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Tanz des Aufruhrs XXXII

Tanz des Aufruhrs XXXII,

die Pandemie hat auch ihr Gutes. Die Luft über China verbesserte sich schlagartig.

Wenn alle Großereignisse abgesagt, die Menschen zur Untätigkeit verurteilt werden, wird einem winzigen Virus gelingen, was der Menschheit bislang zu misslingen scheint: die Natur schlägt zurück, reinigt sich von menschlichen Giften und zeigt, wer im Zweifel immer noch Herrin im Hause ist.

Wird das ein Aufatmen und Jauchzen in der Natur sein, wenn die Menschheit nicht länger die Luft verpestet, die Schätze der Erde nicht länger missbraucht.

Der natürliche Mensch, der sich als Künstler verstand, um die Natur zu verbessern, scheiterte, weil der religiöse das Regiment übernahm und die Kraft des heidnischen Menschen schwächte – durch Einführung der Schuld.

Durch Schuld der Krone der Schöpfung verlor die Natur ihre Fähigkeit, sich selbst zu vollenden. In gleicher Weise verlor der Mensch als Sünder seine Fähigkeit, die Natur in ihrer Prächtigkeit zu bewahren. Der Befehl Gottes, die Schöpfung zu bewahren, erging an den Menschen vor dem Sündenfall: als sie noch in paradiesischer Seligkeit atmete. Wäre alles paradiesisch verblieben, hätte man nichts vor Verfall retten müssen.

Als der Mensch in Sünde fiel und die untergeordnete Natur mit in die Sünde riss, hatte er sich unfähig erwiesen, die Schöpfung zu bewahren. Da half nur noch Erlösung. Schöpfungsbewahrung wurde zur Erlösung, ein Werk, zu dem nur der Sohn des Schöpfers fähig war.

„Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Nichtigkeit – allerdings nicht freiwillig, sondern um dessen willen, der ihre Unterwerfung bewirkt hat –, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir …

… wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin. Denn die er ausersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dass sie gleich sein sollten dem Bild seines Sohnes, damit dieser der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Die er aber vorherbestimmt hat, die hat er auch berufen; die er aber berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.“

Weil der Mensch gegen Gott rebellierte, wurde er zum erlösungsbedürftigen Menschen degradiert. Mit ihm – in Sippenhaft – die gesamte Natur, deren irdische Krone der Mensch sein sollte. Die Natur musste büßen, weil der Mensch versagt hatte. Erst wenn der Mensch erlöst ist, kann die Natur mit ihm erlöst werden.

Durch eigene Kraft ist der Mensch nicht fähig, sich und die Natur zu erlösen. Aus Schöpfungsbewahrung wurde Schöpfungserlösung durch den erlösten Menschen. Nicht durch die Menschen an sich, die in ihrer Sünde verharrten, sondern nur durch jene, die von Gott zu diesem Werk vorherbestimmt und berufen wurden. Der ungläubige, nicht berufene und nicht vorherbestimmte Mensch – der natürliche Mensch – ist zur Naturrettung völlig unfähig.

Den Begriff Schöpfungsbewahrung sucht man in vorökologischen Dogmatiken vergeblich.

Bewahrung der Schöpfung ist ein religiös orientiertes Motto, das seit den 1980er Jahren in die Zielvorstellungen zahlreicher christlicher Friedens- und Umwelt-Initiativen Eingang gefunden hat.“

Aber nur in Deutschland. Andere Kirchen, vor allem in den USA, kennen keine Schöpfungsbewahrung:

„Viele christliche Kirchen, gerade auch außerhalb Deutschlands, sehen es nicht als Aufgabe der Kirchen, sich beim Umweltschutz zu betätigen.“

Eine biblische Schöpfungsbewahrung zeugt von der ungebrochenen Fähigkeit biblischer Schriftinterpreten, alles, was sie einst ablehnten (wie Menschenrechte, Demokratie, Anerkennung der Homosexualität), als Erfindung ihrer Schrift auszugeben. Alles, was der Zeitgeist hoch hält, stammt automatisch aus der Erfinderwerkstatt des Heiligen Geistes. Alles, was ihnen lukrativ erscheint in der Welt, erklären die Kirchen zu ihrem Eigentum.

Schon Platon hatte alles von Mose abgeschrieben. Die Regel ist einfach: alles Gute ist heilig und stammt von Gott, alles Schlechte unheilig und stammt aus der Welt oder vom Teufel.

Die Gott-Teufel-Theorie ist die erste Elitentheorie, die sich in den Hochkulturen der Männer bis zum heutigen Tage durchgehalten und glänzend bewährt hat. Gott, Inbegriff der Elite, ist für alles Gute zuständig, der Teufel, Synonym für den verdorbenen Pöbel, ist die Ursache alles Verderblichen.

Dass dem Pöbel alles zu komplex ist, sodass er die Machenschaften der Eliten nicht versteht: das nennen die Theologen die Unerkennbarkeit Gottes. Weshalb die Menschen sich auch kein Bild von Gott machen dürfen. Wessen Physiognomie man schauen kann, der kann sich nicht länger verstecken. Die Griechen waren das Volk des Schauens (theoria kommt von wahrnehmen, schauen). Christen kamen zum Glauben durch Hören. (Paulus stürzte zu Boden und hörte eine Stimme.) Sehen ist autonom, Hören führt zum Gehorsam.

Dass man durch Wahrnehmen durchschaut wird, diese Behauptung wurde von einer deutschen Pastorentochter widerlegt. Je öfter sie konterfeit wird – je unerkennbarer wird sie zur Dea incognita. Wenn sie eines Tages abtreten muss, werden sich alle verwundert fragen: wer war sie, die wir plötzlich vermissen, obwohl sie immer ein Fremdling unter uns war?

Auch für ihre eigene Partei blieb sie die Rätselhafte aus dem Osten, die man nur akzeptierte, weil sie den Oggersheimer Patriarchen forsch vom Throne stieß – den zu entmachten, die Herren aus dem Westen zu feige waren – und zuverlässig für Erhaltung der Macht sorgte. Kaum kommt sie ins Zittern und Zagen, wird sie wieder zur Fremden, die sie unterschwellig immer geblieben ist.

Erkennbar ist das Fremdeln an den Distanzierungsworten des möglichen Nachfolgers Armin Laschet gegenüber der Kanzlerin:

„Ich bin ein anderer Mensch, vertrete einen anderen Politikstil. Mit der nächsten Bundestagswahl endet eine lange Kanzlerschaft von Angela Merkel. Es wird einen neuen Kanzler, eine neue Koalition, ein neues Kabinett geben. Es wird alles neu sein. Ich bin Rheinländer, ein Mann aus dem Westen, katholisch, regiere mit der FDP, habe Jura studiert und bin kein Naturwissenschaftler . . . noch mehr? Ich halte von solchen Typen-Beschreibungen nichts. Jeder hat seine eigene Biografie.“ (BILD.de)

Er galt als treuer Gefolgsmann Merkels. Plötzlich will er alles neu machen. Was bedeutet, die gesamte Politik Merkels hält er für falsch. Warum? Weil er ein anderer Mensch ist: aus dem Westen, kein Naturwissenschaftler.

Jeder Mensch macht seine eigene Politik, weil er ein anderer Typ ist. Das ist Postmodernismus in rheinischer Jovialität, obgleich das katholische Prinzip: roma locuta, causa finita (Rom hat gesprochen, die Sache ist entschieden) sich mit postmodernem Relativismus so gut verträgt wie der Heilige Geist mit dem Gottseibeiuns.

Vernunft als überwölbendes Verständigungsprinzip aller Menschen gibt es in christlichen Kreisen nicht. Die Taten eines Menschen beurteilt man nach subjektiven Gründen oder der Gesinnung. Ist die – vermutete – Gesinnung gut, müssen die Taten auch gut sein.

Viel sinnvoller und rationaler wäre es, die Gesinnung nach Taten zu beurteilen: wer gute Werke tut, muss eine gute Gesinnung haben. Von Taten sollte auf die Gesinnung geschlossen werden, nicht von der Gesinnung auf Taten.

Bei einem kirchentreuen Christen sind alle Taten vorzüglich, denn alles, was er tut, vollbringt er aus Liebe. Christliche Gesinnung adelt alles Böse zum Werk Gottes. Eine gesinnungs-unabhängige objektive Bewertung der Taten ist ausgeschlossen. Vorzügliche Taten von Ungläubigen gelten nur als goldene Laster.

Dieses christliche Überprüfungsschema nutzen auch die Medien. Rationale Bewertungsmuster sind ihnen unbekannt, weshalb sie sich sofort auf die Motivationen des Akteurs stürzen. Was hat ihn bewegt? Welche Biographie hat er? Die Erkundung des Inneren wäre sinnvoll, wenn man den Humus der Taten mit den Taten selbst vergliche. Taten liegen vor: jeder kann sie beurteilen. Die Tiefen der Gesinnungen sind multiple Labyrinthe, in denen man sich hoffnungslos verirren kann.

Menschen können sich für christlich halten – und sind doch in hohem Maße rational. Und umgekehrt: viele halten sich für sachlich und ungläubig – und sind doch Vollstrecker uralter Religionsmythen.

Der gesamte Silicon-Valley-Klub hält sich für den Inbegriff wissenschaftlicher Rationalität – und ist doch nichts anderes als ein Gebetverein, der sein Glaubensbekenntnis in algorithmischen Hieroglyphen ablegt. Wer unsterblich werden will mit Hilfe von Apps ist Anhänger einer Erlösungsreligion, kein Freund der Natur: er will Natur überwinden und als marode ad acta legen.

Ob jemand Merkel ablösen will aus Eitelkeit oder aber aus selbstloser Verantwortung ist nur interessant, wenn man dessen Biografie schreiben will. Ansonsten sind Motivationen unerheblich. Hat jemand ein rationales Programm, mögen ihn noch so unappetitliche Motive bewegen: an seinem rationalen Programm änderte sich nichts. Allenfalls könnte man Prognosen abgeben, ob er sein vorzügliches Programm auch vorzüglich realisieren kann.

Die Lage der politischen Christen ist desolat. Ein konsistentes Programm hatten sie noch nie zu bieten. Ihr Glaube bezieht sich aufs Jenseits und dient nicht der Humanisierung des Diesseits. Ihren ethischen Anspruch halten sie für unvergleichlich, weshalb sie nicht wissen wollen, welche sonstigen Ethiken es in der Antike gab, die von den Urchristen nur übernommen und in religiöses Opium getaucht werden mussten, um als unvergleichliche gepriesen zu werden.

Ihr ethisches Programm wird als Maximum gepredigt, freilich als unerreichbares, weshalb Bismarck – ein frommer Pietist – grummeln konnte: mit der Bergpredigt könne er keine Politik machen. Wie kann man mit einer Ethik Reklame machen, die im politischen Alltag nicht verwendungsfähig ist?

Dabei stimmt es gar nicht, dass ihre Ethik so ideal ist. Christliche Ethik ist antinomisch, was heißt: nach Belieben kann sie dies und das genaue Gegenteil bedeuten. Luther formulierte den markanten Spruch: sündige tapfer, wenn du nur glaubst. Als Christ musst du keine Hemmungen haben, das Verwerfliche zu tun – wenn du nur glaubst, das Gottgewollte getan zu haben. Was immer du im Namen Gottes tust, ist gerechtfertigt. Nicht Werke zählen, sondern der Glaube, aus dem die Werke kommen.

Das Christentum als antinomische Religion ist die unmoralischste, die man sich denken kann. Alles ist ihr erlaubt, wenn sie es nur im Namen des Herrn tut.

Als das römische Reich unterging und das Christentum die Chance sah, das Weltreich zu übernehmen, hatte es ein gewaltiges Problem. Durfte es weltliche Macht übernehmen, obgleich es auf die baldige Wiederkunft ihres Herrn wartete? Beides zugleich war nicht möglich.

Das war die Stunde des genialen Nordafrikaners Augustin, der sich zur Notoperation entschied: die Naherwartung des Herrn wurde gestrichen, die Kirche als Macht langfristig angelegt.

Das bedeutete Zweiteilung der Welt in eine irdisch-verkommene-böse und in eine überirdisch-vollkommene-heilige. Die Ungläubigen lebten in der bösen Welt, die Gläubigen waren Bürger zweier Welten: der irdisch-sündigen und der überirdisch-vollkommenen. Die irdische ist zwar des Teufels, dennoch muss sie bestimmte Aufgaben erfüllen, die man heute vernünftig nennen würde:

„Der weltliche Staat, die res publica, ist nicht einfach das Reich des Teufels, also civitas diaboli, sondern ein Zweckverband, der Frieden und Gerechtigkeit schaffen soll. Er wird bei Augustinus nicht durchwegs negativ beurteilt. Ihm kommt die Aufgabe zu, den materiellen Aspekt des Lebens zu schützen, worin dieser aber in Ermangelung der Erlösungshoffnung letztendlich scheitern wird. Die gläubigen Christen leben in Erwartung des Anbrechens des Gottesstaates, der durch den Glauben zwar in ihnen, aber nicht im Rahmen der Welt verwirklicht ist.“

Bei Luther war der Unterschied zwischen den beiden Reichen nicht so schroff. Denn auch der weltliche Staat unterstand der göttlichen Obrigkeit. Eine Obrigkeit ohne Gottes Erlaubnis war nicht möglich. Jedermann sei untertan der Obrigkeit, gleichgültig ob diese ein christlicher König, ein atheistischer Absolutist oder ein österreichischer Sohn der Vorsehung ist.

Widerständler Stauffenberg und der lutherische Adel hatten deshalb so viele Schwierigkeiten, den Führer über den Haufen zu schießen, weil sie fürchteten, gegen Römer 13 zu verstoßen: Seid untertan der Obrigkeit, denn jede Obrigkeit ist von Gott.

Diese Kleinigkeiten werden in keinem deutschen Gymnasium gelehrt, nicht mal an den ausgehöhlten Unis. Die Biografie der Linken wird diabolisiert, die Biografie der Unionschristen strahlt in sakramentaler Reinheit. Nicht Taten zählen, sondern die vermutete Gesinnung.

Das Ergebnis war bei Augustin und Luther gleich: ein Christ durfte keinen Auftrag der Obrigkeit ablehnen, auch nicht den Job eines Henkers, der die Bösen foltern und töten musste. Ob rechtens oder nicht, hatte er nicht zu beurteilen: die Obrigkeit konnte nicht irren.

Das gilt noch heute. Böse und widersprüchliche Taten werden der civitas terrena angerechnet, gute Taten – wie das Einlassen der Flüchtlinge – gelten als samaritanische Spitzenleistungen.

Rolf-Dieter Krause, ehemaliger Brüsselkorrespondent der ARD erzählt: wenige Monate vor dem Flüchtlingswunder hielt Merkel in Brüssel eine Rede, in der sie anmahnte, die Flüchtlingsfrage als wichtigstes Problem unserer Zeit ernst zu nehmen. Dann tat sie – nichts. Was immer sich auf dem Balkan zusammenbraute, schien sie nicht zu interessieren. Dann, über Nacht, die sorgfältig geplante Überrumpelungsaktion als altruistische Erleuchtung, die mit niemandem abgesprochen wurde. Die Pastorentochter stand barhäuptig vor ihrem Gott.

Glanztaten sind eigene Glanztaten, böse Taten sind dem Reich des Teufels geschuldet: so sehen sich die Deutschen mit ihrer symbiotisch verbundenen Kanzlerin: sie sind mit sich im Reinen.

Es war die Evangelische Studiengemeinschaft um den Religionsphilosophen Georg Picht und das Universalgenie Carl Friedrich von Weizsäcker, mitsamt ihren zahlreichen Schülern aus Theologie und Naturwissenschaft, in der das ökologische Defizit der Kirchen durch den Begriff Schöpfungsbewahrung gelöscht und ins Gegenteil verkehrt werden konnte.

Von alters her Feinde und Herren der Natur, sollten Christen über Nacht zu besten Freunden der Schöpfung werden.

Schon der Begriff Schöpfung ist eine Diskriminierung. Ein allmächtiger Mann maßt sich an, die unendliche Natur aus Nichts erschaffen zu haben – um sie eines Tages wieder ins Nichts zurückzustoßen.

Aus Nichts bedeutet: die Schöpfung existiert nicht aus eigener Kraft, sondern ruht auf dem unerklärlichen Willen des Schöpfers, der sie nach Belieben ins Nichts zurückverwandeln kann.

„Ihre Einheit und innere Verbundenheit hat die Welt und ihre Fülle nicht in einem kosmologischen Urprinzip, wie es die jonischen Naturphilosophen gesucht haben, sondern in dem ganz persönlichen Schöpferwillen Jahwes. Hier fallen Schöpfung und Erlösung zusammen.“ (Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testamentes)

Natur hat keine Beharrungskraft in sich, sondern hängt am Gnadenwort eines Mannes, der sich zum Schöpfer aufbläht. Zuerst preist er sie als vollkommen, dann verflucht er sie als misslungen und will sie vernichten. Nur ein neuer Gnadenakt kann sie vor der Guillotine retten.

Kann der Mensch sie verbessern? Soll er es? Er soll und kann es nicht. Wie der Mensch, kann auch die Natur nur von Oben erlöst werden. Die Grünen jedenfalls sind dazu nicht fähig, denn Gott hat sie nicht bei Namen gerufen. Hätte er sie, wären sie eine Sekte, aber keine politische Partei.

Für C. F. von Weizsäcker war es der christliche Gott höchstselbst, der die Welt entgöttert hat. Was bedeutet, er hat sie von vielen heidnischen Göttern gesäubert. Als sie dann nicht mehr göttlich war, konnte der Christ sich die Welt bedenkenlos untertan machen. Es war ja nichts mehr Heiliges an ihr. Was nicht heilig ist, ist wertlos und kann vernichtet werden. Die entgötterte Natur war nicht mehr achtungswürdig. Sie konnte bis auf die Knochen abgeschabt und ausgebeint werden.

Warum eine wertlose Welt als Schöpfung bewahrenswert sein soll: diese Frage ist bis heute nicht gelöst. Ja, sie wird gar nicht mehr gestellt. Schöpfungsbewahrung wurde zum Geheim-Code aller deutschen Parteien.

Der griechische Kosmos beruhte nicht auf Nichts, sondern auf einer ewigen Mutterqualität. Die Griechen bemerkten sehr wohl, dass die Natur ihren geistbegabten menschlichen Sprösslingen die Aufgabe gegeben hatte, aus Chancen und Möglichkeiten der Natur Wirklichkeit werden zu lassen. Die Unfertigkeit der Natur – gerade im menschlichen Bereich – war kein Böses, sondern eine Stufe im work of progress. Hier sollte der Mensch ansetzen und die mögliche Vervollkommnung in eine wirkliche verwandeln. Nicht als technischer Fortschritt, sondern als Humanisierung und Ästhetisierung der naturnahen Kultur.

Kunst sollte die ideale Schönheit der Natur anstreben, Philosophie die ideale Moral realisieren. Die Natur arbeitet an sich mit Hilfe ihrer Geschöpfe, denen sie die Kompetenz der Verbesserung und Verschönerung verlieh.

Bei Platon gab es zwar ideale Ideen, aber sie befanden sich in einer Welt oberhalb der sinnlichen, die nicht ideal war. Der Mensch sollte sich bemühen, die Welt durch Erziehung und Politik zu idealisieren. Platons idealer Staat sollte diese Aufgabe erfüllen, doch leider mit Gewalt, weil Platon – im Gegensatz zu seinem Lehrer Sokrates – dem Volk die erforderlichen Erkenntnisfähigkeiten nicht zutraute.

Platons Schüler Aristoteles missfiel die Zweiweltenlehre seines Lehrers. Er holte die Ideen vom Himmel auf die Erde und nannte sie Elemente, die ihr Ziel (Telos) in sich haben: Entelechie. Die Natur hatte das Ziel der Vervollkommnung in sich. Sie musste nur den Prozess in Gang halten, das Telos nicht aus den Augen zu verlieren. Das war die causa finalis, die Möglichkeit, das ideale Ziel aus eigener Kraft durch Politik, Kunst und Philosophie zu erreichen.

Wie Aristoteles die Ideen zur Erde brachte, um sie in die Materie einzupflanzen, so entschloss sich der christliche Gott, seinen Sohn zur Erde zu schicken, um das Wort Fleisch werden zu lassen.

Kunst war bei den Heiden die Fähigkeit, die verborgenen Kompetenzen der Natur zur Entfaltung zu bringen. Ihre Kunst stellte die Menschen nicht dar, wie sie waren, sondern wie sie ideal sein könnten.

Es war der Künstler Polykleitos von Argos, der die Forderung aufstellte, „es dürfe nicht das nächstbeste Exemplar der Gattung dargestellt, sondern es müsse ein idealer Durchschnittstypus gesucht werden. Diese „Mitte“ sollte durch zahlenmäßige Errechnung der Proportion (Symmetrie) der verschiedenen Körperteile zu einander gewonnen werden.“

Plotin verallgemeinert das Prinzip des künstlerischen Handwerkers. „Kunstwerke bestehen aus Erz, Holz oder Stein und sind damit noch nicht vollendet, bis die Kunst der betreffenden Materie die Form verleiht, die sie besitzt, und daraus etwas bildet, eine Bildsäule oder ein Bett oder ein Haus. Überträgt man diesen Gesichtspunkt auf die Betrachtung des Weltalls, so wird man sich auch hier bis zum Urgeist erheben und wird in ihm den wahren Schöpfer und Bildner erkennen.“

Es ist der Urgeist des Menschen, der die Natur verschönern und verbessern kann. Das ist keine Rebellion gegen die Natur, sondern eine Erkenntnisleistung in Eintracht mit der Natur. Hier gibt es kein radikal Böses, das alles verdirbt, hier gibt es nur autonome Mitarbeit am gewaltigen Bau der Natur.

Ideale Kunst zeigte, wozu Natur fähig sein kann. Der Weise zeigte, wozu der Mensch sich bilden kann. Demokratie zeigte, wie die Menschheit sich in Freiheit und Gleichheit politisch organisieren kann. Durch ihre Fähigkeiten werden Menschen zu Mitarbeitern der Natur an ihrer lustvollen Selbstvervollkommnung.

„Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister, 
und bauen dich, du hohes Mittelschiff.“

Rilke ahnte die naturverliehenen Fähigkeit des Menschen, am Werk der Natur mitzuarbeiten. Doch das Mittelschiff verweist bereits auf die Degradierung der Natur zur Kathedrale.

Kunst war die handwerkliche Fähigkeit, den Menschen durch Proportion und Symmetrie zur idealen Schönheit zu vervollkommnen. Das war die Lust und Leidenschaft der Kunst bis zur jüngsten Neuzeit, als – durch Verhässlichung der Welt per Fortschritt – die Kunst keinen Sinn mehr darin sah, die Verschlimmerung der Verhältnisse durch bloßen Kontrast zu verhindern.

Sie ging über zur paradoxen Intervention, der hässlichen Welt einen Spiegel vorzuhalten, in der geheimen Hoffnung, die Welt könnte – erschreckt durch Widerspiegelung der Kunst – wieder zurückkehren zur ursprünglichen Verschönerung der Welt.

Auch das scheiterte. Der pädagogische Abschreckungseffekt durch Hässlichkeit konnte mit der real zunehmenden Hässlichkeit industrieller und moralischer Verwüstungen nicht mehr mithalten.

Heute zeigt sich an allen Ecken und Enden, was Hegel mit dem Ende der Kunst meinte. Der Kunst fehlen alle Möglichkeiten, die gigantischen Dimensionen der wirklichen Hässlichkeit mit ihren Bildern, Collagen, Skulpturen und Bühnen-Aktionen einzufangen.

Ein Film will den Hass einer mörderischen Aktion in Bildern darstellen. Was aber sind diese flüchtigen Bilder, verglichen mit den wirklichen Katastrophen der Flüchtlinge an den Mauern Europas, den wirklichen Verwüstungen der Natur auf allen Kontinenten des Planeten?

Die Kunst besaß eine Funktion, solange sie den Menschen in Liebe und Hass, Humanität und Bosheit, Schönheit und Verkommenheit zeigen konnte, was sie noch nie gesehen hatten.

Heute müssen wir sagen: wir haben alles gesehen – in einem Übermaß, das wir nicht mehr bearbeiten können. Also müssen wir uns schützen, indem wir sehen und doch nichts sehen, hören und doch nichts vernehmen. Wir sind blind und taub geworden, weshalb Katastrophen uns nicht mehr erreichen.

Der Prozess der Ästhetisierung des Menschen ist umgeschlagen in die Anästhetisierung aller Sinne, damit wir uns einbilden können, wir seien auf der Höhe der Zeit.

Keine Kunst wird es mehr schaffen, was Rilke in seinem Gedicht „Archaischer Torso Apollos“ von uns forderte:

„… denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.“  

Fortsetzung folgt.