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Sonntag, 18. September 2011 – Klischeebildungen

Hello, Freunde der Außenseiter,

gibt es den Amerikaner? Den Unternehmer? Den Konservativen? Den Juden? Den Deutschen? Klinsmann wurde neulich verhöhnt, weil er in TV dem deutschen Publikum den Amerikaner erklären wollte. Der habe so viel mit der Sicherung seines Alltags zu tun, dass er keine Zeit habe für überflüssiges Wissen um die Welt. In einem Test hielten viele Amerikaner Adolf Hitler für einen deutschen Bundeskanzler. Ist der Amerikaner schlicht und einfach dumm?

Darüber gibt’s viele Untersuchungen, die Ergebnisse sind niederschmetternd. Wenn der kollektive IQ einer Nation in den Keller rutscht, kann sie dann noch Weltmacht Nr. 1 sein? Auch die Pisa-Tests erkunden den deutschen Schüler im Unterschied zu dem finnischen. Über diese Fragen zu reden, geht nicht ohne Erwähnung der Statistik, die man eine Wissenschaft der Klischeebildung auf empirischer Basis nennen könnte.

 

Seit Novalis, spätestens seit Dilthey, haben die Deutschen massive Vorbehalte gegen den Versuch, menschliche Dinge mit mathematischen Methoden einzufangen.

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren,

Sind Schlüssel aller Kreaturen

Wenn die so singen oder küssen,

Mehr als die Tiefgelehrten wissen … „

Zahlen gelten als statisch und kalt, das dampfende fließende Leben könnten sie nicht auf einen Nenner bringen. Das ist der Grund der alteuropäischen Zweiteilung der Kulturen. Hier die nüchternen mathematischen Naturwissenschaften, dort die verstehenden, deutenden, empathischen Geisteswissenschaften, die mit den vier Grundrechenarten schlechterdings unverträglich sind. Ein Mensch sei weder eine Nummer, noch eine Zahl oder Ziffer. Und dies, obgleich Pythagoras den Grundstein zur europäischen Wissenschaft legte, indem er physikalische Phänomene mit Zahlen erfasste.

Warum alteuropäische Zweiteilung? Weil Amerikaner nie Probleme mit dem Rechnen hatten und ungeniert die Geisteswissenschaften nach Vorbild der Naturwissenschaften mathematisierten. Die Infiltrierung des Humanen mit Quantität war eine amerikanische Erfindung, die bei uns erst nach dem Krieg die Fakultäten erobert hat. Statistik als die Grundlage aller naturwissenschaftlichen Psychologie.

Als Adorno & Horkheimer in den 30ern nach Amerika emigrieren mussten, hatten sie erhebliche Probleme, sich die Grundlagen der empirischen Sozialwissenschaften anzueignen. Beinahe wäre ihre dortige Uni-Karriere gescheitert, weil sie sich mit Händen und Füßen gegen den Kult des Quantitativen wehrten. Ihre Erforschung eines unbewussten Faschismus-Syndroms gilt heute unter Fachleuten als vorsintflutlich.

Kann man Angst, Intelligenz, Gefühle überhaupt messen wie man die Temperatur des Badewassers misst? Das Urmeter ist die objektive Grundlage aller Meter der Welt. Sind Begabungen, Talente, Emotionen aber nicht abhängig von unterschiedlichen Kulturen? Ein Intelligenz-, Eignungs- oder Persönlichkeitstest kommt daher wie ein Urteil Gottes, dem das Innerste der Menschen nicht verborgen bleibt. Gar die Intelligenztests, die sich anmaßen, wie das Orakel von Delphi ein unfehlbares Urteil abzuliefern. (Ich wette, dass hinter den meisten „Prüfungsphobien“ sich ähnliche urdeutsche Restideologien verbergen. Die Deutschen sind tiefenpsychologische Romantiker mit immer noch heftigen Ressentiments gegen rechnerisch-unfehlbare Gottesurteile)

Also machte ich mich daran, die Objektivität der quantitativen Angebermethoden zu destruieren. Und stellte verblüfft fest, dass die Empiriker gar keine objektiven Ergebnisse erzielen wollen. Wollen vielleicht schon, aber nicht können. Ihr Trick besteht in der Verwendung diverser Skalen, die alles andere als objektiv sind und subjektive Einschätzungen behandeln, als seien sie physikalische Messmethoden.

Absolutheitsskalen, die auf objektiven Daten beruhen, gibt es in den Sozialwissenschaften gar nicht. Objektive Daten müssen von jedem Subjekt mit identischem Ergebnis in beliebiger Wiederholung erhoben werden können. Die Zahlen der Empiriker hingegen sind wie Zensuren der Pauker, selbst in mathematischen Tests geben sie Noten nach Lust und Wellenschlag.

Das geben die Naturwissenschaftler sein wollenden subjektiven Perspektivisten nicht zu, sondern kokettieren in der Öffentlichkeit mit „wasserdichten“ Erkenntnissen, die sich in allen Bereichen der Wirtschaft, Armee, Schulen als unangreifbare Machtinstrumente einsetzen lassen. Zum Zwecke der Hierarchisierung der Gesellschaft. Heute Ranking genannt. Eine Klassifizierungsmethode, die sich in allen Nischen des modernen Lebens eingenistet hat. Antreten zum Einreihen.

Platon musste zu einer heiligen Lüge greifen, um seine drei Schichten als naturwüchsige philosophisch zu verkaufen. Wer ist der Beste, wer sind die Überflüssigen? (Bei Platon gibt’s noch keine Überflüssigen, alle werden gebraucht und sollen glücklich sein) Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.

Alle Menschen sind ungleich, vor allem in Demokratien, wo alle Bürger vor dem Gesetz gleich sein sollen. Vor dem Gesetz, aber nicht im täglichen Leben. Nicht vor dem Zaster, dem Erfolg, nicht in der Wahl der vorzüglichsten Wohngegenden, der besten Schulen für den eigenen kostbaren Nachwuchs. Wir wissen, dass die Gleichheit vor dem Gesetz keinen Bestand haben kann, wenn im Rest der Gesellschaft die Ungleichheiten von Generation zu Generation tiefer eingefräst werden. Ohne teure Anwälte säße DSK noch immer im Untersuchungsknast bei Wasser und Brot.

Mumford würde sagen, die Megamaschine hat ihre Macht gegen alle demokratisierende Einebnungsversuche zurückerobert. Wer möchte widersprechen? Megamaschine war der staatliche Koloss, der sich seit ägyptischen Tagen in Form einer Pyramide von oben nach unten in absteigender Macht schichten- und klassenmäßig „stratifiziert“. Unten die vielen Einfaltspinsel und Tröpfe, die mit harter Maloche die wenigen Schlitzohren über ihnen ernähren und schützen und zum Dank sich von ihren „Hirten“ als gefügige Schafe malträtieren und degradieren lassen müssen.

Das ist der Beginn der patriarchalischen Hochkulturen, die per Gewalt die neolithischen Matriarchate überrumpelt und abgelöst haben. Die Ursachen dieser erfolgreichsten und verhängnisvollsten Revolution der Weltgeschichte übergehen wir hier.

Ein Matriarchat ist wohlweislich keine Herrschaft der Weiber über ohnmächtige Schwanzträger. Die Mütter bestimmen zwar die Atmosphäre, aber nur durch natürliche Autorität, in deren Aura Einsichten und soziales Verhalten erworben werden können. Für Wesen, die imstande sind, Leben hervorzubringen, können die Sprösslinge ihrer Fruchtbarkeit niemals von völlig unterschiedlichem Wert sein. Bei allen ungleichen Anlagen bleiben sie schutz- und liebesbedürftige Persönlichkeiten, die als Robinson Crusoes nicht existieren könnten und auf verlässliche Gruppen angewiesen sind.

Im Kampf zwischen Matriarchat und Patriarchat, Mutter und Vater, gleichberechtigter Clandemokratie und gegliederter Machtmaschine, ist die Gewalt der Ungleichen dabei, verlorenes Terrain wieder zurückzuerobern. Mit Hilfe der Wissenschaften, die spätestens seit dem Bau der Atombombe ihre Unabhängigkeit verloren und sich in den Dienst der Megamaschine gestellt haben.

Sind statistische Erhebungen also von keinem Wert? Doch, als Zählen von Erbsen – wenn Erbsen vorliegen. Man muss ihren beschränkten Aussagegehalt einzuschätzen wissen und ihre Daten und Fakten nicht als göttliche Weisheiten illuminieren, dann können sie in bestimmten Bereichen nützlich sein. Wozu demoskopische Untersuchungen gehören, in denen die Probanden nicht geröntgt werden, sondern nur schlicht und einfach ihre Meinung mit Ja und Nein sagen sollen. Vorausgesetzt, es werden keine hinterfotzigen Fragen gestellt.

Ist die Population repräsentativ ausgewählt, können tragfähige Prognosen erzielt werden. Vorausgesetzt, die Stimmung der Bevölkerung ist zwischen Erhebung und Prognosetag nicht gekippt, was immer wieder passieren kann. Wer solche Kippbewegungen übersieht, blamiert sich am Tag der Entscheidung.

Eine Prognose ist keine prophetische Zukunftsschau, sondern Erkenntnis der Gegenwart, die als konstante hochgerechnet werden kann. Das funktioniert in der Regel, wie die Praxis der seriösen Umfrager hinlänglich bewiesen hat. In frühen Zeiten der Demoskopie hat ein gewisser Martin Walser die Nölle-Neumann als Hexe vom Bodensee verschrieen – ohne ein einziges Argument. Längst hat er sich als wiedergeborener Novalis zu erkennen gegeben, ohne dass er für richtig gehalten hätte, in jungen Jahren die Republik von seiner Gegenwart für immer zu befreien.

Zu den messbaren Oberflächenphänomenen gehören auch nationale Eigenheiten wie: essen Franzosen ihre quiche lorraine lieber mittags oder abends? Wie viele Arme und Reiche haben sie, im Unterschied zu anderen Nationen? Es gibt Quantitäten, die können mit quantitativen Methoden erhoben werden. Also können nationale „Klischees“ auf quantitativer Basis gemessen und verglichen werden.

Sind Deutsche noch immer Sauerkrautesser oder spachteln sie inzwischen lieber Döner, Pizzas oder Sushi? Das lässt sich durch einfaches Abzählen der jeweiligen Futtermenge problemlos ermitteln. Schwieriger ist es beim Ermitteln kollektiver Eigenheiten durch Deuten politischer Taten oder literarisch-künstlerischer Artefakte. Aber unmöglich ist es nicht.

Statistische Daten sind Durchschnittswerte, die mit keinem einzigen Subjekt identisch sein müssen. Wenn eine deutsche Frau durchschnittlich 1,5 Kinderlein zur Welt bringt, hat sie nicht ein komplettes Baby plus einen kopflosen Krüppel geboren. Von daher ist es völlig vertretbar, von dem Amerikaner zu sprechen, auch wenn er mit keinem lebenden Gringo identisch ist. Je verlässlicher die Erfahrungen der großen Zahl, desto mehr Individuen muss es geben, die sich den erhobenen Werten annähern.

Selbstverständlich gibt es stets Ausnahmen von der Regel, die von der statistischen Messmethode auch erfasst werden müssen. Es sind die „Ausreißer“, die nicht in der Mitte der Glockenkurve angesiedelt sind. Wie ich von dem typischen Deutschen rede, kann ich auch von dem typischen Ami oder Juden sprechen. Im Guten wie im Schlechten.

Und hier noch das Porträt eines Reichen, der alle Klischeemerkmale der Reichen bei sich weggearbeitet hat. Sowas gibt’s also auch.