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Sonntag, 11. September 2011 – Verschwörungstheorie als Hypothese

Hello, Freunde Indiens,

ein außerordentliches Interview mit Arundathi Roy über die Welt nach 9/11, den Totalitarismus der Mittelklasse, falsches und richtiges Bewusstsein, Bollywood, den genügsamen Sufismus, Glück, die am besten vernetzte Elite rund um den Globus, gemeinsames Eigentum und ihre wunderbare Mutter. Hätte dies Interviewerin Iris Radisch nimmermehr zugetraut, damit hat sie viele Sünden gut gemacht.

Das Gespräch ersetzt Bibliotheken, die indische Schriftstellerin gehört für mich zu den Weltweisen. Solche schlichten Sätze auch nur zu denken, würde jeden westlichen Komplexitätsanbeter mit Schamröte überziehen. Allmählich wagen sich in Indien, China und anderen Urorten dieser Welt die von der westlichen Walze untergepflügten traditionellen Naturweisheiten wieder ans Tageslicht und stellen sich dem importierten Verhängnis entgegen. Noch ist Hölderlin nicht widerlegt, wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Zum schlechthinigen Vergleich mit Roy die analoge Bilanz eines deutschen Medientycoons.

Damit zurück zur gestrigen Ausnahme-TAZ.

 

Eine Milliarde Menschen hungern weltweit. Die Zahl der Hungernden zu halbieren, ist als Milleniumsziel gescheitert. Warum die meisten Notleidenden als Kleinbauern auf dem Land leben, wo man der Natur am nächsten ist, beschreibt der folgende Artikel. Die nordischen Länder betreiben ungebremst mit Dünger und Pestiziden die Massenproduktion von Lebensmitteln, die sie mit Hilfe ökonomischer Strangulierungsregeln den Hilflosen aufzwingen. Wo im Süden die Laborkeulen eingesetzt werden, um sich gegen die Übermacht des Westens zu wehren, hält die Krume nicht stand und verflüchtigt sich. Was man dagegen tun kann, will die Initiative „Öko + fair ernährt mehr“ aufzeigen.

Die Deutschen jammern gern und vorbeugend. Vergessen wir nicht, dass die wahren Verlierer nicht in gemäßigten Breiten wohnen.

Scholl-Latour hat inzwischen jedes Land dieser Welt bereist. Er ist ein abendländisch-katholischer Haudegen, doch erfrischend ehrlich und sagt unumwunden, was er denkt. Damit ist er schon zu Lebzeiten ein Fossil unter den Öffentlich-Biegsamen.

Wer hat am meisten vom „Krieg gegen den Terror“ profitiert: die Geheimdienste und der technisch-militärische Komplex in den USA, vor dem schon Eisenhower warnte.

Nun zum inneren TAZ-Dialog, der überfällig war. Mathias Bröckers war mal Chefredakteur der TAZ, gilt heut als führender Verschwörungstheoretiker, weil er bereits sein drittes Buch über das Thema veröffentlichte, das es zum Bestseller gebracht hat.

Grundthese: der Anschlag auf die Twin Towers war von der USA-Regierung geschickt eingefädelt, um eine nationale Legitimation für einen Angriffskrieg zu erhalten. Nicht um Demokratie zu exportieren, sondern um sich die letzten riesigen Ölressourcen rund um den Hindukusch unter den Nagel zu reißen. Anders könne man sich die vielen eklatanten Widersprüche und angeblichen Fehlleistungen des amerikanischen Machtapparats nicht erklären. Hier ein direkter Schlagabtausch zwischen Bröckers und einem heutigen TAZ-Schreiber. 

Eine Verschwörungstheorie ist erst mal nix als eine Hypothese, die dem Mainstream der Eingeebneten und Angepassten widerspricht. Hier wagt jemand, seine eigene Meinung zu bilden, seinen eigenen Sinnen zu trauen. Ob seine Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen richtig sind, hängt von der Stichhaltigkeit seiner Argumente und Beweise ab.

Wer die kritische These a priori – ohne den Hauch eines sinnvollen Gedankens – als Verschwörung disqualifiziert, schlägt jeden Diskurs tot, bevor er entstehen konnte. Da muss der Verdacht entstehen, dass die wahre Verschwörung – die politisch korrekte Meinung ist.

Wie erklärt B. das Versagen des öffentlichen Diskurses? Mit kognitiver Dissonanz. Genauer müsste man von Verschweigen, Unterdrücken, Verdrängen, Verleugnen und Manipulieren sprechen. Um den Komplex aufzuhellen, müssten viele Zeugen befragt, viele Akten geöffnet werden. Geschieht aber nicht. Warum nicht? Berechtigte Frage. Grund genug, um rundrum misstrauisch zu werden.

Was entgegnet der TAZ-Mensch? Wie im Kinderspiel: Du auch, fragt er zurück, ob nicht B. von kognitiver Dissonanz befallen sei. Möglich, sagt B. Doch er besteht hartnäckig – und zu Recht – darauf, widerlegt zu werden. Luthers Jahrhundertwort: Hier stehe ich, ich kann nicht anders, war auch nix anderes, als den religiös Korrekten in die Suppe zu spucken. Ob jemand paranoid ist, hängt davon ab, ob seine Thesen rational nachvollziehbar sind oder nicht. Sonst wären alle Galileos dieser Welt wegen Geisteskrankheit in vatikanischen Katakomben verschwunden.

Alle Einzelheiten will ich hier nicht rekapitulieren. B. gibt Schwachstellen und Unsicherheiten zu, wie es einem selbstkritischen Historiker entspricht. Sein Dialogpartner höhnt nur: „Jaja, du stellst ja nur Fragen“. Indeed, mit Fragen stellen, wo andere nur ihre Triefaugen zuhalten, fängt jegliche Wissenschaft an. B., nicht zimperlich, kann auch austeilen: „Ihr Journalistenkollegen verhaltet euch schäbig, wenn ihr das so stehen lasst.“ Was erwidert Pickert? „Journalistisch sauber arbeitest du auch nicht“. Upps, Freudsche Richtigleistung. Damit hat er zugegeben, dass die kollektive Zunft auch nicht sauber arbeitet.

Pickert wirft B. vor, bestimmte Fakten nicht selbst zu recherchieren. Warum tut er das nicht? Treffer, gibt B. zu, allerdings nur ein halber. Er, Bröckers, habe zu solchen Recherchen nicht die Mittel. Muss nicht falsch sein. Solche aufwendigen Ermittlungen könne sich nur der SPIEGEL leisten. Dümmlicher Einwand von Pickert: „der SPIEGEL hält das für Quatsch.“ B. könne doch nicht Behauptungen aufstellen, ohne sie selbst faktisch überprüft zu haben.

Doch, kann er, ja, muss er. Wenn ihm tatsächlich die Mittel fehlen, kann er wenigstens die richtigen Fragen aufwerfen. Auch Einstein konnte nicht sofort seine kühnen Thesen beweisen, sondern musste sich mit Formeln und Behauptungen begnügen. Für B. spricht, dass er die Bedingungen angibt, die eingehalten werden müssen, um zu veri- oder falsifizieren. Diese Aufgabe steht also noch aus. Unbestritten hätte Dabbelju wenig Aufklärungswillen gezeigt, so Pickert, das sei aber kein Beweis für seine Mittäterschaft. Richtig, aber auch nicht fürs Gegenteil.

Fazit: Bröckers ist seinem Herausforderer methodisch-wissenschaftstheoretisch weit überlegen. Ist das der Beweis für die Wahrheit seiner Hypothese? Natürlich nicht. Noch müsste viel überprüft und nachgeforscht werden, wie er selbst sagt, um seine Thesen hieb- und stichfest zu machen. Sein Kontrahent ist mehr als schwach auf der Brust. Ist er damit widerlegt? Natürlich nicht. Die Nichtwiderlegung der Antithese ist keine Bestätigung der These. Und umgekehrt.

Bröckers und andere Verschwörungstheotikerer werden in einem anderen TAZ-Artikel als Kriegsgewinnler in die Riege der Neokonservativen, Rechtspopulisten, Despoten, Sicherheitsdienste und der Waffenindustrie eingereiht. Gehässig.