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Welt retten! Aber subito! LV

Tagesmail vom 27.02.2023

Welt retten! Aber subito! LV,

Freuen wir uns, in Deutschland wird um Frieden gerungen. Kann es Wichtigeres geben als Debatten um Frieden?

Die streitenden Parteien versammelten sich vor dem Berliner Reichstag – und führten auf dem Podium kurze Dialoge miteinander. Erklärten ihre verschiedenen Friedensbegriffe, versuchten Andersdenkende zu verstehen und mit Argumenten zu überzeugen.

Das Manifest mit der größten Resonanz wurde schließlich verabschiedet und an Regierung und Bundestag gerichtet mit der Bitte, den Willen der Mehrheit in konkrete Politik zu verwandeln.

Es war dringend an der Zeit, die immer militanter werdenden Konflikte in Nahost friedlich zu beenden:

„An eine Zwei-Staaten-Lösung – nach wie vor gepriesen von den USA und Europa – glaubt eh nur noch eine schwindende Zahl von Palästinenser:innen (wie ebenso Israelis). Gewalt hat wieder Konjunktur, auch in Reaktion auf israelische Armeerazzien in Autonomiestädten wie zuletzt in Nablus, wo stundenlange Gefechte mit palästinensischen Militanten zwölf tödlich Getroffene und über hundert Verletzte zurückließen, darunter zahlreiche Zivilisten. Dass die programmierte Eskalation weitergeht, zeigte der Sonntag, wo zwei Israelis bei einem Schussangriff unweit von Nablus ums Leben kamen.“ (Frankfurter-Rundschau.de)

Immer verzweifelter klangen die Hilferufe aus dem Heiligen Land, die EU möge sich endlich einmischen und die Parteien des Friedens unterstützen.

Nur seltsam: von Deutschland erwartete niemand etwas. War Deutschland nicht das Land mit der größten Schuld und der bedingungslosen Loyalität?

Die israelischen Demonstranten zeigten den Deutschen, was sie von ihrer Loyalität hielten: fast nichts.

Die schärfsten Bekämpfer der Judenfeindschaft in Deutschland wie BILD & WELT sind seitdem verstummt. Sie fanden keine Worte mehr des Hasses gegen Palästinenser und angebliche Judenfeinde in aller Welt, die keineswegs die Juden an sich, sondern die Völkerrechtsverletzungen der Netanjahu-Regierung attackieren.

Der resolute Kampf gegen Antisemitismus ist notwendig, um jede Wiederholung der NS-Verbrechen zu vermeiden. Allein, dieser Kampf hatte sich unter der Hand längst in eine Abwehr jeglicher Kritik an Jerusalem verwandelt.

Das war ein Missbrauch der Antisemitismus-Abwehr zur Immunisierung einer immer militanter werdenden Regierung im Heiligen Land.

Das missbilligende Schweigen der Demonstranten war die bislang eindeutigste Reaktion gegen die Doppelmoral der Deutschen im Allgemeinen und des Mathias Döpfner und seiner Schreiber, die gewöhnlich jede moralische Politik verurteilen, ihren Kampf gegen alle judenhassenden Phänomene aber als höchste Moral verteidigen.

Je mehr die Israelis sich gegen die Selbstzerstörung ihrer Demokratie wehren, je klarer zeichnet sich ab, dass sie von der scheinheiligen deutschen Aufarbeitung des Holocaust so wenig halten wie von pathetischen Loyalitätserklärungen der Berliner Regierungen.

Die Krisen der Welt bringen es an den Tag: die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit wie die angebliche Loyalität gegenüber dem demokratischen Israel sind längst zu einem neurotischen Komplex angeschwollen. Man begnügt sich mit rituellen Formeln, deren Wahrhaftigkeit niemanden mehr überzeugt.

Israel steht vor dem Absturz in eine Theokratie, die Deutschen lassen das Land im Stich.

(Pardon für die einleitende Verwirrung.) Nach den missglückten Friedensbemühungen im Nahen Osten zu den Friedensbemühungen für den europäischen Osten.

Um den Krieg in der Ukraine zu beenden, haben Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer zu einer neuen Friedensbewegung aufgerufen. Ein löbliches Unternehmen. Seit der ersten Friedensbewegung der 68er-Studenten hat Deutschland es nicht mehr für nötig gehalten, über Krieg und Frieden nachzudenken.

Das Nachdenken über Ziele und Methoden unserer Politik ist überhaupt abhandengekommen. Ist doch das deutsche Schifflein prächtig durch die Wogen der Zeit geglitten: was hätte uns motivieren sollen, über Grundsätze nachzudenken? Zumal die Bedingungen unserer Existenz vom Großen Bruder in Amerika gesichert schienen?

Freilich, der amerikanische Schutzschild muss durch Kritikvermeidung teuer bezahlt werden. Die kleinste Missbilligung gilt hierzulande als antiamerikanisch.

Als Grundregel gilt: alles, was aus Amerika kommt, ist gut bis super. Ist es nicht super, kann es nicht amerikanisch sein. Alle amerikanischen Präsidenten, die patriarchalisch über Deutschland wachten, waren echte Freunde.

Waren sie keine, können sie auch nicht typisch amerikanisch gewesen sein – wie etwa Trump, dessen Eskapaden von deutschen Journalisten nicht anders erklärt werden konnten als durch obskure Anleihen bei Freudianern. Was jedoch hat der griechische Jüngling Narziss mit Weltpolitik zu tun?

Nein, Trump war ein typischer Amerikaner – allerdings aus der anderen Hälfte der amerikanischen Psyche, die sich noch immer von den Brosamen des Neuen Testaments nährt.

America first ist die Formel des amerikanischen Auserwählungsglaubens: zuerst wir, die Nation der Wiedergeborenen in Gottes eigenem Land. Dann lange lange nichts.

Diese Formel war im Siegestaumel der Nachkriegszeit untergegangen. Jetzt, wo Amerikas Charisma schwindet, wird die religiöse Berauschung wieder aus den Katakomben geholt, um den Anforderungen der Klimakrisen gerecht zu werden.

Der Wechsel zwischen ratio und Glauben ist den Deutschen unbekannt. Dialektisch gewieft, haben sie beide Momente miteinander verschweißt. Der Glaube von Merz ist nicht anders als der von Adenauer.

Da die anderen Parteien auch irgendwie gläubig geworden sind, ist es zur religiösen Allparteienregierung gekommen. Sahra Wagenknecht vermisst zwar die Gnade des Glaubens, allein, sie hätte sie gerne.

Sollte tatsächlich eine Friedensbewegung übers Land gehen, wird Gläubigkeit wieder zum guten Ton gehören. Jedes Ansteigen des Glaubens ist Türöffner einer politischen Regression.

Warum sind die Deutschen unfähig, über Vor- und Nachteile des Islam nachzudenken? Weil sie gezwungen wären, sich auch mit ihrem eigenen Evangelium auseinanderzusetzen. Über solche Kindereien aber sind sie längst hinausgewachsen. Wer den Islam kritisiert, müsste auch das Evangelium unter die Lupe nehmen.

Auch hier fand eine Amerikanisierung in Deutschland statt. Wie der Kern des Kapitalismus nach Max Weber die calvinistische Vorherbestimmung war, so ist das Luthertum Kern der deutschen Wohlfahrt.

Nicht die Kraft ihres Glaubens oder der guten Werke entscheidet über ihren ökonomischen Erfolg, sondern das ungetrübte Vertrauen in die Macht Gottes – Hayek spricht von der Macht des Marktes.

Als die Deutschen eine Pastorentochter als Gabe des Himmels erhielten, wuchs ihr Glaube an den Markt und an die Magd Gottes zur idealen Einheit zusammen. Heute befinden sie sich noch immer in den Nachwehen dieser himmlischen Erscheinung und denken nicht daran, die Fenster zu öffnen, um für Durchzug zu sorgen.

Auch Scholz profitiert noch vom Parfüm seiner Vorgängerin, indem er sich nach Möglichkeit in Schweigen hüllt. Das Alte Testament kennt das Geheimnis seines Erfolgs:

„Ein Narr, wenn er schwiege, würde auch für weise gehalten, und verständig, wenn er das Maul hielte.“

Das schmeckt nach der sokratischen Formel „Ich weiß, dass ich nichts weiß,“ eine Verlockung für Narren, nichts mehr wissen zu wollen. Von welchen Abendländern wurde Sokrates am meisten bewundert? Von frommen Gegenaufklärern.

Wer glaubt, muss nichts mehr wissen wollen, muss nichts mehr hinzulernen. Doch Sokrates hatte das Gegenteil gemeint. So kommt’s, wenn die Frommen bei heidnischen Weisen hausieren gehen:

„Die Lehre, die der Weise zu wiederholen nie müde wird, ist die nahezu sokratische Identifizierung von Tugend und Weisheit, die die Erkenntnis jener Schulen Alexandriens ausspricht, in denen die hebräische Theologie sich mit der griechischen Philosophie verschwisterte, um den europäischen Geist zu formen.“ (Durant, Der Alte Orient)

Es waren keine Geschwister, sondern Stiefgeschwister, die dieser irdisch-himmlischen Paarung entsprangen. Zumeist schmückten sich die Frommen mit weltlicher Weisheit, um sie als Früchte der Offenbarung zu kredenzen.

Diese ungleiche Paarung mutierte später zur widerstrebenden Paarung aus harter Naturwissenschaft und glibbrigen Geisteswissenschaften. Nachdem die Naturwissenschaften die Offenbarung abgeräumt hatten, setzten sich die Geisteswissenschaften an ihre Stelle – und machten sich anheischig, die Quantitäten mit lebendigen Qualitäten zu verlebendigen.

Fakten und Formeln genügen nicht, sie müssten interpretiert werden, um ihren Inhalt preiszugeben. Was sagt mir die Zahl 99 eines IQ-Tests? Dass ich dümmer bin als der Durchschnitt, der bei 100 liegt.

Was allerdings voraussetzt, dass der Durchschnitt der Bevölkerung tatsächlich getestet wurde. Jetzt der Salto mortale der deutschen Schulen, die wieder zurückgekehrt sind zur Despotie einsamer Zahlen – obwohl niemand den Durchschnitt der Klassen in Deutschland kennt. Eine 1 in Bremen ist bekanntlich kaum eine 3 in Bayern und Sachsen. Kümmert das jemanden?

Unvermutet sind wir bei den Medien gelandet, die Objektivität durch Aufzählen von Fakten gewährleistet sehen. Also müssen sie sich mit Nennen und Zählen von Fakten begnügen, um ihrem Grundsatz treu zu bleiben, sich weder mit der guten noch der bösen Seite zu identifizieren.

Gut und Böse sind keine Fakten, sondern schwankende Einschätzungen der Subjekte. Also abgelehnt.

„Wer Politik machen will, sollte in die Politik gehen, würde ich sagen. Aber vielleicht bin ich einfach zu altmodisch. Klar, es ist nicht ganz neu, dass sich Journalisten für eine Sache einspannen lassen. Im Herbst 2020 hielt es der »Stern« für eine gute Idee, eine komplette Ausgabe zusammen mit »Fridays For future« zu produzieren. »Was die Klimakrise angeht, ist der ›Stern‹ nicht länger neutral«, schrieb die Chefredaktion zur Begründung, warum sie das Heft gemeinsam mit einer Gruppe von Aktivisten konzipierte.“ (SPIEGEL.de)

Journalisten dürfen nicht parteiisch sein, sich nicht subjektiv betätigen. Das wäre das Ende der Objektivität. An dieser Definition ist alles falsch.

Journalisten sind der Wahrheit verpflichtet. Wollen sie demokratisch sein und Schaden abwenden von ihrem Publikum, müssen sie sich aktiv einsetzen zur Realisierung der theoretischen Wahrheit, die praktisch werden soll.

Sie haben nichts anderes zu tun als jedes engagierte zoon politicon: sie müssen sich einsetzen für theoretische Wahrheit und für die Realisierung der Theorie durch Politik.

Fakten allein sind nicht objektiv, sie müssen gedeutet werden. Es genügt auch nicht, dass Journalisten ihre subjektiven Einschätzungen unterdrücken. Denn dadurch wird nicht klar, welche Meinungen sie vertreten. Um objektiv zu sein, muss man seine Subjektivität offenlegen. Dann kann jeder mitdenken und seine eigene Position besser verstehen.

Zuerst wahrheitsgemäß die Fakten darstellen, sodann den Artikel komplettieren mit der subjektiven Meinung über die Fakten: was an dieser schlichten Zweiteilung soll unzumutbar sein für den Journalismus?

Subjektive Anamnese war die Voraussetzung einer möglichst objektiven Selbsterkenntnis bei Sokrates. Wenn ich weiß, dass ich ängstlich bin, weiß ich auch, dass ich die Gefahren einer politischen Situation zu übertreiben pflege.

Der subjektiven Gefahr einer Verzerrung der Erkenntnis kann ich nur entgegenwirken, wenn ich weiß, zu welcher emotionalen Sinnestäuschung ich neige. Nur objektive Selbsterkenntnis meiner Subjektivität befähigt mich, meine Erkenntnisfähigkeiten zu objektivieren.

„Tatsachen und Sachverhalte als solche, die objektiv feststellbar sind, erschöpfen nicht das Wesen der Wissenschaft. Deutung und Verstehen ihres Sinns müssen dazukommen, die von der Subjektivität des Forschers abhängig sind. Wichtig ist der Wille zur Redlichkeit, zur Wahrhaftigkeit, zur Gerechtigkeit, um nichtssagende Fakten und Zahlen zu interpretieren.“ (Phil. Lexikon)

Medien sind auf dem Standpunkt des Positivismus stehen geblieben, jener Wissenschaftlichkeit, die sich mit Fakten begnügt. Deutungen, Bewertungen seien subjektives Geschwafel und müssten unterdrückt werden.

„Worüber der Mensch nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“

Ein unmenschlicher Standpunkt, der in die absolute Stummheit führen würde. Scholz wäre noch der Objektivste, wenn er besonders hartnäckig schwiege. Sprechen, Streiten, Argumentieren auf der Agora wäre sinnlos, nicht anders als nach der Intervention Gottes beim Babylonischen Turm, kein Mensch mehr den anderen verstand.

Das wäre die Diktatur der Naturwissenschaften, die außer Formeln, Zahlen und Fakten nichts zu bieten haben, ein langsamer Selbstmord der Naturwissenschaftler, die ohne subjektives Sprechen auf der Stelle verkümmern müssten. Wozu noch Sprache, wenn wir sie nie benutzen dürfen?

Erkennen ist ein mehrdimensionaler Vorgang aus objektiven und subjektiven Elementen, die sich einander annähern müssen. Auch subjektives Fühlen und Empfinden ist erkenntnisfähig, wenn wir es der Dunkelheit entreißen und einem gemeinsamen Überprüfen zuführen. Denken und Erkennen sind Gemeinschaftsleistungen. Wer immer nur vor sich hinbrütet oder schweigt, hat die Schwelle persönlicher Sprachlosigkeit noch nicht überschritten.

Was hat das alles mit der Friedensbewegung zu tun? Frieden müssen wir erdenken und in aller Öffentlichkeit durchstreiten. Ist das auf der Kundgebung mit Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer geschehen? Kaum.

Es gab auf dem Podium keine Dialoge verschiedener Meinungen. Es gab nicht mal die Stimmen von Ukrainern, die immerhin Betroffene sind und wohl die Möglichkeit haben müssten, sich zum deutschen Pazifismus zu äußern. Deutsche können ihren Pazifismus autonom definieren, aber anderen Völkern nicht überheblich aufoktroyieren. Sonst gibt’s Beglückungszwänge und eitle Rechthaberei.

Anstatt ihre Meinung der Öffentlichkeit vorzulegen und debattieren zu lassen, zogen die Veranstalterinnen das Ganze in kürzester Zeit durch, um Menschen für ihre subjektiven Zwecke zu angeln.

Das ist zwar legitim, aber unklug und unfair. Die Debatte um Frieden hat erst begonnen. Sie wird eine Zeitlang benötigen, um an Tiefenschärfe zu gewinnen.

In Deutschland gab es noch keinen nennenswerten Pazifismus. Das liegt an der Herrschaft eines Erlösers, dessen Losung zwar Frieden, aber nicht Frieden auf Erden war:

„Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“

Der Friede des Erlösers im Jenseits muss erkauft werden durch Sichselbstopfern im Diesseits. Diesem Gesetz eines kollektiven Suizids scheint die Menschheit zu folgen – weshalb sie viel zu wenig tut, um die Naturzerstörung zu stoppen und zum Heilungsprozess überzugehen.

Schlussgesang für John Lennon:

Stell‘ dir vor, es gibt kein Himmelreich
Es ist leicht, wenn du’s versuchst
Keine Hölle unter uns
Über uns nur das Firmament
Stell‘ dir vor, all die Menschen
leben für das Heute

Stell‘ dir vor, es gibt keine Länder
Es ist nicht schwer, das zu tun
Nichts, wofür man tötet oder stirbt
Und auch keine Religion
Stell‘ dir vor, all die Menschen
führen ein friedliches Leben.

Fortsetzung folgt.