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Alles hat keine Zeit LIII

Tagesmail vom 11.12.2020

Alles hat keine Zeit LIII,

ein Donnerschlag erging über das geplagte Land – und niemand merkte es, keiner drehte sich um, alles ging seinen gewohnten Gang. So schnell ist das Vaterland – nein, das Mutterland – nicht zu erschüttern:

O Deutschland hoch in Ehren,
Du heil’ges Land der Treu,
Haltet aus! Haltet aus!
Lasset hoch das Banner wehn!
Zeiget stolz, zeigt der Welt,
Daß wir treu zusammenstehn,
Daß sich alte deutsche Kraft erprobt,
Ob uns Wohlstand
strahlt, ob Corona tobt!
… Haltet aus im Sturmgebraus! … 
(Nach „O Deutschland hoch in Ehren“, Deutsches Soldatenlied 1859)

Was war geschehen? Im Zentrum der deutschen Republik, mitten unter den Gewählten des Volkes, erklang eine Stimme wie aus fernen, untergegangenen Zeiten:

„Ich glaube an die Kraft der Aufklärung. Dass Europa heute dort steht, wo es steht, hat es der Aufklärung zu verdanken und dem Glauben daran, dass es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die real sind und an die man sich besser halten sollte. Ich habe mich in der DDR zum Physikstudium entschieden, weil ich ganz sicher war, dass man vieles außer Kraft setzen kann, aber die Schwerkraft nicht, die Lichtgeschwindigkeit nicht und andere Fakten auch nicht. Und das wird auch weiter gelten.“

War, mitten im Getümmel der Zeiten, ein Wunder geschehen? War die oberste und mächtigste Lutheranerin des Reformationslandes, ihres Glaubens überdrüssig, zur Vernunft gekommen? War Vernunft, nach Auskunft des Königsbergers, nicht unverträglich mit jeder Art Afterreligion?

„Religion tritt uns zunächst als positive, geoffenbarte Religion entgegen, als Inbegriff statutarischer Glaubenssätze und Kulthandlungen. Soweit in diese das Wesen der Religion gelegt wird, neigt die Religion zum Afterdienst, wird sie zu einer Werbung um die Gunst Gottes, die als solche keinen moralischen Wert hat. Afterdienst ist eine vermeintliche Verehrung Gottes …, wodurch dem wahren Dienste gerade entgegengehandelt wird.“

War die Pastorentochter Paulus und Luther untreu geworden? War sie abgefallen von Gottes Wort?

„Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen und nicht Christus. Ich werde die Weisheit der Weisen vernichten und die Klugheit der Klugen verwerfen. Wo ist ein Weiser? Wo ein Schriftgelehrter? Wo ein Wortführer in dieser Weltzeit? Hat Gott nicht die Weisheit der Welt als Torheit entlarvt? Denn da die Welt angesichts der Weisheit Gottes auf dem Weg ihrer Weisheit Gott nicht erkannte, beschloss Gott, alle, die glauben, durch die Torheit der Verkündigung zu retten.“

War die Fromme von Gott über Nacht zur Torheit der Welt abgefallen? Hatte sie erkannt, dass ihre Politik nichts als Torheit war? Woher kam ihr die Erleuchtung, dass echte Vernunft Weisheit der Welt sein muss? Wie trägt sie die Last, irdische Philosophie sei nichts als Lug und Trug?

Wie würde Luther, der Glaubensheld ihrer Jugend, diesen Abfall kommentieren? Würde er sie nicht in die unterste Hölle verdammen?

Luther hasste die Vernunft, beschimpfte sie als Hure, woraus wir entnehmen, er war scharf auf sie, musste aber seine Brunst verleugnen.

„Ich wenigstens glaube, Gott diesen Gehorsam zu schulden, gegen die Philosophie wüten (…) zu müssen.“

„Die ganze Philosophie seit Aristoteles sei Menschenwerk, versuche Gott durch eigene denkerische Leistung zu erreichen oder zu begründen, und das sei Hochmut und falsche Selbstsicherheit. Klar, dass Luther den Humanismus ablehnt und verketzert. Die „Reformation“ Luthers ist „anti-rational“ und „anti-humanistisch“, da sie von den Fähigkeiten und der Schöpferkraft des Menschen nichts hält.“ (Linkezeitung.de)

Ja, vor dem Sündenfall sei die Vernunft etwas Herrliches gewesen, Adam und Eva hätten den schönsten und glänzendsten Verstand gehabt. Aus und vorbei. Der engelgleiche Verstand hatte die Urmutter nicht davor bewahrt, den Verlockungen eines listigen Tieres zu erliegen.

Und hier trennen sich die Nationen Europas. Während der deutsche Augustiner seinen Schöpfer um Gnade anflehte und seine Nation einer totalitären Obrigkeit auslieferte, ging der Engländer Francis Bacon den ungeheuren Weg: zurück zur Vollkommenheit, zurück in den Schoß der Unschuld – und der gottgleichen Macht über die Natur.

Der Mensch sei fähig, so der Engländer, den Sündenfall zu überwinden und die volle Vernunft der Urzeit wieder zu erlangen. Er müsse sich nur den Gesetzen der Natur unterordnen, um sie zu beherrschen. Nicht durch Magie und kabbalistische Beschwörungen sei Natur zu erkennen, sondern durch strenge Beobachtungen und wiederholbare Experimente. Die Natur mache keine Bocksprünge.

Der Glaube an die berechenbare Natur führte England auf den Weg zur siegreichen Naturwissenschaft und zur gloriosen Eroberung der Welt. Der Glaube an die demütigende Gnade führte die Deutschen in Religionskriege und die Ohnmacht eines zerrissenen Landes.

Hegel erfand seine Naturphilosophie aus dem Kopf. In seiner Dissertation bewies er kraft schwäbischer Spekulation, dass es einen bestimmten Himmelskörper nicht geben könne – dessen Existenz ein dänischer Astronom per Fernrohr längst bewiesen hatte. Erst als Hegel überwunden war und die Deutschen von Franzosen und Engländern gelernt hatten, konnten sie zur Weltspitze aufschließen.

Auch Bacon musste sich mit der Schrift auseinandersetzen. Das Wort des Paulus: „Erkenntnis bläht auf“ und die Worte des Predigers: „Viel Wissen bringt viel Unmut“ und „wer die Wissenschaft mehrt, mehrt den Schmerz“, musste er so umdeuten, dass er dem Weg des „dissecare naturam ( Zerstückeln der Natur) und „Wissen ist Macht“ folgen konnte.

Er interpretierte jene Worte als Warnung vor den Erkenntnistrübungen, Vorurteilen und Sensationen des Weltlebens, denen der Forscher in das ungetrübte Reich der Natur entfliehen konnte. Dort dürfe der Mensch auf unendlichen Fortschritt hoffen, kein Teil der Welt sei menschlichem Erkennen verschlossen.

Wie Galilei begriff Bacon die Wissenschaft als eigentliche Offenbarung, die die widersprüchlichen Aussagen der Schrift durch Eindeutigkeit übertreffen würde. Bacons Wissenschaftsziel ist die Rückkehr des Menschen in seine Machtstellung vor dem Sündenfall.

Hier schieden sich die Modernen von den Griechen, die ihr Naturerkennen nicht als Machtanhäufung verstanden. Als die Griechen erkannten, dass Fortschritt nur durch gewaltsames Eindringen in die Natur möglich wäre, beendeten sie ihre Forschungen und begnügten sich mit „Theorie“: mit Schauen und Bewundern des Kosmos.

Selbstbescheidung verachtete Bacon. Er wollte biblische Gottebenbildlichkeit erlangen, indem er sein Wissen über die Natur zur endlosen Machtanhäufung verwenden wollte.

Während die Deutschen den Weg der ecclesia patiens gingen, die sich einer totalitären Obrigkeit beugte, bevorzugte das stolze Britannien den Weg der ecclesia triumphans durch Natur- und Welteroberung. Das Verhängnis beider nationaler Wege war komplementär-unheilvoll.

Der englische Weg – der sich später zum amerikanischen erweiterte –, war einerseits der Weg zur Demokratie, andererseits aber – durch Wissenschaft und politische Fremdbeglückung – zum militanten und technischen Wettbewerb um die Führungsrolle der Welt geworden. Die fortschreitende Zerstückelung der Natur durch Wissen-ist-Macht übernahmen alle Völker. Die Folgen sehen wir heute als Klimagefahren.

Die Deutschen, lange in der Bedeutungslosigkeit verschollen, mussten ihre Nichtigkeit kompensieren durch Verschmähen der Demokratie und eschatologische Welteroberungsgelüste.

Heute hat das demokratische Modell große Teile der Welt erobert, doch in Sachen Naturverderbnis gibt es niemanden, der ohne Sünde wäre. Die Herrschaft der freien Völker hat sich der Despotie eines unendlichen Fortschritts verschrieben.

Der griechische Entschluss zur Selbstbescheidung steht ihnen nicht frei. Der Automatismus einer Geschichte diktiert ihnen den Weg in den Abgrund. Wählen können sie nur zwischen verschiedenen Individual-Karrieren, die Wahl zwischen bewundernder Schau und endlosem Zerstückeln bleibt ihnen verschlossen.

Bacons Ziel war „Nachahmung des Himmels“, kein Jota weniger. Wissenschaft sollte „eine neue Natur“ erzeugen, indem sie „die Umwandlung der Elemente durch den geheimen Prozess des Vorgangs und der Bewegung“ entdeckt. Das war die Vorwegnahme der Kernumwandlung.

Kein Teil des Weltalls sei „der menschlichen Erforschung“ verschlossen, ruft Bacon den Forschern zu und fordert sie auf, ihren „kränklichen Sinn für Besonnenheit“ aufzugeben und „verwegen auf unendliche Fortschritte zu drängen“.

Die Weissagung eines jenseitigen Endziels erzeugte den hybriden Fortschrittsglauben der Moderne. Die Erleuchtung durch den Glauben wurde zu einer Mixtur aus exoterisch-rationalen Methoden wissenschaftlichen Erkennens und esoterischen Visionen einer Heilsgeschichte, die auf die Apokalypse zusteuert.

Wissenschaftler wissen nichts über ihre Wurzeln und die Geprägtheit ihrer Triebkräfte durch religiöse Illusionen. Sie betrachten sich nur im Spiegel ihrer Methoden und ihres Erfolgs durch Naturüberwältigung.

Da sie ihr Werden ausblenden, wissen sie nichts über die Beweggründe ihrer religiösen Phantasterei. Sie glauben, das Abrakadabra der Magie und subjektiven Fürwahrhaltens überwunden zu haben. Schrecklicher kann man sich nicht täuschen.

Wer Naturwissenschaften studiert, muss über Wissenschaftstheorie und Historie ihrer Entstehung nichts lernen. Wie der Zeitgeist alles Vergangene verschmäht, um sich nicht selbst auf die Schliche zu kommen, so verharren kühle Rechner und Experimentatoren in Torheit – vor der Vergangenheit, die zur Torheit ihrer Geistesabwesenheit führt.

Noch immer beharren sie auf der Illusion, sie würden um des Wissens willen forschen. Das Wissen-ist-Macht-Prinzip beträfe nur die Wissenschaften auf der Erde. Die Erforschung des Weltalls hingegen sei reines und unberührtes Wissenwollen. Eine schreckliche Selbsttäuschung. Solange sie keine technische Umsetzung ihrer neuen Erkenntnisse kennen, geben sich die Genies bescheiden und nur an Erkenntnis interessiert. Kaum finden sich praktische Nutzanwendungen, zucken sie unschuldig mit den Schultern: jetzt seid ihr dran, ihr Ignoranten. Wir haben geforscht und entdeckt, jetzt müsst ihr mit den Ergebnissen leben.

Bacon verabscheute das griechische Wissen um des Wissens willen. Ziel der Wissenschaft sei nicht die „Mehrung der Wahrheit und die Fülle des Geistes, sondern eine gottähnliche Allmacht über die Schöpfung“ Der Fortschritt der Wissenschaft soll zum „Urteil des Weltgerichts“ führen. Erfindungen seien „Nachahmungen der göttlichen Werke“. Die Überlegenheit der Europäer über die Wilden Neu-Indiens war für ihn das, was Hobbes später mit seinem Wort bezeichnen sollte: homo hominis Deus, der Mensch ist dem Menschen ein Gott.

Ist Merkel eine Ausnahme unter den physikalischen Kollegen ihrer Studienzeit? Oder steht sie auch im Nebel? In ihrer Ode an die Aufklärung entlarvte sie die Gründe ihres naturwissenschaftlichen Studiums:

„Dass Europa heute dort steht, wo es steht, hat es der Aufklärung zu verdanken und dem Glauben daran, dass es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die real sind und an die man sich besser halten sollte. Ich habe mich in der DDR zum Physikstudium entschieden, weil ich ganz sicher war, dass man vieles außer Kraft setzen kann, aber die Schwerkraft nicht, die Lichtgeschwindigkeit nicht und andere Fakten auch nicht. Und das wird auch weiter gelten.“

Es ist wie bei den Virologen: sie können nicht unterscheiden zwischen der reinen Welt ihrer Erkenntnisse und deren unreiner Anwendung in der Praxis. Die ewigen, berechenbaren und zuverlässigen Gesetze der Natur sind eben nicht die unberechenbaren und irrationalen Gesetze der Menschenwelt. Ist Politik eine Naturwissenschaft? Über die Blindheit der Naturwissenschaftler kann man nur staunen. Die vergängliche Geschichte fehlbarer Menschen können sie nicht unterscheiden von der Unvergänglichkeit und Konstanz der Natur.

Carl Friedrich von Weizsäcker, der fromme Naturwissenschaftler, schrieb zwar eine „Geschichte der Natur“, um Gottes Wirken in der Natur und in der menschlichen Geschichte sich annähern zu lassen. Doch keine Evolution kommt daran vorbei, die Grundgesetze der Natur konstant zu halten. Der launenhafte und willkürliche Gott des Jenseits ist nicht die absolut zuverlässige Göttin der Natur.

Um die fehlbare Welt des Menschen in der Politik zu erforschen, hätte Merkel Geisteswissenschaften studieren müssen, die keine absolut zuverlässigen Gesetze kennen. Worunter diese noch immer leiden und Minderwertigkeitsgefühle gegenüber den Naturwissenschaften entwickeln. Notdürftig behelfen sie sich mit subjektiven Fragebögen und statistischen Berechnungen.

Wie Popper einmal höhnte: Fragen wollen unbewusst die eigenen Überzeugungen verifizieren. Statistik ist die bewundernswert exakte Berechnung des Unexakten. Vergleiche mit exakten Ergebnissen berechenbarer Naturgesetze verbieten sich von selbst.

Journalisten, deren Ehrgeiz vor allem darin besteht, schreiben zu können, haben selten statistische Methoden studiert. Was sie nicht als Mangel empfinden: sie halten sich für unbefangen und objektiv genug, um mit Hilfe ihrer Schreibkünste die Experten zu durchleuchten.

Doch die angemaßte Überlegenheit ist nichts als ein Kotau vor denen, die es angeblich wissen. Wenn ein Experte in hohem Ton deklariert: Untersuchungen haben ergeben, fragen sie weder nach der Art der Untersuchungen, noch nach Umfang oder Repräsentativität der Umfragen. Sie müssten die Fragen der Fragebögen untersuchen, um deren verborgene suggestive Kraft aufzudecken. Eine Korrelation ist keine Kausalität. Fliegen viele Störche ein und viele Kinder werden geboren, ist das kein Beweis, dass Störche die Kinder bringen. Häufen sich die Korrelationen, kann man Kausalitäten vermuten. Mehr nicht.

Wenn Studienergebnisse sich widersprechen, müssten die Gründe erforscht werden. Doch da geht nichts. Wie gläubige Kinder schauen die Edelschreiber auf die Experten, deren Kompetenz sie schon bei der Vorstellung als Professoren, Gutachter und Berater vorwegnahmen. Die Qualitäten eines Wissenschaftlers aber sind nicht identisch mit Einzelheiten seiner Biographie, sondern erschließen sich nur an der Validität seiner wissenschaftlichen Arbeit.

Kurz: die wissenschaftlichen Ansprüche, nicht nur in Deutschland, sinken rapide ins Nichts. Eine Wissenschaft, die nur in sich selber brütet, ohne sich der Öffentlichkeit so mitzuteilen, dass diese ein kritisches Korrektiv bieten kann, versteinert zu Machtinstrumenten der Führungsklassen.

Wie konnte dieser Verfall geschehen?

a) durch mangelnde Selbstreflexion der Wissenschaften, die nur noch ihre Fachsprache kennen, aber nicht mehr genötigt sind, sich vor einem neugierigen Laienpublikum zu rechtfertigen.

b) durch den Verfall strenger Argumentationskunst zur autoritären Rhetorik. Da wiederholt sich, was in der Polis zum Verfall der Demokratie beigetragen hatte: der streitige Kampf um Wahrheit wurde zur Kunst des Überredens: Philosophie als Aufforderung zum Selberdenken wurde zur Redekunst, die den Menschen fernsteuert.

Dieser Verfall wurde erkennbar am Sophisten Gorgias, der der Philosophie eine Absage erteilte und sich mit dem Schein der Wahrheit, der Wahr-scheinlichkeit, begnügte. Gorgias lernte die Kunst der Rede, deren gewaltige Wirkung er schon bei seinem Meister Empedokles bewundern konnte.

In Rednerschulen lernte man die Kunst des Überredens, „die Wahrscheinlichkeit höher zu schätzen als die Wahrheit und durch die Raffinesse des Wortes das Kleine groß und das Große klein erscheinen zu lassen.“

Rhetorik wurde zum Urbild heutiger Werbung und sophistischer Außenlenkung des Einzelnen durch subliminale Reize. Die Postmoderne beliebig subjektiver Meinungen ist keine Erfindung der Moderne.

Da Medien es ablehnen, sich am Streit der Meinungen zu beteiligen – was sie nicht daran hindert, diese beiläufig und unterschwellig einzufügen –, sind sie nicht genötigt, ihre Positionen en détail zu rechtfertigen. Gewöhnlich scheiben sie echolos in die Dämmerung eines unbekannten Publikums. Zwar dürfen LeserInnen ihre Meinungen schreiben, mit einem Dialog aber hat das Ganze nichts zu tun. Erzürnt über die scheinbare Unberührbarkeit der SchreiberInnen bleibt den Lesern nichts anderes übrig – als der Shitstorm.

Die Moderne versinkt in endlosen Monologen, Vorlesungen, Essays, Glossen und rhetorischen Talkshows.

In der Corona-Krise erweisen sich die Mächtigen als unfähige Erklärer und miserable Debattanten. Kaum ein Interview, das in der Lage wäre, die Widersprüche der Befragten aufzudecken und ihre rhetorischen Seifenblasen zum Platzen zu bringen. Das ginge nur, wenn die Interviewer ihre eigene Meinung rechtfertigen müssten. Eben dies verbieten sie sich, um ihre über allen schwebende Scheinobjektivität nicht zu gefährden.

Die Epoche der Aufklärung ist in Deutschland noch nicht angekommen. Denn Aufklärung ist eine Sache der Vernunft. Wer aber will heute vernünftig sein? Das ist so verlockend wie moralisch werden. Moral ist die Vernunft humanen Verhaltens, Vernunft die Fähigkeit, das eigene und fremde Denkens auf Folgerichtigkeit zu überprüfen.

Die Unverträglichkeit des Merkel‘schen Vernunftglaubens mit ihrem Glauben an einen philosophiehassenden Gott wurde in den Medien mit keiner Zeile erwähnt. Der Glaube an eine Offenbarung verträgt sich nicht mit dem Denken eines autonomen Aufklärers.

Warum werden in Deutschland eklatante Selbstwidersprüche nicht erkannt? Der Grund liegt in einer deutschen Eigentümlichkeit: das Land Hegels kennt keine Widersprüche, die durch faule Kompromisse, pardon, Synthesen, nicht aufgelöst werden könnten.

Das führte zur Einheit aus Vernunft und Glauben. Mittlerweilen zur dreisten Lüge, Vernunft sei die Erfindung des Glaubens. Luther, Anhänger der Offenbarung, wurde bei Hegel zur Antithese der heidnischen Philosophie, die begierig ist, sich in göttlichen Synthesen zum Verschwinden zu bringen.

Wäre Merkel echte Anhängerin der Vernunft, würde sie Macrons Kampf gegen religiösen Terrorismus unterstützen.

Dialektik wurde zur Unfähigkeit der Deutschen, ihre gefährlich wachsenden Probleme zu erkennen und durch eine Politik widerspruchsfreier Vernunft zu lösen.

 Fortsetzung folgt.