung untertan machen.

Vor allem nichts ändern. Uns geht’s gut – abgesehen von den üblichen Losern, denen es nur gut geht, wenn es ihnen schlecht geht:

„Deshalb meine ich, man müsste es jetzt vielleicht einfach mal gut sein lassen mit dem Klagen und Mäkeln. Das betrifft sicher nicht alle, denn manche haben tatsächlich allen Grund dazu: Die Kranken, die Hinterbliebenen, die Arbeitslosen und Insolventen. Das sind aber, aus Sicht der Gesellschaft, keineswegs »wir alle«. Es sind Menschen, denen es wesentlich schlechter geht als dem Kolumnisten und den meisten seiner Leser. Letzteres sollte man, finde ich, einmal täglich mittels Schlagzeile dem Land mitteilen: Wir leben, den meisten geht es gut, wir schaffen das.“ (SPIEGEL.de)

Der Kolumnist schreibt nur für Gewinner, Verlierer sind seiner erlesenen Gedanken nicht würdig. Noch nicht lange her, da stellte Marc Beise fest: In Deutschland leben wir wie im Paradies. Jetzt hat das Paradies eine kleine Corona-Schramme erhalten: doch kein Grund zur Beunruhigung.

„Den meisten geht es gut“ bedeutet: die Triage wird schon in normalen Zeiten exekutiert. Auf Notzeiten muss sie nicht warten. Triage in Normalzeiten wird gewöhnlich – Kapitalismus genannt. In kapitalistischen Zeiten geht es zurzeit noch den Meisten gut. Doch mit abnehmender Tendenz: am Ende der Zeiten wird es nur einer Handvoll Milliardäre gut gehen. Der unheilige Rest wird in den Orkus wandern. Triage ist die Verschleierungsformel für Auserwählung.

„Viele sind berufen, wenige sind auserwählt. Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums.“

Selbst bei religionsblinden Neugermanen dringen inzwischen durch undichte Stellen apokalyptische Partikel. Vor kurzem noch wären sie unter Hohngelächter unter den Füßen zertreten worden. Die ZEIT hat sich mit der Offenbarung des Johannes verbündet und warnt die Menschheit:

„Der Weltuntergang kommt ganz ohne Getöse, schleichend, so wie wir es aus T. S. Eliots Waste Land kennen. Und wie schon bei Johannes sind die Betroffenen unbelehrbar: Sie weigern sich, an die Strafe, das Verhängnis, das eigene Ende zu glauben. Während die Welt allmählich überschwemmt wird, klammern sich die Ertrinkenden noch immer an die beruhigenden Nachrichten, man habe die Katastrophe im Griff. Was bleibt? Die bange Vermutung, dass die Apokalypse kein plötzliches Einzelereignis ist, von dem alle gleichzeitig betroffen sein werden, und dass wir auch nicht auf die eine letzte Welt zusteuern, sondern womöglich schon jetzt in vielen letzten Welten leben. Vielleicht sollte man deshalb, egal ob man an das rächende und erlösende Eingreifen Gottes glaubt, mal wieder die Johannes-Offenbarung lesen. Es könnte uns die Augen öffnen.“ (ZEIT.de)

Das ist keine Salon-Apokalypse mehr. Das geht ans Eingemachte: zum ersten Mal hält der biblische Weltuntergang Einzug in deutschen Gazetten. Was sie bislang nur verschämt – einmal im Jahr – glaubten, davon dürfen sie endlich in johanneischer Grausamkeit reden. Es gibt keinen Ausweg mehr. „Die Hoffnung kommt nur nicht mehr auf galoppierenden Pferden, nicht mehr kriegerisch und siegesgewiss daher, sondern ist selbst rettungsbedürftig geworden.“

Ja, wer leichtsinnigerweise an ein Entkommen vor der Endkatastrophe glauben wollte, wird mit Hitlers Glaubensnähe bedroht:

„Und heute? Hüten sich die Autoren vor der allzu leichtfertigen Verkündigung einer Zeitenwende, weil sie aus der Geschichte wissen, wie gefährlich Heilserwartungen sind. Nicht umsonst entlehnten die Nationalsozialisten das Wort vom Tausendjährigen Reich aus der Offenbarung.“

Wer sich aber Gottes Weisungen unterstellt, dem sind seine finalen Wohltaten gewiss:

„«Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz», heißt es bei Johannes. In der Offenbarung besiegt das Lamm den Drachen, triumphiert Jerusalem über Babylon. Gott schenkt den Menschen einen neuen Himmel und eine neue Erde, im letzten Kapitel auch das Wasser des Lebens. Amen!“

Hier hat eine tapfere Frau geschrieben, die keine Angst kennt vor Apokalypse-Aversionen. Jetzt ist die Stunde gekommen, in der die Wahrheit gesagt werden muss.

„Parallel zum Anwachsen des technischen Selbstzerstörungspotenzials wächst die Apokalypseliteratur an. Und seit der Klimawandel begründete Furcht auslöst, wird die Sintflut als Drohvision immer populärer.“

Die technische Naturzerstörung wird von den Menschen nicht als selbsterfüllende Prophezeiung des Menschen erlebt, sondern als reale Erfüllung von Gottes Wort. Was ER verheißen hat, wird Er auch erfüllen.

Kniet nieder, der Glaube ist dabei, sich in Schauen zu verwandeln. Die Zeiten bloßen Fürwahrhaltens sind vorüber. Gottes Regiment wird allen sichtbar, wehe denen, die bislang den Glauben verhöhnten. Das Ende der Welt: es naht mächtig und unwiderstehbar.

„In der Offenbarung des Johanes wird das Ende der Welt in düsteren Farben geschildert. Die totale Zerstörung und ein Blutvergießen ungeahnten Ausmaßes stehen im Mittelpunkt, wobei die eschatologischen Endschlachten als reale Kriege Christi gegen die Vertreter des Bösen dargestellt sind, an deren Ende diese geschändet und total vernichtet werden. Die heilige Schar wird befehligt von Christus, der als Krieg führender König göttliche Macht besitzt und Züge eines blutrünstigen Gewaltherrschers annimmt. Die Offenbarung radikalisiert das Fremdsein in der Welt, indem sie die politische Macht dämonisiert und als Vertreter Satans darstellt. Rom erscheint als Prototyp des Bösen, als die große Hure Babylons.“ (Manfred Clauss)

Für Christen der auslaufenden Kaiserzeit war das Wort nicht mehr gültig: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers und Gott, was Gottes ist.“ Das galt nur, solange sie politisch bedeutungslos waren. Je mehr ihre Macht im Reiche wuchs, je mehr kam es zum Entweder-Oder. Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich. Niemand kann zween Herren dienen. Entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben oder er wird dem einen anhangen und den anderen verachten.

Ein Märtyrer sagte es ungeschützt: „Ich erkenne die Regierung dieser Welt nicht an.“ Für Christen haben bestimmte irdische Bereiche keine Geltung. Die Macht des Kaisers erkennt der Christ nicht an. In ihm erkennen die Soldaten Christi den Vertreter einer satanischen Macht.

Da die Frommen an die bevorstehende Wiederkehr des Herrn glaubten, lehnten sie alle Kompromisse mit der Welt ab. Sie waren Fremdlinge auf Erden und sehnten sich in eine andere Welt. „Unsere Heimat ist im Himmel“, hatte Paulus geschrieben.

„Liebet nicht die Welt, noch was, was in der Welt ist“, stand im Johannesbrief. „Der Christ ist ein Fremdling in dieser Welt; er ist ein Bürger des himmlischen Jerusalem“, schrieb Tertullian um 200. „Die Welt gehört Gott, die Dinge dieser Welt aber dem Teufel“. Das war bereits die Grundlage der augustinischen Zweireichelehre, dem staatlichen Reich des Satans und dem klerikalen Reich Gottes. Christliche Politiker hatten das satanische Reich, den Staat, solange zu unterstützen, solange der Herr nicht zurückgekehrt war. Je schneller es mit der Welt zu Ende ging, je schneller betrat man den Himmel, das einzig wahre Vaterland der Menschen.

Die Zweireichelehre Augustins, von Luther übernommen, ist auch die Grundlage der Merkel‘schen Politik. Die Welt in ihrem äußeren Bestand hat sie solange zu konservieren, bis Gott selbst das Signal gibt, den Spuk zu beseitigen.

Wer als freiwilliger Märtyrer starb, konnte hoffen, auf direktem Weg in den Himmel zu gelangen. Fast alle Märtyrertode waren freiwillig, ein probates Mittel, um direkt in den Himmel aufzusteigen. Ein Märchen der Kirche, dass die Römer viele Märtyrertode zu verantworten hätten. Die Christen lieferten sich freiwillig aus, um schnellst möglich zu Gott zu gelangen.

Längst war Gewalt gegen Andersdenkende für Christen gerechtfertigt, wenn sie aus Liebe geschah. Liebe und Gewalt schlossen sich nicht aus. Merkels Zweiwege-Politik gegen Flüchtlinge – einmal retten, oftmals verderben lassen – ist streng augustinisch-lutherisch. Liebe durfte den anderen zum Heil zwingen. Gott straft mit der väterlichen Peitsche, damit es den Bestraften gut gehe.

Merkel muss den teuflischen Staat solange in seinem bloßen Bestand schützen, bis der Herr kommt, der die Fäulnis der Welt offenlegen wird. Merkel muss verbergen, dass sie den sündigen Staat verachtet. Sie muss ihn solange schultern, bis Gott ihn persönlich entsorgt. In einem Gemisch aus Verachtung und erzwungener Obsorge entledigt sich Merkel ihrer sauren Pflicht. Sie tut unausgesprochen, was Trump ungeniert zu Protokoll gibt:

„Ich nehme das alles auf mich, nur für euch.“ (SPIEGEL.de)

Für uns, pro nobis. Merkel und Trump sind wesensverwandt, die Selbstinszenierungen freilich sind konträr.

Je härter die Qualen auf Erden ausfallen, je schneller gelangt der Märtyrer in den Himmel. Frauen überwinden als Märtyrerinnen nicht nur die Welt, sondern zugleich ihr minderwertiges Geschlecht. Das deutet sich jetzt schon an in der Asymmetrie der Merkel‘schen Politik: wenig weiblich Mitfühlendes, immer mehr männliche Härte und Kälte, dargeboten in inhaltsleeren sentimentalen Kitschsätzen.

In scheinbarem Widerspruch zum anschwellenden Katastrophismus steht Silicon Valley für die Absicht, mit Technik alle Probleme der Welt zu lösen:

„Im Silicon Valley gibt es inzwischen viele Anhänger einer Denkart, die der israelische Historiker Yuval Harari »Dataismus« nennt: Die Überzeugung, dass sich mithilfe enormer Datenmengen nahezu jedes Problem lösen lässt – auch der Tod. Unternehmen wie Google und Facebook forschen längst an der Verlängerung des Lebens in Richtung Unsterblichkeit. Spätestens bei diesem Thema werden die neuen Prediger zur Konkurrenz für die alten.“ (SPIEGEL.de)

Der amerikanische Heilsweg war von Anfang an angeblich ein Widerspruch zum deutschen. Calvinisten wollten bereits auf Erden das Reich Gottes etablieren, Lutheraner glaubten unerschütterlich an den Leidensweg der Frommen bis ans Ende der Welt. Gleichwohl war den Amerikanern bewusst, dass der Herr zurückkehren musste, um der sündigen Geschichte das Ende zu bereiten. An diese Wiederkunft Christi glaubt immer noch mehr als die Hälfte aller Amerikaner. Und umgekehrt: Hitlers 1000-jähriges Reich war auch eine Vorwegnahme des Himmels auf irdischem Boden.

Zum Widerspruch zwischen amerikanischem und deutschem Heilsweg müsste es nicht kommen. Zu schmerzlichen Differenzen  sehr wohl. Fundamentalistische Amerikaner halten die deutsche Ökologiebewegung für Blasphemie. Wie kann man, wenn man vom Ende der Welt überzeugt sein will, derart verbissen um den Erhalt der Welt kämpfen? Das ist frevelhafter Eingriff in Gottes Regiment.

Im Gegensatz zu den Amerikanern, die noch an die wortwörtliche Auslegung der Schrift glauben, sind die Deutschen noch immer Weltmeister in der Kunst der Entmythologisierung. Das Stichwort stammt von Rudolf Bultmann – jenem Theologen, bei dem Heidegger eine Zeit lang hospitierte –, die Sache stammt vom Romantiker Friedrich Schleiermacher. Der Pietismus war der Romantik vorausgegangen, indem er die Worttreue der Lutheraner – mit der sie viel Hass in der Welt säten – in Gefühlswallungen verwandelte.

Entmythologisieren bedeutet das Herausfiltern aller biblischen Inhalte, die mit dem Zeitgeist unverträglich sind. Es ist eine Modernisierung ohne Rücksicht auf das Original. Würde man dieses Verfahren bei weltlichen Autoren anwenden, gäbe es einen Aufstand unter den Althistorikern. Doch das Wort Gottes muss eine heilige Ausnahme sein.

Theologische Deutungen dürfen nie zu Formeln erstarren, die von der Welt abgelehnt werden. Glaubt niemand mehr an Himmel und Hölle: schwupps, erklären die Theologen Himmel und Hölle zu kindischen Vorstellungen einer alten Zeit.

Nicht das Offenbarungswort richtet den Zeitgeist, der Zeitgeist wird selbst zur göttlichen Instanz, die den Text nachträglich modernisiert. Von diesem Interpretations-Hokuspokus verstehen die Laien nichts, sie wenden sich ab und stellen keine lästigen Fragen. Unbelästigt können die Theologen das biblische Wort nachmodernisieren. Ja, nicht selten tun sie, als sei der Zeitgeist auf ihrem Mist gewachsen.

Die Riege der vielen professoralen Pastorensöhne studiert genau die Welt, um ihre privaten Erkenntnisse als Erkenntnisse der neuesten Offenbarung zu präsentieren. Ihre Raubzüge in der Welt werden regelmäßig zu Ausgießungen des neuesten Heiligen Geistes.

So auch im neuesten Trend, bei niemandem eine persönliche Schuld zu suchen. Die Welt steuert einem garantiert schuldfreien Untergang entgegen. Ist es nicht kindisch, mit dem Finger ständig auf andere zu deuten, um sie an den Pranger zu stellen? Das gilt nicht nur für den privaten Bereich, sondern auch für den rechtlichen und politischen. Den Fahrraddieb und einzelnen Mörder hat man schnell am Kragen. Je komplexer aber die Dinge in kollektiven Katastrophen oder globalen Finanzbetrügereien sind, je undurchdringlicher wird das Geflecht der Ursachen. Fazit: Politiker sind immer unschuldig. Denn ihre Schuld ist nie eindeutig belegbar:

„Ich sehe es als unsere Aufgabe als Kirchen, der Suche nach Schuldigen entgegenzutreten. Sie dient nur der Stabilisierung der eigenen Persönlichkeit: Ich bin es nicht gewesen, es waren die anderen. Das ist ein uraltes Muster. Und dagegen steht die Kernbotschaft des christlichen Glaubens: Man kann sich von diesem Sündenbockdenken frei machen. Der Glaube an Jesus Christus bringt keinen Anspruch auf Realitätsverweigerung mit sich. Den Sinn der Pandemie gibt es nicht. Ich möchte davor warnen, Schuldige in dieser Pandemie zu suchen.“ (Berliner-Zeitung.de)

Früher war alles Gottes Wille, das Gute wie das Böse. Was bedeutet es für das Urvertrauen in Gott, wenn ER auch Ursprung des Bösen ist? Heute ist Gott nur noch Ursprung des Guten. Das Böse bleibt unerkannt. Der Gott, den Lutheraner lieben und fürchten müssen, den müssen sie nicht mehr fürchten. Denn er ist zum „lieben Gott“ pervertiert, pardon, nachmodernisiert. Christus steht sehr wohl für Realitätsverweigerung, wenn die Realität seinen Bedürfnissen nicht entspricht. Den Feigenbaum verflucht er, weil dessen natürliche Realität keine Früchte zeigte.

Vor kurzem hätten die Gottesgelehrten noch bedauernd mit den Achseln gezuckt: den Sinn der Pandemie habe Gott ihnen nicht verraten. Heute klingt‘s anders: diesen Sinn gibt es nicht. Nicht einmal der ökologische Sinn wird anerkannt, dass der Mensch nicht seine Grenzen überschreite und in das Revier der Tiere vorstoße, wo Gefahren auf ihn lauern.

Jesus selbst war der Sündenbock, der alle Schuld der Menschen auf sich lud, um die Menschen vor Gott zu entsühnen: das war das Zentrum christlicher Erlösung. Können die Sünder ihre übergroße Schuld nicht auf das Lamm Gottes abladen, kann es keine Erlösung mehr geben – denn es gibt keine Schuld mehr.

Die christliche Erlösung entleibt sich auf offener Szenerie – und niemand schaut hin, niemandem fällt es auf.

Natürlich diente das Abladen der Schuld auf das Lamm Gottes der „Stabilisierung des Sünders“, sprich, der Rettung der menschlichen Seele, um ewige Seligkeit zu erringen. Alles vorbei: Erlösung und ewige Seligkeit. Das Christentum erfand die moderne Selbstverwandlung, in der man sich täglich neu erfindet.

Der SPIEGEL stellt sich die Frage, warum die Bibel das mächtigste Buch der Welt geworden sei:

„Viele Mitteleuropäer ahnen kaum noch, welchen Reichtum das „unordentliche Buch mit 50.000 Textvarianten“, so sarkastisch der Schriftsteller Arno Schmidt, zu bieten hat. Zwar werden auch viele gläubige Christen eingestehen, dass sie ihr Exemplar nie vollständig gelesen haben. Aber ganz ohne biblische Redewendungen käme selbst ein überzeugter Atheist nur mit Mühe aus. Zu nachhaltig haben christliche Formeln und Sprachbilder sich ins kollektive Gedächtnis der weltlichen Welt eingegraben. Dennoch: Die spätestens seit der Aufklärung nicht mehr verstummte Frage, ob und worin die Bibel recht habe oder was aus ihr zu lernen sei, wird durch keine Textrevision beantwortet.“ (SPIEGEL.de)

Vergebens hofft man auf eine befriedigende Beantwortung der Frage, wie die Bibel zum mächtigsten Buch der Welt werden konnte. Man hört nur leere Sätze und Anmerkungen zum äußeren Text. Zum Inhalt – keinen Ton.

Wird man etwa zur mächtigsten Religion der Welt, indem man die Menschen mit glühenden Verheißungen in die Irre führt? Sie mit ewiger Seligkeit lockt und mit fürchterlichen Höllenstrafen bedroht? Sie mit einer Schrift ködert, die mit endlosen Varianten und Widersprüchen den Gläubigen alles verspricht, was ihr Erlösungsbedürfnis und ihr Hass auf die Welt begehren?

Wieder einmal wird im Namen aufgeklärter Belanglosigkeiten eine Religion exkulpiert, die die Menschheit mit der Apokalypse bedroht. Diese wird in eine selbsterfüllende Katastrophe verwandelt, die mittlerweilen das Überleben der gesamten Gattung gefährdet.

„Wehe der Erde und dem Meer! Denn der Teufel ist zu euch hinabgekommen, und er hat einen großen Zorn, da er weiß, dass er nur noch eine kurze Frist hat. Wenn jemand das Tier und sein Bild anbetet, der wird trinken vom Zornwein Gottes und er wird gepeinigt werden in Feuer und Schwefel. Und der Rauch ihrer Peinigung steigt auf in alle Ewigkeit; und Tag und Nacht haben sie keine Ruhe. Und es fiel Feuer vom Himmel und verzehrte sie …Und sie werden gepeinigt werden Tag und Nacht in alle Ewigkeit. Und der Tod und das Totenreich wurden in den Feuersee geworfen. Dies ist der zweite Tod, der Feuersee. Und in jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen und werden ihn nicht finden, und sie werden begehren, zu sterben und der Tod flieht vor ihnen.“

Warum ist die Bibel zum mächtigsten Buch der Welt geworden? Weil ihre Lockungen und Bedrohungen gekrönt wurden mit dem Preis aller Preise: der Herrschaft über die Welt. „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.“ Der Bibel gelang es, die Menschen nicht nur mit höllischer Angst zu infizieren, sondern zugleich mit der Hoffnung, den Verfluchungen und Verdammungen in den Trost ewiger Seligkeit zu entfliehen:

„Und er wird alle Tränen abwischen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein und kein Leid noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Throne saß, sprach: „Siehe, ich mache alles neu.“

Das ist ein verwerflicher Trost – auf Kosten der Natur und 99% der Menschheit.

Fortsetzung folgt.