Kategorien
Tagesmail

Tanz des Aufruhrs XXXI

Tanz des Aufruhrs XXXI,

„Sei getreu bis in den Tod, und ich will dir die coronam vitae, die Krone des Lebens geben.“

Was dem Klima nicht gelang, weil es alle betrifft, gelingt dem Corona-Virus im Handumdrehen: er bedroht den Einzelnen. Der Einzelne ist das unvergleichliche Individuum, welches Gott ähnelt, aber keinem irdischen Menschen, der ein verkommener Sünder ist.

Jetzt wird’s ernst. Die Krise bringt es an den Tag. Sie will aufrütteln und zum Kathartikum der Menschheit werden. Sie zeigt den nervus rerum im Zusammenprall zwischen Griechen und Christen.

Das Klima betrifft die Natur. Sollte es gefährlich werden, sind alle bedroht. Sind alle bedroht, atmet der Einzelne auf. Er gehört nicht zu Allen, er gehört in die Gemeinde der Einzelnen und Erwählten – die ihr irdisches Leben mit sündigen Allen verbringen müssen, eines Tages aber in die Gemeinde der Heiligen aufgenommen werden. Dort gehören sie zu einem Leib mit vielen Gliedern, in dem kein Glied wertvoller ist als das andere:

„Denn auch wir sind in einem Geist alle zu einem Leib getauft worden, ob Juden, ob Griechen, ob Sklaven, ob Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt worden.“

Paulus löst das Problem der menschlichen Konflikte mit Hilfe seines Erlösers. Das Problem der Griechen, die das gerechte und friedliche Zusammenleben der Menschen mit Hilfe der Demokratie lösen wollten, nach einer gloriosen Phase aber letztlich scheiterten.

Das Generalproblem der Demokratie war die Eintracht, der Gemeinsinn, die Homonoia.

„Eintracht ist die Voraussetzung für alle großen Unternehmungen. Bürgerzwist ist für beide Parteien ein Unglück, denn Sieger und Besiegte haben davon den gleichen …

… Schaden. Wenn die Besitzenden sich entschließen, den Besitzlosen zu borgen, sie zu unterstützen und ihnen gefällig zu sein, so bedeutet dies, dass sie Mitleid mit ihnen haben, und dass jene nicht verlassen sind und diese ihre Genossen sein wollen, dass man einander hilft und die Bürger Gemeinsinn haben und sonst noch viel Gutes. Das Wohl des Staates und seine zweckmäßige Verwaltung muss man als das Wichtigste betrachten. Man darf sich nicht durch Streitsucht mit der Gerechtigkeit in Widerspruch setzen, noch im Widerspruch mir der allgemeinen Wohlfahrt sich persönliche Macht beilegen. Denn ein wohlregiertes Staatswesen ist die beste Bürgschaft des Gedeihens und darin ist alles enthalten. Ein engeres Verhältnis zu den Mitmenschen ist die Freundschaft, die, je länger sie dauert, desto verlässlicher wird.“ (Antiphon)

Das waren die ersten Grundlagen. Manches klingt noch nach privaten Almosen – was später von den Christen übernommen wurde, um eine jenseitige Verdienstethik zu entwickeln, die mit irdischer Politik nichts zu tun haben sollte.

Das Problem war, die private Ethik der Freundschaft und Eintracht in eine Polis zu verwandeln, dass niemand vom zufälligen Wohlwollen des Einzelnen abhängig war. Die Polis sollte gerecht und freundschaftlich werden. Nicht nur das: Eintracht und Freundschaft sollten über den heimatlichen Stadtstaat hinauswachsen und kosmopolitisch die Welt überzeugen. Frauen und Sklaven sollten gleichberechtigt werden.

„Zugleich will er die Schranken zwischen den Völkern und Nationen zugunsten eines Menschheitsbegriffs, der die Gleichheit aller Menschen in allen wesentlichen Eigenschaften anerkennt, niederlegen. Damit wird der hohen Selbsteinschätzung der Griechen im Vergleich mit den „Barbaren“ ein Ende gemacht und – ein Jahrhundert vor Alexander d. Gr. – jene weltbürgerliche Gesinnung angebahnt, die freilich erst in dem makedonischen und römischen Weltreich ihre Erfüllung fand. Nicht ausgeschlossen, dass Antiphon auch für eine Regelung internationaler Streitfragen durch friedliche Verständigung anstatt durch Krieg und damit für den Völkerfrieden eintrat.“

Hier werden jene Gedanken geboren, die über tausend Jahre später zur Formulierung der Menschen- und Völkerrechte – und zur Gründung der UN führten, die in Form eines internationalen Völkerparlaments dafür sorgen sollten, dass diese Prinzipien die Menschheit immer mehr zusammenführen .

Nach einem halben Jahrhundert des Triumphs dieser Ideen – wenngleich erst nach schrecklichen Völkermorden –, hat die gegenwärtige Menschheit das Ruder herumgerissen und beeilt sich, den Fortschritt der Humanität jeden Tag mehr mit Füßen zu treten.

Scheinbar ist die Idee der Demokratie in der Welt in hohem Maße anerkannt. Der Westen hat sie zur Bühne seiner Welt- und Naturbeherrschung gewählt. Dennoch steht sie immer noch auf schwankendem Boden. Woran liegt das?

Schon die beiden ersten Weltreiche, die, nach dem Niedergang Athens, den kosmopolitischen Geist der griechischen Philosophie übernahmen, waren nicht stark genug, dem antihumanen Geist der bloßen Macht zu widerstehen, der auch zum Erbe der zerstrittenen Polis gehörte:
a) den Gedanken der Humanität verbreiteten sie mit dem Schwert. Die besiegten Nationen waren zwar vom neuen Ethos der Menschlichkeit beeindruckt, in vielen Städten bildeten die griechischen Gymnasien den geistigen Mittelpunkt der Gesellschaft. Dennoch erhielten die besiegten Völker keine politische Autonomie – oder sie begehrten sie nicht.
b) Die Macht der Wirtschaft, in der athenischen Polis gebändigt, expandierte zum globalen Kapitalismus, der keine Kontrollen mehr zuließ, zumal die Imperatoren die Ökonomie zur prächtigen Ausstattung ihres Weltreichs nutzten.

Vollends das römische Weltreich, dessen Eliten sich anfänglich mit stoischen Ideen schmückten, errichtete den extremsten Kapitalismus der Weltgeschichte. Ihre Unterschichten degradierten sie zu absoluten Nichtshabern, die auf tägliche Massenfütterung angewiesen waren. Die Kluft zwischen Armen und Superreichen war noch grässlicher als heute, wo Einprozent der Menschheit daraufhin steuert, 99Prozent des Reichtums der Welt sich unter den Nagel zu reißen.

Die Gründe des Niedergangs der Demokratie liegen auf der Hand: im Vergleich mit den undemokratischen Reichen jener Frühzeit, war Athen – trotz einer hohen politischen und kulturellen Anziehungskraft – zu winzig, um sich bei anderen Ländern durchzusetzen, die von der Selbstbestimmung des Menschen keine Ahnung hatten.  

Alexander war zwar ein Bewunderer der griechischen Philosophie, doch seine Idee, Demokratie mit militärischen Methoden zu exportieren, war nicht minder schädlich als heute bei Dabbelju Bush. Die Römer endlich trugen alles Griechische zu Grabe, weil sich gigantische Militär- und Wirtschaftsmacht nicht mit demokratischer Mündigkeit der Völker vertragen.

Das Christentum besiegte das marode und ausgelaugte Weltreich mit Verheißung auf ein jenseitiges Paradies und der genialen Losung: durch Kreuz zur Krone. Irdisches Leid konnte mit Gottes Hilfe bewältigt werden, die Negierung der Welt schlug um in Herrschaft über dieselbe. Das war kein Abrücken von der christlichen Ethik, sondern ihre Einlösung mit Hilfe der paradoxen Intervention: wer unter euch der Erste sein will, sei euer aller Knecht.

Als Opfer des römischen Kapitalismus waren sie die Letzten und Elendesten, die kraft ihrer zähen Dulderkraft die Ersten wurden im eroberten Weltreich. Die Verheißungen eines jenseitigen Himmelreichs waren – was sonst? – selbsterfüllende Prophezeiungen, die sich auf Erden in gottbegnadeter Weise erfüllten.

Nicht nur, dass der athenische Stadtstaat zu winzig war, um eine Kontrastwelt zu beeindrucken, es gab auch zu wenige Menschen, die vom Gedanken der kosmopolitischen Homonoia überzeugt waren.

Athen war der erste demokratische Versuch der Weltgeschichte, über die Maßen erfolgreich – und dennoch zu klein und zu ohnmächtig, um sich gegen gigantische Tyranneien jener Zeit durchzusetzen. Zudem gab es zu wenig Demokraten, die Freundschaft & Gemeinsinn nicht nur predigten, sondern in Einheit von Wort und Tat vorlebten. Demokratie besteht nicht aus einem äußerlichen Regelwerk, sondern aus dem moralischen Geist, der das Spiel der Regeln prägt.

Die Urchristen, in schäumender Wut gegen die Welt, löschten unendliche Zeugnisse der kostbaren Kultur, sodass es fast 1000 Jahre mittelalterlicher Klerokratie benötigte, bis es wieder – vor allem durch Rückkehr des griechischen Geistes aus dem fernen Iran, wohin er in seiner Not geflüchtet war – zur Wiedergeburt der Humanität kommen konnte. Die moderne Aufklärung vollends vertrieb die Macht des Klerus und des verbündeten Adels, um den Boden zu bereiten für die Demokratie – die heute demselben Fehler verfällt wie ihr Vorbild, indem sie die Herrschaft der Gleichwertigen verfälscht in eine  wirtschaftlich-militärisch-technische Klassengesellschaft mit monströsen Abständen.

Nach dem überzeugenden Sieg der westlichen Demokratie über die deutsche Tyrannei, der zur Gründung der UN führte, verfiel die unverträgliche Mischung aus Humanität und Wirtschaft einem Höhenrausch, der alle selbstkritischen Korrekturen zur Nichtigkeit verurteilte.

Die Dritte Welt wandte sich ab von der Idee der Demokratie, die sie als Heuchelei nicht länger ertrug, und begann, die Macht des Westens abzuschütteln. Die Wirtschaft grenzenloser Naturvernichtung schuf die heutige Klima-Apokalypse, die den Fortbestand der Menschheit bedroht.  

Erneut zerfällt die Demokratie in ein Spiel von Regeln, das zunehmend unglaubwürdig wird, weil selbstgefällige Demokraten es nicht mehr für nötig halten, das Ethos der Gleichheit mit Leben zu erfüllen.

Die alte Schlacht zwischen Starken und Schwachen, Reichen und Armen, Herrschsüchtigen und jenen, die fern von Macht und Reichtum ein schlichtes, glückliches Leben führen wollen, neigt sich erneut auf die Seite der Macht.

Demokratische Regeln verfallen, wenn sie nicht von moralischen Verhaltensweisen getragen werden. Eine Volksherrschaft ist kein mechanisches Räderwerk, das von Technokraten per Knopfdruck reguliert werden kann. Die heutigen Eliten in Wirtschaft und Technik pfeifen auf moralische Lenkung, die sie ihrer gottähnlichen Freiheit berauben würde. Was sie Freiheit nennen, ist identisch mit dem antiken Naturrecht der Starken.

In Athen entwickelten sich zwei rivalisierende Naturrechte, je nachdem man die Natur betrachtete. Für die Starken war Natur ein Reich des unerbittlichen Überlebenskampfes aller gegen alle: Hobbes und Darwin erfanden nichts Neues, sondern griffen zurück auf das Naturrecht eines Kallikles und Thrasymachos, die das demokratische Verfahren als hinterlistige Erfindung des Pöbels verachteten, der seine Schwäche in Stärke umlügen würde.

Für die Schwachen und Machtlosen – unter ihnen fast alle Denker – war Natur das kosmische Reich, in dem die Symbiose alles Lebendigen trefflich gelungen war. Die Vernunft des Menschen, selbst eine Frucht der Natur, war imstande, das instinktive Zusammenleben der Tiere und Pflanzen per Selbstbesinnung in polit-moralische Regeln zu übersetzen. Die Menschen mussten lernen, was sie für menschlich halten wollten. Ihre Instinkte gingen fehl, wenn sie nicht in Freiheit erzogen wurden.

Jeder musste seinen Kopf einschalten, um herauszufinden, was er für richtig hielt. Mit dieser Meinung ging er auf den Marktplatz, um sich der dialogischen Überprüfung zu stellen und in der Volksabstimmung die Stimme der Mehrheit zu akzeptieren. Nicht als pure Wahrheit, sondern als tragfähigen Kompromiss auf der weiteren Suche nach Verständigung.

Das Naturrecht der Starken war das Recht des bislang führenden Adels und seiner Mitläufer. Wir befinden uns in der Epoche männlicher Hochkulturen, die – im Amoklauf gegen friedliche, zumeist matriarchalische Urkulturen – die Herrschaft über die damaligen Völker errichtet hatten.

Auch die Griechen begannen mit der Epoche des homerischen Adels, dessen Macht durch das rebellierende Volk allmählich geschleift wurde – und sich in Richtung Demokratie entwickelte. Man könnte sagen, die langsam wachsende Demokratie war eine unbewusste Wiederannäherung an den Geist des Matriarchats.

Sokrates war nicht zufällig der Sohn einer Hebamme, der seine philosophische Gesprächskunst Mäeutik nannte: Hebammenkunst. Nichts sollte gewaltsam zugehen, alles sollte das sanfte Wachsen der Natur zum Vorbild nehmen. Eben deshalb wollte Sokrates kein Zuchtmeister der Menschen sein, denen er eine brachiale Botschaft brachte, sondern sie zum Gebären ihrer eigenen Gedanken animierte: das war das Naturrecht der Schwachen, der Gebärenden, der Mütter, die sich dem Hauruck der Männer widersetzten.

Entsprechend war die Moral des Sokrates. So wenig er wusste von dem, was andere zu wissen glaubten, eins wusste er: „dass Unrechttun und Ungehorsam gegenüber dem Guten, ein Übel und böse war, das wusste er. Woraus er schloss, dass Unrecht leiden besser ist als Unrecht tun.“

„An dieser Erkenntnis konnte ihn weder der Triumph des Frevlers noch das Leiden der Gerechten irre machen. Unrechttun hat immer seinen Grund im Trachten nach äußeren Gütern wie Macht, Reichtum und Ehre. Das seien Güter, die die Welt für wertvoll hielte. Wer aber für seine Seele sorgen will (ob unsterblich oder nicht, war Sokrates gleichgültig), der strebt stattdessen nach Wahrheit und Besonnenheit.“

Wer dies tut, das sei der „wissende Mensch“. Dieser würde sich selber schaden, wenn er täte, was er für falsch hielte. Handeln ist abhängig von der eigenen Einsicht, die fähig ist, sich selbst zu überprüfen und im liebenden Streit mit seinen Freunden sich im Geist seiner autonomen Moral zu entwickeln.

Moralische Einsicht ist die einzige Waffe im Kampf gegen die Macht der Starken, heute der Milliardäre und technischen Fortschrittler. Warum gelingt es uns nicht, den Moloch der Supermänner zu zähmen? Weil es den Supermännern und ihren Marionetten in Medien und Wissenschaften gelingt, diese Moral immer mehr als Stimme der Bremser und Überflüssigen madig zu machen. Die Herren der Welt, sie ertragen keine Kritik mehr. Die Deutschen an vorderster Stelle.

Wenn der chinesische Künstler Ai Weiwei die Deutschen scharf kritisiert, reagieren sie mit peinlichem Schweigen: wie kann man nur so undankbar sein? Haben wir diesen Nestbeschmutzer nicht mit offenen Armen aufgenommen? Hierher gehört auch das Beispiel Klinsmann, der einen Fußballklub scharf an die Brust nahm. Wie war die Reaktion der Medien? Sie untersuchten nicht, was Klinsmann zu sagen hatte, sondern beschäftigten sich mit seinem Auftreten. Sie taten, was sie anderer Stelle verwerfen: sie warfen sich auf die vermeintliche Gesinnung. Ihr christliches Fazit: ein schlechter Baum bringt schlechte Früchte. Tschüss, du amerikanisierter Angeber.

In Deutschland nimmt die Fähigkeit ab, mit Kritik umzugehen. Alles ist Gezänk und Schaum vor dem Mund. Sollen wir noch mit diesen reden – oder mit jenen? Sollten wir sie nicht ausschließen, stigmatisieren und zu Sündenböcken der Nation erklären? Demokratische Basis-Vereinigungen wie ATTAC werden vom Staat finanziell bestraft, während man den Industrie- und Bankenbossen in den Hintern kriecht.

Sokratische Moral, die man in vielen Kulturen finden kann, ist die einzige Waffe gegen Neoliberalismus und Klimagefahren. Weshalb es nicht genügt, nur zu demonstrieren. Nötig wäre es, sich in Gruppen zusammenzufinden, um den sokratischen Geist einzuüben. Das falsche Leben kann nur durch ein richtiges Leben überwunden werden. Zu sagen, im falschen Leben gibt es kein richtiges, ist Kapitulation.

Marx gehört zu den Zertrümmerern der sokratischen Moral, der sie ablehnte, weil die Bourgeoisie sie zur Heuchelei deformierte. Was kann Moral dafür, dass man sie schändet? Da bleibt nur eins, man muss die Heuchelei offen legen und die Moral unheuchelnd in die Tat umsetzen.

In jungen Jahren studierte Marx die Griechen. Zu Sokrates fiel ihm nichts ein. Auch er war überzeugt vom wissenschaftlichen Fortschritt des Abendlandes, der über jede moralische Bemühung erhaben war. Untersuche die vermeintlichen Gesetze der Natur und Geschichte – und du kannst dir jede Moral ersparen.

Obwohl er ein philosophischer Kopf war, verwarf er alle Philosophie. Obwohl er ein Leben lang forschte und dachte, verwarf er alles Denken und Forschen – und warf alle Verantwortung auf einen Gott, den er „materielle Verhältnisse“ nannte. Vertraut auf Gott, vertraut auf die materiellen Verhältnisse – und ihr werdet eines illusorischen Tages das Paradies ernten.

Marx ignorierte sogar den griechisch-römischen Kapitalismus – nicht anders als die meisten Althistoriker bis heute –, obgleich seine Religionskritik besagte, dass Menschen nur in äußerster Verzweiflung zur religiösen Droge greifen würden. Aus welchen Gründen hätte das Christentum entstehen sollen, wenn nicht aus der Notwendigkeit ausgebeuteter Untertanen? Gab es sonst eine Macht, die sie zu absoluten Hungerleidern hätte erniedrigen können?

Ein marxistischer Historiker konstatiert blind, die Alten hätten von kapitalistischer Ökonomie keine Ahnung gehabt:

„Die Unfähigkeit, das Wesen der sozialökonomischen Formationen zu verstehen, führt notwendigerweise zur Modernisierung der alten Geschichte, zu Vermengung prinzipiell verschiedener ökonomischer Kategorien, zur Übertragung feudaler und bürgerlicher Verhältnisse der Neuzeit auf die Antike.“ (A. B. Ranowitsch, Der Hellenismus und seine geschichtliche Rolle)

Auch der Althistoriker Leppin verteidigt die Marx‘sche Blindheit, die die Anfänge des Kapitalismus in der Antike nicht erkennt:

„Von der Welt des modernen Kapitalismus ist die Antike weit entfernt. Das Kreditwesen eignete sich nicht für größere Investitionen, Aktiengesellschaften gab es nicht, Fabriken mit ihren Kraftmaschinen fehlten. Die großen Straßen wurden offenbar vor allem angelegt, um Soldaten zu transportieren und zu versorgen; die Händler folgten diesen Bahnen, und so zerriss mit dem Ende römischer Herrschaft das Handelsnetz. Gewiss passt der Begriff des Kapitalismus daher nicht zu der Welt Platons und Ciceros.“ (FAZ.NET)

Erneut muss die Moderne beweisen, dass sie in allen Dingen das Besondere erfand und die gesamte Antike als das Allgemeine und Normierte in den Schatten stellt. Das quantitativ Größere gilt als das qualitativ Überlegene. Maßstab der Bewertung: die Quantität der Naturwissenschaft, die Diktatur der Zahlen als Beweis des individuell Fortgeschrittenen, das sich auf keine Vorbilder beziehen muss, das von niemandem gelernt hat, das ohne Beispiel ist.

Wen kann es noch verwundern, dass Lernen von Vorbildern immer mehr abgelehnt wird? All das sei nichts als der Versuch, andere zu manipulieren. Lernen kann man nur noch von Zahlen, Algorithmen und genialen Robotern. Der Mensch ist out.

Dabei gibt es einen marxistischen Historiker, der – ohne es zu wissen? – Marx widerlegte:

„Unzweifelhaft findet sich im römischen Weltreich eine ökonomische Entwicklung, die der modernen auffallend gleicht: Rückgang des Kleinbetriebs, Fortschreiten des Großbetriebs und noch raschere Zunahme des großen Grundbesitzes, der Latifundien, die den Bauern enteignen oder in einen abhängigen Pächter verwandeln. Der antike Kapitalismus entstand in ähnlicher Weise wie der moderne, durch jene Methoden, die Marx im Kapitel „die ursprüngliche Akkumulation“ geschildert hat: Enteignung des Landvolks, Plünderung der Kolonien, Handelskriege und Staatsschulden. Er hatte dieselben verheerenden und zerstörenden Wirkungen. Es ist kein anmutiges Bild. Verfall an allen Ecken und Enden, ökonomischer, politischer und damit auch wissenschaftlicher und moralischer Verfall: Abwendung vom Gemeinwesen und Beschränkung auf das eigene Ich, Feigheit, Sehnsucht nach Erlösung durch einen Kaiser oder Gott, nicht durch eigene Kraft oder die Kraft der eigenen Klasse, Selbstzerknirschung nach oben und pfäffische Anmaßung nach unten: Blasiertheit und Lebensüberdruss, Sehnsucht nach Sensation, nach Wundern. Überschwänglichkeit und Ekstase, ebenso wie Heuchelei, Lüge und Fälschung. Selbst mildernden Erscheinungen wie Wohltätigkeit gegen Arme, Erweiterung der Nation zum Begriff der Menschheit sind Verfallsprodukte. Aus sich selbst heraus konnte diese verfallende Masse keine neue Welt gestalten, dazu bedurfte es anderer Elemente, und diese lieferte das Judentum.“ (Franz Mehring, Der Ursprung des Christentums)

Abgesehen von der Attacke auf das Judentum, abgesehen von der „Erweiterung der Nation zum Begriff der Menschheit als Verfallsprodukt, klingt Mehrings Beschreibung der römischen Verhältnisse wie eine packende Reportage der Neuzeit. Erschütternd, dass ein Urvater der SPD noch über Kriterien verfügte, die die heutige Partei an der tiefsten Stelle des Brunnens vergraben hat. Mehring ist alles andere als ein marxistischer Verächter der Moral. Anstatt sich dem Automatismus eines Geschichtsprozesses zu überlassen, will Mehring durch drastische Worte seine Leser aufrütteln. Verlasst euch nicht auf das pseudoreligiöse Opium einer materiellen Heilsgeschichte. Tut was, ihr habt es in der Hand.

Mehring kommt zurück auf die Rolle des Christentums.

„… die christliche Gemeinde, entstanden als proletarisch-kommunistische Organisation, wuchs zu einer Macht empor, der sich die römischen Kaiser beugten, um selbst die riesigste Ausbeutungs- und Unterdrückungsmaschine der Welt zu werden.“

Heute wären solche religionskritischen Attacken in der SPD nicht möglich. Diese an den Altar gekrochene Partei duldet nicht mal einen Arbeitskreis von Atheisten und Agnostikern.

Das Christentum übernahm die wichtigsten Elemente der sokratischen Ethik, reicherte sie an mit Glaube und Hoffnung – und nannte das Ganze christliche Nächstenliebe. Im Namen dieser Nächstenliebe unterwarf es sich den Westen und die Welt. Das war kein Vergehen an der Liebe, sondern eine Konkretisierung derselben. Liebe – und unterwirf die Welt zum höheren Lob des Vaters.

Platon wollte die sokratische Idealgesellschaft nicht durch moralische Bemühung jedes Einzelnen errichten, sondern mit Hilfe einer Zwangsbeglückung. Moral traute er dem Pöbel nicht zu, also zwang er sie zum Guten. Hier beginnt die abendländische Unterminierung der Moral mit Hilfe der Zwangsmoral.

„Erwünscht ist eine derart vollendete Einmütigkeit, dass alle Bürger auf Ereignisse in gleicher Weise mit Freude oder Schmerz reagieren. Dann verhalten sie sich zur Gemeinschaft wie ein Körperteil zum Körper. Wenn beispielsweise ein Finger verletzt wird, erlebt der ganze leibliche und seelische Organismus des Menschen den Vorgang einheitlich als Schmerz. Analog wird auch das erfreuliche oder unerfreuliche Schicksal eines einzelnen Bürgers von der ganzen Gemeinschaft miterlebt. Alle angenehmen und unangenehmen Gefühle werden geteilt. Wie beim Besitz und den sozialen Beziehungen soll auch bei den Emotionen die Unterscheidung von „mein“ und „dein“ wegfallen.“

Platons Politeia wird im Christentum zur Gemeinde der Gläubigen, deren Haupt Christus ist. Fast wörtlich hat Paulus bei Platon abgeschrieben:

„Denn wie der Leib einer ist und hat doch viele Glieder, alle Glieder des Leibes aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus. Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, wir seien Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geist getränkt.“

Was den Heiden nicht gelang, weil sie Sünder und selbstgerechte Moralisten waren, das wird den Schafen Christi gelingen, die mit Christus, ihrem Haupt, zu einem einzigen Organismus zusammenwachsen, alles in derselben Weise fühlen, empfinden, denken und tun. Der individuell Auserwählte verschmilzt im Himmel zur homogenen Masse, in der jeder identisch ist mit jedem.

Das griechische Naturrecht der Starken wird bei Paulus zur allgemeinen Natur der Verdammten:

„Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer. Da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der nach Gott fragt. Alle sind sie abgewichen und allesamt verdorben. Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer. Ihr Rachen ist ein offenes Grab; mit ihren Zungen betrügen sie, Otterngift ist unter ihren Lippen. Ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit. Ihre Füße eilen, Blut zu vergießen; auf ihren Wegen ist lauter Zerstörung und Elend, und den Weg des Friedens kennen sie nicht. Es ist keine Gottesfurcht bei ihnen.“

Das Naturrecht der Starken war der Feind des sokratischen Naturrechts des Humanen. 

Der Historiker Thukydides war Anhänger des Naturrechts der Starken.

„Daraus folgt, dass in der Politik sich das Recht des Stärkeren unweigerlich durchsetzt. Das ist das Naturgesetz, dem man, weil es nicht vom Menschen stammt, göttlichen Charakter zuschreiben kann.“

Natur legitimiert die selektierende Herrenmenschentheorie – auch der Moderne. Machiavelli übernimmt die Theorie des Thukydides und vermittelt sie vor allem den Deutschen, aber auch den westlichen Demokratien, die nicht so töricht sind, ihre Welteroberungspolitik dem Geist der Humanität zu überlassen.

Thukydides ist das Vorbild aller modernen Natur- und Geschichtsanbeter, insofern sie Geschichte und Natur als automatische Vollstrecker des menschlichen Geschicks betrachten. Marx und Hayek gehören zu ihnen. Der eine spricht von materiellen Verhältnissen, der andere vom göttlichen Zufall.

Autonome Moral beginnt, wo jeder übermenschliche Automatismus, sei es Gott, Evolution oder das materielle Sein, ad acta gelegt wird.

Warum erschrickt die Menschheit über den Corona-Virus, nicht aber über die weitaus gefährlichere Klimaverschärfung? Weil die letztere die allgemeine Menschheit betrifft. Hier fühlen sich individuell Auserwählte nicht angesprochen. Lasset die Welt untergehen, sie werden im Schoß ihres Herrn ruhen.

Und dennoch beginnen sie zu zittern: wenn sie aber nicht zu den Erwählten gehörten? Der Westen beginnt, an seiner Auserwählung zu zweifeln. Nicht nur die Erde wankt unter seinen Füßen, auch sein Glaube an die Unverletzbarkeit erlöster Herrenmenschen.

„Nach der Lehre der katholischen Kirche ist „der Mensch […] auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur“ (Gaudium et Spes 24,3).“ (Wiki)

Der Korona-Virus bringt die corona vitae in Bedrängnis. Lasset uns beten.

Fortsetzung folgt.