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… zum Logos LXXX

Tagesmail vom 13.06.2022

… zum Logos LXXX,

„Der Mangel an Mut in einem Land, in dem immer zur Zivilcourage aufgerufen wird, überrascht mich jedes Mal aufs Neue“, schreibt Susan Neiman über die Deutschen. (Sueddeutsche.de)

Die Philosophin beklagt die Unfähigkeit der Deutschen, sich in deutsch-jüdischen Fragen eine aufrechte Meinung zu bilden. Den Vorwurf könnte man beliebig generalisieren.

Was hat beispielsweise den SPIEGEL bewogen, zum Gespräch mit der Ex-Kanzlerin einen bekennenden Merkel-Fan zu schicken, der alles andere wollte, als die einst mächtigste Frau der Welt analytisch zu sezieren? Merkel werde immer seine Kanzlerin bleiben, bekundete der einstige Ossi-Schreiber schon im Vorfeld seine unverbrüchliche Treue zur Ossi-Pastorentochter.

Das Interview war ein von Harmonie triefendes Geplauder, bei dem eine spitzbübisch-grinsende Gastgeberin Katz und Maus mit einem devoten Fragensteller spielte. Ein Tiefpunkt des deutschen Journalismus. Und das im SPIEGEL, dem einst führenden kritischen Magazin der Republik.

„Entschuldigen werde ich mich nicht! Ich bin mit mir im Reinen“: Sätze , die aus dem Beichtgespräch einer trotzigen Sünderin stammen könnten, die dem Beichtvater die geforderte Reue und Buße verweigert, aber nicht aus dem unbestechlichen Rückblick auf die Regierungsperiode einer Kanzlerin, in der die Republik ins Verderben glitt.

Tschuldigung, ihr Deutschen, ich habe Mist gebaut und gesündigt vor euch und dem Himmel: wem sollen solche priesterlichen Hohlheiten dienen? Konkrete Schuld eingestehen im Sinne einer Ursachenforschung, einer politischen Fehleranalyse: ja, das wär‘s gewesen. Eine historische Schuld kann man nicht vergeben oder ungeschehen machen, man kann sie nur verstehen, um ähnliche Fehler in Zukunft zu vermeiden.

Der Sinn einer strengen Retrospektive wäre – Einsicht, nachträgliche Erkenntnis aus der Distanz, Aufklärung, ein Beitrag zur korrektiven Selbstbesinnung einer Nation, die gerade nicht weiß, wo ihr der Kopf steht.

Wir verstehen Gegenwart besser, wenn wir unsere Vergangenheit verstanden haben. Hat irgendjemand beim Zuhören des Gesprächs ein tiefergehendes Aha-Erlebnis gehabt? Bitte melden! Auch wir wären gerne klüger geworden. Was können wir für die Zukunft lernen, wenn wir die Vergangenheit bearbeiten? Das wäre der Sinn dieses Gesprächs gewesen.

Was geschah stattdessen? Eine Huldigung an eine Frau, deren Demutsrolle mit dem Ende ihres Amtes ruckartig beendet war. Was erneut zeigte, dass die Mutter der Nation die Rolle einer demütigen Magd Gottes gespielt hatte. Oder genauer, dass die Kehrseite der Demut endlich zum Vorschein kommen durfte:

Die Letzten werden die Ersten sein. Wer der Größte unter euch sein will, der sei euer Diener. Was vor der Welt töricht ist, hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache.

Als Magd Gottes hatte sie zu dienen, nicht mit Weisheiten zu prahlen. Also diente sie immer stummer und wortloser. Sie wusste, von jedem unnützen Wort würde sie eines Tages Rechenschaft ablegen müssen.

Weltlich gesprochen: wer sein Tun wortreich erklärt, kann nur widerlegt werden. Pastorentöchter haben nur Schuld vor Gott, nicht vor der Welt. In der weltlichen civitas können ihnen keine Fehler unterlaufen, denn sie tun nur, was Gott ihnen befielt.

Ende des Amtes – Ende der Demut. Endlich darf die Erwählte das triste Kleid der Magd ablegen und sich der heidnischen Welt im Glanz ihrer Überlegenheit zeigen. Also zeigte sie sich wie neu geboren, befreit lächelnd, immun gegen lächerliche Fragen.

Ohnehin wusste sie, dass der Ossi-Kollege sie nicht bloßstellen würde. Auf ihre schreibende Leibgarde konnte sie sich noch immer verlassen. Je unbeschädigter sie im Gespräch davonkam, je schuldloser blieben auch sie, die Bewunderer ihrer mütterlichen Heldentaten.

Und so war es: wie gewohnt bestand die Mutter ihre Prüfung mit Auszeichnung, ihre getreuen objektiven Beobachter atmeten auf.

Vulgäre Regierungsmachos kann jedes Volk haben, aber eine bescheidene Frau, die es allen Rüpeln dieser Welt zeigt, solches hatten nur wir – die Deutschen – zu bieten. Das muss uns jemand erst mal nachmachen.

Und nun zeigte sie ihr wahres zweites Gesicht: Schluss mit wortloser Niedrigkeit und gespielter Reue. Den törichten Weisen der Welt ist eine wahre Dienerin des Herrn himmelweit überlegen.

Ihre Schuld soll sie bekennen? Ihre Unfähigkeit und Torheit gestehen? Das hatte sie schon in der Zeit ihrer Demut möglichst vermieden – oder durch hohle Sätze und zunehmendes Verstummen vertuschen können.

Jetzt aber stieß der Interviewer auf Granit – was ihm natürlich entgegen kam. Wollte er doch alles andere, als seine Ossi-Kanzlerin vor der Welt zu dekonstruieren.

Entschuldigen werde sie sich nicht. Ihr Bestmögliches habe sie getan. Und heißt es nicht: ultra posse nemo obligatur, über sein Können hinaus kann niemand verpflichtet werden? In der Tat, niemand kann mehr als er kann. Doch wiederum gilt: niemand weiß genau, was er kann. Er kann über sich hinaus wachsen, dazu lernen, neue Erfahrungen sammeln.

Doch dies betrifft nur die subjektive oder „psychologische“ Seite des Befragten, für die Bewertung der politischen Taten ist die Innenseite belanglos. Wichtiger ist die Frage: was hätte getan werden müssen, um die Lösung eines Problems voranzutreiben? Doch deutschen Journalisten geht es selten um die Taten, sie fühlen sich ein in das Innenleben der Kanzlerin, um ihre Überlegenheit über alle Widersacher zu dechiffrieren.

Wäre das Problem heute noch immer nicht gelöst, müsste die Debatte – unabhängig von persönlichen Zufälligkeiten – die Erörterung der objektiven Lage weiterführen. Erst anschließend wäre zu besprechen, welche Persönlichkeiten am besten geeignet wären, die Lösung des Problems in Angriff zu nehmen.

Oh doch, Merkel hätte bekennen müssen, dass sie teilweise versagt hat. Als Kanzlerin war sie verpflichtet, das Beste für ihr Volk zu leisten. Sollte sie dazu nicht fähig gewesen sein, wäre sie – trotz guten Willens – verpflichtet gewesen, in aller Öffentlichkeit zu gestehen:

Sorry, habe alles gegeben, wozu ich fähig war. Doch mein Können war nicht groß genug, um die Herausforderung zu bewältigen. Vielleicht wäre es besser gewesen, freiwillig zurückzutreten und einem anderen eine Chance zu geben.

Die flapsige Formel: ich habe getan, was ich konnte, mag gutmütigen Beobachtern genügen, bestimmt aber keinem kritischen Demokraten, der hier und jetzt Schaden von der Gesellschaft abwenden möchte.

Ich bin mit mir im Reinen, ist eine Immunisierungsformel, identisch mit einer deklarierten Unfehlbarkeit. Angela locuta, causa finita, Angela hat gesprochen, die Chose ist erledigt.

Wiederum geht es um die subjektive Innenseite. Ob Merkel sich rundum wohl gefühlt hat, ist für die Sache irrelevant. Man kann mit sich zufrieden sein – und ist doch gescheitert. Man kann das Problem objektiv gelöst haben – und dennoch mit sich unzufrieden sein.

Man denke an die grenzenlosen Genies aus Silicon Valley. Selbst wenn sie einen phänomenalen Erfolg in einer Angelegenheit erzielt haben, denken sie nicht daran, sich zufrieden zu geben. Im Gegenteil, gerade der Erfolg wird sie motivieren, die nächste Herausforderung zu planen – und so weiter ins Grenzenlose.

Just dies wäre die Definition des Genies, sich niemals zufrieden geben zu dürfen, auch nicht bei den größten Erfolgen.

In den Augen eines Elon Musk hat Merkels zufriedenes Résumée bewiesen, dass sie zu den Genies der Welt – lauter Männern – nicht gehören kann. Die Magd hat ihre Schuldigkeit getan, die Magd kann gehen.

Nur Männer können Genies sein, die ihre Fähigkeiten dadurch beweisen, dass sie das Urweib an sich, die Mutter Natur, durch List, Tricks und Gewalt zur Strecke bringen. Und diese männliche Pflicht geht ins Unendliche, nie darf sie zufrieden stille stehen.

Diesen genialen Touch hat Merkel nicht, sie begnügt sich mit der Hausfrauenmoral: ich bin zufrieden, wenn ich in meine Pflicht getan habe.

Was ist ein Interview? Es gibt zwei grundlegend verschiedene Interview-Formen: die erste will sich nur informieren und erhofft sich neue, unbekannte Fakten.

Die zweite ist jene, mit der wir‘s zu tun haben. Sie soll den Befragten in die Bredouille bringen, ihm durch kritische Fragen unbekannte und verborgene Tatsachen entlocken oder ihn dazu bringen, sein geheimes Versagen zu offenbaren. Ein echtes Streitgespräch aber darf es nicht sein.

Laut Wolf Schneider, dem großen Vordenker der Journalisten, soll ein Interview nichts als „Fragen stellen und nicht den Befragten kommentierend zurechtweisen.“ (Das neue Handbuch des Journalismus)

Das entspricht dem medialen Positivismus, nur schreiben zu dürfen, was ist. Was sein soll, übersteigt die Kompetenz der Fragenden. Schreiber sind keine Aktivisten, sie sind nur mechanische Widerspiegler der Wirklichkeit. Der Leser ist es, der sich aus dem, was ist, ein Bild dessen machen kann, was seiner Meinung nach sein soll.

Dennoch erwecken öffentliche Interviews stets den Eindruck, als seien sie besonders kritisch und hätten den Zweck, die Koryphäen in ihren Widersprüchen und Heucheleien zu entlarven. Laut Wolf Schneider wäre das ein unerlaubter kritischer Akt.

Kritisch sein, hieße, eine Position vertreten und gegen andere Meinungen mit besseren Argumenten durchsetzen. Der Befragte soll aber in seiner realen Inkompetenz und erschwindelten Kompetenz der lüsternen Öffentlichkeit vorgeführt werden.

Talkshows wollen Streitgespräche in Gruppen sein. Doch die Moderatoren dürfen nur Fragen stellen. Wie wollen sie die befragten Politiker aufs Kreuz legen, wenn sie selbst keine prononcierte Meinung haben dürfen? Auf keinen Fall dürfen sie Partei ergreifen und ihre wahre Meinung kundtun.

Was bleibt ihnen? Sie müssen tun, als ob. Ihre Fragen müssen kritisch klingen, dürfen es aber nicht sein. Mit anderen Worten: Journalisten sind zur Schauspielerei verpflichtet. Ja, schlimmer, denn bei Schauspielern weiß man, dass sie eine Rolle spielen. Journalisten hingegen tun, als seien sie echte Kritiker, wenn sie kritische Fragen stellen. Eben das sind sie nicht, dürfen es nicht sein.

Die Eingeweihten wissen es: die Frager tun, als seien sie kritisch, die Befragten, als würden sie seriös antworten. Ein doppelter Humbug, eine offizielle Alfanzerei, ein seriös daherkommendes Betrugs- und Schwindelunternehmen.

Was sich wie kritische Frage und sachgemäße Antwort anhört, ist nichts als ein kritisch anmutendes Possenspiel. Die beiden Parteien kennen sich schon lange genug, um die Tricks der Gegenseite in-  und auswendig zu können. Die Interviewten wissen genau, mit welchen rhetorischen Tricks sie heikle Fragen ins Abseits laufen lassen können. Hier wird Sprache in rhetorischen Schein verfälscht.

Sollten die Journalisten mit lästigen Fragen nicht aufhören, muss die Bremse gezogen werden mit einer total entleerten, substanzlose Nullsprache, Beispiel: ich habe mich bemüht, ich habe gegeben, was ich konnte. Basta.

Echte Dialoge oder Streitgespräche duldet die Moderne nicht. Dazu ist sie einerseits zu grob und unduldsam, andererseits zu überempfindlich.

Äußert jemand eine Meinung, die dem Zeitgeist widerspricht, muss sie damit rechnen, gecancelt zu werden. Was bedeutet, sie wird aus der Arena der Öffentlichkeit ausgeschlossen, der unerträglichen Besserwisserei oder gar einer totalitären Meinung geziehen.

Hinter dieser Anprangerung verbirgt sich nicht selten die Angst, in einem reellen Streitgespräch unterlegen zu sein und das Gesicht zu verlieren. Eine schlimmere Schande scheint es bei den Leugnern der objektiven Wahrheit nicht zu geben.

Während der griechische Dialog stets die besseren Argumente siegen und die schlechteren verlieren lassen wollte, will heute niemand die Schande des intellektuellen Unterlegenseins erleben.

Während der athenische Dialog die intellektuelle Variante des agons war, des Wettbewerbs in allen Dingen, der Sieger und Verlierer haben sollte, ist die in diesen Punkten überempfindliche Moderne gegen geistige Niederlagen allergisch. Man fürchtet, sein Gesicht zu verlieren, wenn die Dürftigkeit seiner Argumente offengelegt wird.

Diese Angst, sich „ergeben zu müssen“, ist umso erstaunlicher, als sich die Postmoderne gegen diese Gefahr längst gewappnet hat: nämlich durch die Meinung, objektive Wahrheiten könne es gar nicht geben und jeder habe seine eigne „unfehlbare Wahrheit“.

Gibt es keine objektiven Wahrheiten, kann es auch keine objektiven Argumente geben, gegen die man den Kürzeren zieht. Da diese Angst dennoch besteht, kann das nur bedeuten, die Postmoderne glaubt ihrer eigenen Meinung nicht, dass es keine objektiven Wahrheiten geben könne.

Dieses kollektive Gefühl könnte der Untergrund unserer Gegenwart sein. Wir fühlen uns zu schwach, um Streitgespräche zu führen, weil wir Angst haben, das Gesicht zu verlieren. Gleichzeitig fürchten wir, mit unseren politischen Problemen nicht fertigzuwerden, wenn es uns nicht mehr gelingt, uns sachlich-nüchtern und logisch-folgerichtig auseinanderzusetzen.

Wären wir von der postmodernen Subjektivität aller Wahrheit wirklich überzeugt, könnten wir alle argumentierenden Verständigungsversuche, Streitgespräche und verstehenden Dialoge einstellen.

Die Retrospektive mit Merkel hat „bewiesen“, dass sie mit ihrer Politik – nehmt alles mit allem – recht hatte. Damit aber hatten auch die Medien recht, die sie in empathischem Verständnis auf den Schultern trugen. Und noch mehr: damit hatten auch die Deutschen recht, die auf ihre Madonna nichts kommen ließen.

So erleben wir heute die surreale Situation, dass wir, kurz vor möglichen Gesamtkatastrophen aus Kriegen, Hitzewellen und globalen Hungerkatastrophen, das nationale Gefühl einer unverlierbaren Zufriedenheit genießen dürfen.

Was war nämlich das Geheimnis der Merkel‘schen Politik? Sie tat nur, was das Volk sich als Wohlgefühl einer sicheren Wirtschaft und eines endlosen Wirtschaftswachstums wünschte.

Wohin diese naturfeindliche Politik führte, tangierte niemanden. Zwar nahm Merkel alle Warnungen zur Kenntnis, doch nur, um sie still und leise beim schlechten Gedächtnis der Deutschen zu entsorgen.

Sollte Deutschland – und die ganze Welt – demnächst mit apokalyptischen Reitern konfrontiert werden, würde Merkel und all ihre Mitregenten zu den Hauptverantwortlichen gehören, die das Fiasko der Menschheit verursacht haben.

Und wir, die wir zugeschauten und zu feige zum energischen Widerstand waren: was ist mit uns? Wir können uns drehen und wenden, wie wir wollen: obgleich wir uns redlich bemühten, unsere Schuld auf andere abzuwälzen – werden wir unseres Lebens nie mehr froh sein.

Fortsetzung folgt.