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Alles hat keine Zeit LII

Tagesmail vom 09.12.2020

Alles hat keine Zeit LII,

Lockdown? Da vibriert nichts. Der Begriff klingt klinisch rein – wie ein medizinischer Eingriff.

Politik des Einsperrens, der Freiheits- Beschränkung, der Grundgesetz-Reduktion: da kommen wir der Sache schon näher.

Deutschland, das seine Sprache im selben Tempo verrät, wie es das eigenständige Denken aufgibt, bevorzugt das Beruhigende, das sich sachlich kostümiert. Die Politik der Regierung gibt sich alternativlos. Also lasset uns in den sauren Apfel beißen. Haben wir keine Wahl, sind wir frei, wenn wir alles absegnen: Freiheit ist Einsicht in die Notwendigkeit.

Heureka, wir haben die Erde gebrandmarkt, die Natur unauslöschlich geprägt. Mag da kommen, was will, wir werden nicht spurenlos im Schwarzen Loch der Geschichte verschwinden.

Hurra, wir haben die Natur geschändet. Unsere Brandmale werden in Millionen Jahren nicht untergehen. Der faustische Pakt ist Wirklichkeit geworden:

„Ein Sumpf zieht am Gebirge hin,! Verpestet alles schon Errungene;“Den faulen Pfuhl auch abzuziehn. Das letzte war das Höchsterrungene. Eröffn‘ ich Räume viele Millionen, Nicht sicher zwar, doch tätig- frei zu wohnen. Im Innern hier ein paradiesisch Land, Da rase draußen Flut bis auf zum Rand, Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen, Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen. Und so verbringt, umrungen von Gefahr, Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. Zum Augenblicke dürft ich sagen, Verweile doch, du bist so schön. Es kann die Spur von meinen Erdentagen, Nicht in Äonen untergehn.“

Der Erde haben wir‘s gegeben, der Natur gezeigt, unsere Duftmarken gesetzt. Selbst im Weltall sieht man die Brandmale, die wir der Natur eingeätzt haben. Nichts gibt es auf dem Globus, das wir nicht verändert, geschändet, vernichtet – oder neu geschaffen hätten. Das Neue ist der Tod des Alten – wir aber werden die Alten sein, die vergeblich auf das Neue warten.

Faust irrte: im Innern gibt’s kein paradiesisch Land, der faule Pfuhl ist nicht nur draußen. Die Pest erfasst ausnahmslos alle Völker. Von Gefahr sind wir nicht umrungen, sondern im Innern durchsetzt und durchzogen.

Gefahr und Unsicherheit sind unsere Freiheit? Dann wundere es niemanden, dass Faust sich am Ziel wähnt: der Augenblick soll ewig, die lineare Zeit vorbei, die zirkuläre Unendlichkeit der Natur wiedergekehrt sein?

Nichts davon wird eintreten. Den letzten Augenblick werden wir verfluchen, wenn die Gefahren über uns hereinbrechen und an keiner Grenze Halt machen werden.

„Der Kerngedanke bei dem neuen Zeitalter ist der massive Einfluss der Menschheit auf die Umwelt seit der Industrialisierung, der auch noch in ferner Zukunft für Geologen etwa in Gesteinsschichten oder anhand von Fossilien nachweisbar sein wird. Hierzu zählen neue Gesteine wie Beton und Asphalt, ein globales Artensterben beziehungsweise die massenhafte Verbreitung einzelner Arten (Hühner, Ratten, Kaninchen) oder die radioaktiven Hinterlassenschaften von Atombombentests und Kernkraftwerken. Der Klimawandel ist ein wichtiges Element der massiven durch den Menschen verursachten Veränderungen. Auch er wird Spuren hinterlassen, die noch in Millionen von Jahren erkennbar sein werden. Selbst der CO2-Gehalt der Atmosphäre wird mittelbar über Ablagerungen am Meeresgrund oder auch in Tropfsteinen »abgespeichert«. Dies sind bereits heute alles Quellen, über die es möglich ist, Klimaveränderungen in der Erdgeschichte zu rekonstruieren. Das Besondere bei den aktuellen Veränderungen ist jedoch die Geschwindigkeit. Die natürlichen Prozesse erstreckten sich meist über Jahrtausende bis Jahrmillionen. Aktuell laufen sie aber eher in Jahrzehnten bis Jahrhunderten ab. Damit wären die gegenwärtigen Umwälzungen für zukünftige Geologen am ehesten vergleichbar mit dem Asteroideneinschlag zum Ende der Kreidezeit.“ (SPIEGEL.de)

Wir haben die Beschleunigung der Deformation erfunden, die Geschwindigkeit der Selbstzerstörung. Die Natur, diese lahme Ente, haben wir zur Schnecke gemacht. In rasendem Tempo sind wir dabei, uns aus dem Weg zu räumen. Und das noch freiwillig. Niemand zwingt uns, außer wir uns selbst.

Wir erlösen die Natur, indem wir sie von uns selbst befreien: wir sind die neuen Asteroiden, die wie Blitzschläge in die Erde einschlugen. Wenn einst Aliens auf der Erde landen werden, werden sie staunen und sich verwundern, welche Giganten hier gehaust haben müssen! Welche Narben haben sie diesem Planeten geschlagen!

Muss das eine Freude sein, die Verwüstung der Natur mit einem Begriff zu adeln: Anthropozän. Die Krone der Schöpfung, corona creationis, entpuppt sich in dramatischen Akten als Henker der Menschheit. Tusch!

Wo seine Signatur unsterblich werden will, vollzieht sich die Sterblichkeit des Menschen. Ein herrliches Drehbuch für die Gattung des weisen, klugen und schönen Wesens. Wie konnte die Natur ihrem brillantesten Wesen Jahrmillionen lang eine unvergleichliche Signatur verwehren und ihn mit Tieren und Pflanzen auf eine Stufe stellen?

Hören wir die Erfinder der mortalen Erdentaufe:

„Der Ausdruck Anthropozän ist ein Vorschlag zur Benennung einer neuen geochronologischen Epoche: nämlich des Zeitalters, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist.“

Das ist die Erhebung des gemachten Menschen zum Macher und Erschaffer der Natur, die Verwandlung einer Kreatur zum Creator all dessen, was da lebt und webt. Der, der willenlos erschaffen wurde, hat sich selbst transzendiert und zum Gott gekürt. Das Würmchen aus dem Bauch des Weibes hat seine Karriere zum Schöpfer vollendet. Er ist zum Herrn über sich und Mutter Natur, er ist zum Mann geworden.

Der Mann erfand den Gott, der den Menschen erfand, damit der Mensch über sich und alle Kreaturen hinauswachse. Der selbstgewählte Tod der Gattung ist die letzte Voraussetzung ihrer Gottwerdung. Wer sich eigenmächtig beseitigen kann, der hat den Tod überwunden und erhebt sich zum Unsterblichen. Nach Kreuzigung und Auferstehung des Einzelnen und Unvergleichlichen folgt die gleiche Prozedur der gesamten Gattung.

Und das sind die Wundmale der Selbstkreuzigung, die für immer in die Annalen des Universums eingehen werden:

Artensterben
Artenverschleppung
Ausbreitung von Krankheiten
Klimawandel
Abschmelzen der Polkappen
Versteppung und Wüstenbildung
Rückgang des Permafrost
Erwärmung der Ozeane
Versauerung
Korallenbleiche
Veränderung des Sauerstoffgehalts
Veränderung der Meeresströmungen
Übernutzung und Vernichtung der Ressourcen
Versauerung der Böden
Überfischung
Landverlust durch Küstenerosion
Umweltverschmutzung
Gewässer- und Lichtverschmutzung
Radioaktiver Staub
Vermüllung von Kunststoffen,
Gefahren für die Umwelt durch Plastiktüten, Plastikmüll und Mikroplastik.

Eine beeindruckende, brillante Liste, die Ihresgleichen in der Geschichte der Evolution sucht. Keine Tier- und Pflanzengattung, die diesen Selbstkreuzigern gleich käme.

An vorderster Stelle der Totengräber stehen die Genies oder die besten Köpfe aus Wissenschaft und Technik.

Ihre Methoden halten aller Kritik stand. Sie sind so zuverlässig und überprüfbar, dass sie innerhalb von vier Jahrhunderten geradezu unfehlbar wurden – womit sie ihre einstigen Todfeinde, die Erlöser, beerbt und deren ehrfurchtgebietende Stellung übernommen haben.

Genial verstanden sie es, die Menschheit mit aufsehenerregenden Erkenntnissen und Erfindungen so zu verblüffen, dass der Glaube der Menschen an eine Offenbarung nichts ist, verglichen mit dem an ihre Unübertrefflichkeit.

Kein papa christianorum hat je eine Maschine creiert, mit der die Natur dem Willen des Menschen gefügig gemacht werden konnte. Kein Prophet hat je eine Atomspaltung erfunden, mit der die Menschheit ausgelöscht werden kann.

Doch viel wichtiger: keine andere Disziplin hat es besser verstanden, sich einen Kranz des absolut zuverlässigen Erkennens so aufs Haupt zu setzen wie sie sich selbst.

Sie müssen nur sagen: Untersuchungen haben ergeben – und schon verstummt der kleinste Wille zum Widerspruch. Sie müssen nur Formeln und Gleichungen flüstern – und schon liegt das Publikum wortlos auf den Knien.

Die Wissenschaften haben es verstanden, die kälteste Ratio mit der heißesten Inbrunst zu paaren. Wer früher den Popen widerstand, kam in die Hölle. Wer heute den Wissenschaften widersteht, erleidet Schlimmeres: aus der Reihe der Fortschrittlichen wird er für immer verbannt.

Um dies zu verstehen, müssen wir Wissenschaft von Wissenschaft unterscheiden. Methoden der Wissenschaft sind nicht die Anwendung ihrer Ergebnisse oder: Theorie und Praxis sind diametral unterschiedliche Dinge.

Wissenschaftliche Methoden sind wundervoll und bieten ein Urmuster der Erkenntnis. Alles ist überprüfbar, allem kann widersprochen werden, jeder Widerspruch durch eine experimentelle Antwort der Natur aufgelöst werden.

Ganz anders die Praxis der Wissenschaften, die das Leben der Menschen bestimmen. Auch sie nennt sich Wissenschaft, doch das ist Selbsttäuschung und Trug. Praxis ist Politik und damit den politischen Widersprüchen der Menschen unterworfen. Diesem Kampf der politischen Ideologien und Interessen entzieht sich die Wissenschaft, indem sie die Aura ihrer Theorien – verbotenerweise – auf die politischen Grabenkämpfe der Menschen überträgt.

Wenn ein Virologe, einem Papst nicht unähnlich, behauptet: solange Politik keine strengen Einsperr-Maßnahmen anordnet, zeige sie, dass sie sich der Wissenschaft verweigere, dann demonstriert er, dass er zwischen Wissenschaft und politischen Schlussfolgerungen nicht unterscheiden kann. Er ist expertenblind geworden.

Naturwissenschaftliche Erkenntnisse kann man nur in speziellen, streng definierten Nischen der Realität gewinnen. Erkenntnisse müssen jederzeit nachrechenbar und durch beliebig wiederholbare Experimente überprüfbar sein. Die reduzierten Nischen gibt es nur in Laboren, Versuchsanlagen und sonstigen Experimentalsituationen.

Ganz anders die pralle Wirklichkeit der Menschen, in denen es strenge Methoden nicht geben kann. Hier gibt es keine politische Meinung, die nicht von einer konkurrierenden vom Tisch gefegt werden würde.

Zwar gäbe es Möglichkeiten genug, auch hier die konkurrierenden Meinungen zu überprüfen – vorausgesetzt, man einigte sich auf ein Ziel, das durch politische Arbeit erreicht werden sollte. Etwa: das Glück der Menschheit als Wohlbefinden aller. Dann wäre es gar nicht so schwer, die besten Methoden des Glücklichwerdens zu überprüfen.

Ein gemeinsames Ziel aber ist momentan illusorisch. Selbst wenn die Mehrheit der Völker sich auf das Ziel eines allgemeinen Friedens einigen könnte, würden Despoten und Priester energischen Widerstand leisten. Die Selbstbestimmung des Menschen lehnen beide autoritäre Gruppen kategorisch ab. Und die Priester würden darauf bestehen: auf Erden muss der Mensch leiden, damit er im Jenseits selig werden kann.

Das Nichtberechenbare und Nichtexperimentelle vertreten jene Wissenschaften, die nur auf die Kraft folgerichtigen Denkens und humaner Erfahrungen setzen. Da Denken und Erfahren nicht im gleichen Maße nachvollziehbar sind wie die objektiven Methoden der Mathematik und Naturwissenschaft, bleiben die Philosophen machtlos, solange die Menschen nicht willens sind, sich auf Denken als Wahrheitssuche einzulassen.

Die Wissenschaften sind in eine Sackgasse geraten. Längst forschen sie nicht mehr um des Wissens, sondern um der Macht willen. Selbst im Bereich reinen Wissenwollens sind sie fragwürdig geworden. Ihre Methoden und Erkenntnisse mögen immer variabler werden – doch wie rechtfertigen sie ihre Elfenbeinturm-Praxis, wenn sie nicht mehr fähig sind, der Menschheit den Zweck ihres Tuns zu vermitteln. Sie forschen auf Kosten jener Menschheit, die sie verachten oder ignorieren. Abgesehen, dass auch ihr „reines Wissenwollen“ nicht nur an abstrakten Theorien interessiert ist, sondern an gigantischen Transformationen ins Machtförmige, hätte kein Mensch etwas gegen ihre Forschung, wenn sie ihren Elfenbeinturm selbst finanzieren würden.

Wissenschaft hängt von jenen ab, die von den Wissenschaftlern ignoriert werden und von denen sie dennoch bewundert werden wollen. Was zur Folge hat: ihre Forschungsarbeit wird esoterisch. Wissenschaftsgläubige Medien machen Ah und Oh vor Verzückung, ohne die geringste Frage zu stellen: cui bono?

Die Griechen begannen ihre Aufklärungsepoche mit Naturphilosophie. Bald entdeckten sie, dass die Erforschung des Menschlichen notwendiger sei, um ein gutes Zusammenleben der Polis zu ermöglichen. Sokrates holte die Philosophie „vom Himmel auf die Erde“. Solange er nicht wisse, wer er selber sei, könne er mit Naturerkenntnissen nichts anfangen. Das war kein Verbot der Naturwissenschaften, sondern ein Hinweis auf unterschiedliche Dringlichkeiten. Erst müsse der Mensch seine existentiellen Probleme lösen, bevor er abschwirrt in Sphären, deren Erforschung dem Menschen nicht dienlich ist.

Der folgende SPIEGEL-Artikel ist voll „atemberaubender Idolatrie“, ohne die geringste Frage zu stellen: brauchen wir das, um die wirklich atem-beraubenden Umweltprobleme zu lösen:

„In seinen sogenannten Penrose-Diagrammen gelingt es ihm, mittels eleganter geometrischer Manipulationen, sogar die Unendlichkeit des Universums zu bezwingen. Diese Fähigkeit kam ihm auch beim Verständnis schwarzer Löcher zugute, in deren Umgebung Raum und Zeit auf kaum mehr vorstellbare Weise verkrümmt oder gar verwirbelt sind. Schon rein äußerlich ist sein Buch ein Unikum: In einem mit Formeln gespickten 500-Seiten-Wälzer, der es auf die Bestsellerlisten schaffte, lädt der Autor zu einer atemberaubenden Reise durch die Wunderwelt der Physik ein.“ (SPIEGEL.de)

Religiöse und wissenschaftliche Ekstase sind verwechselbar geworden. Beide sind esoterisch und nur Eingeweihten zugänglich. Die Unendlichkeit des Universums soll bezwungen werden? Geht’s noch gigantomanischer? Das Ganze erinnert an die Erfindung der Unsterblichkeit in Silicon Valley. Je mehr die Menschheit in suizidale Probleme abdriftet, je mehr flüchten ihre Genies ins Phantastische – mit Ergebnissen, die sich aller Überprüfung entziehen.

Bertrand Russell, exzellenter Logiker und Mathematiker, formuliert die Ausweglosigkeit der modernen Wissenschaft:

„Die von der wissenschaftlichen Technik inspirierten Philosophien sind Machtphilosophien und neigen dazu, alles Nicht-Menschliche als bloßen Rohstoff anzusehen. Ziele und Zwecke werden nicht mehr beachtet; nur die Tauglichkeit der Methode wird gewertet. Auch das ist eine Art Wahnsinn und zwar die heutzutage gefährlichste Form des Wahnsinns, gegen die eine gesunde Philosophie eine Gegengift erfinden sollte.“ (Philosophie des Abendlandes)

Wie konnte die moderne Wissenschaft zur absurden Selbsteinschätzung gelangen, sie habe keine Rechenschaftspflicht gegenüber dem ordinären Rest der Menschheit?

Die Entwicklung begann im Streit Galileis mit dem Papst, der ihm verbot, seine Forschung mit „kosmologisch-ethischen Fragen“ in Verbindung zu bringen. Die sollten weiterhin das Privileg der Kirchen bleiben, die keine Konkurrenz in irdischen und überirdischen Sinndeutungen duldeten. In seiner Forschung sollte Galilei bei rein wissenschaftlichen Fragen bleiben.

„Indem die Kirche den „positiven“ Forschungsbereich der Himmelmechanik für die Spezialforschung freigab, öffnete sie der Naturwissenschaft den Raum exakter Forschung, während sie den Forschern den Bereich des Gewissens verschloss und dafür sorgte, dass diese Wissenschaft alle Gewissensfragen vermied. Dadurch schnitt sie exakte Forschung nicht nur von allen ethischen Bindungen ab, sondern förderte auch ihre Trennung von der Gesamtwissenschaft. Mit ethischer Neutralisierung sprach sie den Forscher von jeder Verantwortung frei, trennte das Rationale vom Irrationalen, die exakte Forschung von aller Ethik und Philosophie.“ (Wagner) .

Seitdem war Wissenschaft alles erlaubt, gleichgültig, in welchem Maß sie die Welt der Menschen bedrohte. Sie forschte und brillierte. Was die Politik mit ihren Erkenntnissen anstellte, dafür war sie nicht mehr zuständig. Was aus dieser Haltung wurde, zeigt die fast 90%ige Apolitie der heutigen Wissenschaft. Um jeden Wissenschaftler, der seine Stimme gegen die Politik des lebensgefährlichen Durchwurstelns erhebt, muss man heute dankbar sein.

Max Webers katastrophale Forderung nach Werturteilsverbot ist noch immer das Credo der Wissenschaft, die in einem Kristallpalast oberhalb der Gesellschaft ihren szientiven Gottesdienst zelebriert. Wie Mönche nur ihrem Gott dienten, so dienen ihre säkularen Nachfolger nur dem Gott reiner Erkenntnisse – die dennoch nach Macht über Mensch und Natur gieren.

Die Übereinstimmung von Wissenschaft und Theologie ist besonders bei dem englischen Nobelpreisträger Frederick Soddy ersichtlich. Während viele seiner Kollegen in der von atomaren Kräften durchdrungenen Welt die Apokalypse erkannten, erscheint sie bei Soddy, dem Mitentdecker des radioaktiven Atomzerfalls, als „Heilszeit endzeitlicher Fülle, die mit der Umwandlung der Materie heraufkommen wird. Unter den fortschrittsgläubigen Forschern bezeichnet er einen Gipfel der eschatologischen Wissenschaftsreligion. Auf ihn geht die noch heute geltende Selbstauslegung der Kernwissenschaft zurück, die biblische Heilsbilder ewiger Fülle auf die Atomenergie projiziert. Soddys Fortschrittsglaube an künftige Wissenschaftswunder löste den biblischen Heilsglauben ab. Heilsgeschichte wird durch die Geschichte des Fortschritts verdrängt, Eine Menschheit, die imstande wäre, die Naturelemente beliebig umzuwandeln, müsste nicht länger ihr Brot im Schweiß ihres Angesichts verdienen. Mit Leichtigkeit könnten sie verödete Kontinente fruchtbar machen, das Eis der Pole schmelzen und den ganzen Erdball in ein Paradies verwandeln.“ (ebenda)

Das Eis der Pole schmilzt, doch die Kontinente vertrocknen und veröden. Die heilige Transsubstantiation (Umwandlung) der minderwertigen Natur in den Garten Eden – heute vom Silicon Valley mit dröhnenden Parolen weitergeführt – ist ins Gegenteil verkehrt worden.

Die führenden technischen Gurus haben sich mit der drohenden Apokalypse abgefunden und flüchten in die Welt der Sterne. Die Wissenschaft wird vom hohen Ross absteigen und dem törichten Volk Rede und Antwort stehen müssen. Wissenschaft ohne Demokratie ist Wissenschaft ohne Verantwortung. Wissenschaft ist kein säkularer Gottesdienst, sondern Dienst am Menschen.

Fortsetzung folgt.