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Welt retten! Aber subito! LXXXI

Tagesmail vom 15.05.2023

Welt retten! Aber subito! LXXXI,

„Mit den deutschen Tugenden Fleiß, Pünktlichkeit und Disziplin kannst du bei einem Sangeswettstreit dagegen kaum einen Blumentopf gewinnen. Und wie heißt es doch so treffend: Neid musst du dir erarbeiten.“ (BILD.de)

Warum sind wir Deutschen in Europa so unbeliebt? Weil wir so tüchtig sind. Bei uns läuft alles rund.

Um sich bei ihren Nachbarn beliebter zu machen, haben sich die Deutschen entschlossen, ihr vorbildliches Gemeinwesen rundherum verfallen und verlottern zu lassen.

Noch können es die Nachbarn nicht glauben und verharren bei ihrer Misstrauens-Pädagogik. Doch warte nur, balde werden sich die Ungeliebten vor Liebesbezeugungen nicht retten können.

Ein halbes Jahrhundert lang waren die Deutschen Musterschüler des Kapitalismus. Jetzt wollen sie nicht mehr. Mehr als die Nummer Eins in VW-Überflutung der Welt kann man nicht werden.

Jetzt sind sie saturiert, ja bis zum Äußersten übersättigt. Ab jetzt heißt es, Ausschau zu halten nach neuen Herausforderungen. Denn sie wollen gefordert werden, wenn sie sich nicht in Nichts auflösen sollen.

Gottlob, in diesen Dingen sind sie erfahren. Vor 250 Jahren waren sie klassische Humanisten und begehrten bereits den Ewigen Frieden.

Damals schrieb ein Königsberger an die Wand:

„Wir sind in hohem Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns schon moralisiert zu halten, daran fehlt uns noch sehr viel. Der Widerstand gegen andere ist es, was alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt, seinen Hang zur Faulheit zu überwinden und, getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber nicht lassen kann. Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Kultur, die eigentlich in dem gesellschaftlichen Wert des Menschen besteht; da werden alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack gebildet und selbst durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründung einer Denkungsart gemacht, welche die grobe Naturanlage zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte praktische Prinzipien, und so eine pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganze verwandeln kann.“ „Ohne die „ungesellige Geselligkeit“ des Menschen würden „in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe“ „alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben“. Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die missgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen. Der Mensch will Eintracht, aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht. Er will gemächlich und vergnügt leben; die Natur will aber, er soll aus Lässigkeit und untätiger Genügsamkeit hinaus, sich in Arbeit und Mühseligkeit stürzen, um dagegen auch Mittel auszufinden, sich füglich wiederum aus den letzteren herauszuziehen.“ (Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Vierter Satz)

Da die Einrichtungen der Natur die Anlagen der Menschen vorwärts treiben, verraten sie wohl die „Anordnung eines weisen Schöpfers und nicht etwa die Hand eines bösartigen Geistes, der in seine herrliche Anstalt gepfuscht oder sie neidischerweise verderbt habe.“

Kant ist der bedeutendste Aufklärer der Deutschen. Hat er uns noch was zu sagen? Würden wir unsere heutige Misere besser bewältigen, wenn wir seinen gewaltigen Worten folgen würden? Verstehen wir ihn überhaupt?

Die Aufklärung bekämpfte die Erlöserreligion. Nicht etwa den Glauben an irgendwelche Götter. Keineswegs waren alle Aufklärer gottlos. Viele glaubten an einen Gott – nur nicht an einen Erlöser, der seine sündigen Geschöpfe durch Leiden und Sterben erlösen will. Sondern an einen Gott der Natur oder der Vernunft.

Diese waren der Inbegriff des Seins. Keineswegs überragten sie die Natur in Form einer allmächtigen, allwissenden und allpräsenten Persönlichkeit. Zwei Welten gab es nicht. Menschen mussten nicht erlöst werden, denn diese waren nicht unrettbar böse oder erlösungsbedürftig.

Man könnte sagen: der Gott der Aufklärung war der Inbegriff der Weisheit der Natur. Deus sive natura, wie der gewaltige Spinoza formulierte, das Vorbild der deutschen Denker.

Aus dieser Perspektive wäre es nicht verkehrt, den heutigen Naturzerstörern den Vorwurf zu machen: sie seien die eigentlichen Atheisten, denn sie glaubten nicht an die Weisheit der Natur.

Oder noch schlimmer: die Weisheit der Welt ist ihnen ein derartiges Ärgernis, dass sie nichts unterlassen dürfen, diese in – ja, in was – zu verwandeln? In tote Materie? In höllischen Schlamm? In einen stinkenden Pfuhl?

Oder in etwas, was selbst der christliche Schöpfer nicht ertragen kann: in widergöttliche Torheit?

„Ich will zunichtemachen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.« Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weisen dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? Denn weil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die da glauben. Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind. Seht doch, Brüder und Schwestern, auf eure Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme sind berufen. Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist; und was gering ist vor der Welt und was verachtet ist, das hat Gott erwählt, was nichts ist, damit er zunichtemache, was etwas ist, auf dass sich kein Mensch vor Gott rühme. Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der für uns zur Weisheit wurde durch Gott und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung, auf dass gilt, wie geschrieben steht: »Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!«“

Die Welt wird eingeteilt in Griechen, Juden und Christen. Die Griechen setzen auf menschliche Weisheit – wofür sie vernichtet werden. Die Juden fordern Zeichen, wunderhafte Bestätigungen der göttlichen Allmacht, ohne diese denken sie nicht daran, an Jahwe zu glauben. Was wird aus den Juden? Der Text hat keine Antwort.

Bleiben die Christen, die keine Allmachtsbeweise benötigen, sondern an das Gegenteil glauben: an den gemarterten und gekreuzigten Gottessohn, dessen Macht in seiner Ohnmacht besteht. Gott ist in den Schwachen – und Demütigen – mächtig. Merkel zelebrierte eine Machtpolitik hinter Attrappen der Schwäche und Demut.

Die Kunst der Gläubigen besteht darin, hinter widersprüchlichen Zeichen die verborgene Majestät Gottes zu ahnden. Ist Gott im Spiel ist, werden alle Gesetze der Natur zuschanden.

Weshalb Gläubige auch nicht nervös werden, wenn es so aussieht, als ob die Natur zugrunde ginge. Im Gegenteil: sie glauben fest daran, dass hinter dem Zerfall der Natur die Grandiosität des Herrn sichtbar werden wird.

Biblizistische Endzeitgläubige erleben die Desaster der Gegenwart in wachsender Erregung. Glauben sie doch, dass der Herr diese Vorboten seiner Wiederkehr vorausschickt – damit die Erwählten wissen, was die Glock geschlagen hat.

Deutsche Medien jagen nichts lieber als Esoteriker, ohne zu realisieren, dass der christliche Glaube selbst der esoterischste aller ist.

Abendländische Geschichte ist ein erbitterter Kampf zwischen heidnischer Weisheit, jüdischer Zeichen- und christlicher Ohnmachtsgläubigkeit, die hinter allen verwirrenden Schwächen die Allmacht des Schöpfers erwarten. Erst dann wird die geplagte Seel ihre Ruhe haben. Am Ende wird die irdische via dolorosa (Leidensweg) zur Prachtstraße der via triumphalis.

In der Heilsgeschichte erleben wir die spannende, nur für Fromme durchschaubare Inszenierung eines Gottes in irreführenden Kostümen der Loser bis zur Siegesparade der Gewinner.

Was hat dies alles mit Kant zu tun? Sind Aufklärer etwa auch Endzeitgläubige?

„Man kann die Geschichte der Menschengattung im großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und zu diesem Zwecke auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zustande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit entwickeln kann. Man sieht: die Philosophie könne auch ihren Chiliasmus (Glaube an das 1000-jährige Reich) haben; aber einen solchen, zu dessen Herbeiführung ihre Idee, obgleich nur sehr von weitem, selbst beförderlich werden kann, der also nichts weniger als schwärmerisch ist.“ (Achter Satz)

Schwärmerischer Glaube – die Normalform des Glaubens – ist passive Erwartung des „Endsiegs“ über alle Gottesfeinde. Schwärmer müssen nichts tun als beten und abwarten, bis geschieht, woran sie glauben.

Schwärmerei ist nicht nur typisch für fromme Hinterwäldler. Sie ist auch wesentliches Merkmal moderner Geschichtstheorien, die nichts anderes sind als säkulare Umwandlungen christlicher Endzeitfrömmigkeit.

Alle Theorien, die das Geschick des Menschengeschlechts höheren Mächten anvertrauen – wie das Gesetz der Evolution, das Gesetz unendlicher Perfektion, das Gesetz ewigen Wachstums etc. – sind nichts anderes als weltliche Variationen christlicher Heilsgeschichte.

Auch der Marxismus ist schwärmerischer Glaube an ein determiniertes Paradies für Proleten und an das Gegenteil für Stinkreiche. Marxistische Gläubige streiten mehr über den vermuteten Zeitpunkt des 1000-jährigen Reiches der Proleten als über politische Strategien, wie man dieses Ziel autonom erreichen kann. Kann man nämlich nicht.

Insofern sind pietistische und marxistische Schwärmer Anhänger derselben politischen Apathie: wait and see. Fäuste recken und feurige Revolutionslieder anstimmen – nichts als Theateraufführungen, die über die eigene politische Inkompetenz hinwegtäuschen sollen.

Auch der hektische Neoliberalismus ist nicht anders als der Glaube an das Prinzip Hoffnung. Für Hayek gibt es nur determinierte Naturgesetze, die aller moralischen Imperative spotten. Niemals geht es um Sollen, sondern einzig und allein um das, was ist.

Auch Medien sind halbierte Deterministen. Auch ihnen geht’s nicht um savoir, pour prevoir, prevoir pour pouvoir (Wissen, um vorherzusehen, vorherzusehen, um (politisch) zu können).

Sie kokettieren gerne mit Prognosen, die sie mit Prophetien verwechseln. Ein strenges Prognostizieren wäre nur möglich, wenn die wirtschaftlichen „Gesetze“ determinierte Naturgesetze wären. Doch über solchen „metaphysischen“ Unsinn denken sie vorsichtshalber gar nicht nach.

Allerdings scheint sich bei ihnen irgendwas zu regen. Offenbar bemerken immer mehr Schreiber, dass sie, wenn sie ihr Was-ist-Wissen nicht mit Was- soll-werden-Moral verknüpfen, als bloße Beobachter der Katastrophe nicht entgehen werden.

Jeder Handwerker kann unterscheiden zwischen einer verfallenen Wohnung, wie sie ist und wie sie werden soll, um wieder bewohnbar zu werden. Hochtalentierte Schreiber sollen dazu nicht in der Lage sein?

Wo steht Kant? Offenbar will er der schwärmerischen Passivität entkommen – ohne aber den Chiliasmus völlig zu verwerfen. Wie macht er das? Indem er die Schwärmerei der Frommen umfunktioniert in einen selbsterfüllenden Glauben. Woran der Mensch glaubt, das muss er selber herstellen.

Gelingt ihm diese Operation? Nicht wirklich.

Denn tatsächlich glaubt er an eine pädagogische Natur. Natur ist die fürsorgende Erzieherin des Menschen: aus der Rohigkeit der ersten Anfänge bis zur „äußerlich-vollkommenen Staatsverfassung, einem Zustand, in dem alle Menschen ihre Anlagen voll entwickeln können.“

Was geschieht hier? Der Aufklärer Kant lehnt zwar das christliche Dogma des eingeborenen Bösen ab – obgleich er später den Glauben an das radikale Böse, sehr zum Unwillen Goethes, wieder einführt. Gleichwohl kann er auf eine Funktion des Bösen nicht verzichten. Und das heißt: auf den Teufel als folgsamen Knecht Gottes, der den Willen seines Herrn gehorsam vollziehen muss.

Eines der größten Ärgernisse des christlichen Glaubens war der Widerspruch zwischen einem allmächtigen und liebenden Schöpfergott und seinem alles zerstörenden Knecht. Es sieht nur so aus, als ob der Teufel tun könnte, was er wollte. In Wirklichkeit hat er keine andere Wahl, als dem Willen seines Herrn getreulich zu folgen.

Schon mittelalterliche Theologen versuchten alles, um dieses Credo, quia absurdum zu zerlegen. In der Moderne aber begann ein heißer Wettbewerb, wie man diese Absurdität der Unvernunft endgültig aus der guten Ordnung der Natur hinauswerfen kann.

Es begann mit Mandeville: private Laster sind öffentliche Tugenden: reich kann man nur werden, wenn man geizig, egoistisch und rücksichtslos ist.

In Schottland avanciert der bisher als berüchtigt geltende Egoismus zum Wohltäter der Nation.

„Bislang war derjenige, der sich seiner eigenen Bereicherung widmete; Gegenstand von Zweifeln. Nunmehr war er eben aufgrund seines Eigennutzes zum öffentlichen Wohltäter geworden. Eigennutz ist im Wettbewerbsprozess die Ursache größtmöglichen Nutzens.“ (J. K. Galbraith, Die Entmythologisierung der Wirtschaft)

Selbstliebe, bislang eine der größten Sünden, wurde zum „altruistischen“ Motor der Wirtschaft und somit des nationalen Wohlstands. Das war der schottische Ursprung des modernen Kapitalismus.

Das für die erwachende Vernunft größte Ärgernis: das Ärgernis des Bösen, wurde von den Aufklärern nicht einfach exekutiert. Das Böse musste, wie durch ein Wunder, umgewandelt werden ins Gute. Als ob die Aufklärer gedacht hätten: ihr Frommen gedachtet es böse mit uns, den Freidenkern, zu machen. Doch wir drehten den Spieß um und machten das Böse zum Werkzeug des Guten. Nur so können Fortschritt und Wohlstand florieren.

Mitten drin bewegt sich Kant:

„… so wie Bäume in einem Walde eben dadurch, dass ein jedem dem anderen Luft und Sonne zu benehmen sucht, einander nötigen, beides über sich zu suchen und dadurch einen schönen geraden Wuchs bekommen, statt sie, welche in Freiheit und voneinander abgesondert ihre Äste nach Wohlgefallen treiben, krüppelig, schief und krumm wachsen. Alle Kultur und Kunst, welche die Menschheit ziert, die schönste gesellschaftliche Ordnung, sind Früchte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genötigt wird, sich zu disziplinieren und so durch abgedrungene Kunst die Keime der Natur vollständig zu entwickeln.“ (Fünfter Satz)

Ist es notwendig, Faust und seinen Gehilfen zu erwähnen, der immer böse sein will und immer gut sein muss?

Willst du deine Macht und deinen Reichtum vergrößern, tue Böses. Das ist das Grundprinzip der Moderne. Nur wenn du den Teufel deinem Willen unterwirfst, wirst du das Unvollkommene der Natur in den Dienst des Nützlichen und Fortschrittlichen zwingen.

Damit hast du den Heuchelgott der Frommen, der stets so lieb und gut daherkommt und dennoch teuflische Dinge veranlasst, prinzipiell aus dem Rennen geworfen.

Ohne Dressur des christlichen Teufels, um seine Bösartigkeit ins Gegenteil zu verkehren, kann es weder Fortschritt noch Wachstum geben, mit denen wir die Natur in die Knie zwingen.

Neuer Fortschritt, neue Risiken, neue Gefahren. Um diese drei chaotischen Vaganten zu bändigen, brauchen wir – neuen Fortschritt.

Dann aber werden wieder die Risiken steigen. Na und? Nur unter Risiken und höllischen Gefahren werden sich die brillanten Fähigkeiten der Menschen endlos entwickeln können.

Hin und wieder fällt uns eine Atombombe auf den Kopf. Systematisch ruinieren wir die Natur, töten endlos viele schwache und überflüssige Menschen. Na und?

Ein Versuch war’s wert. Dem Teufel sei Dank.

Fortsetzung folgt.