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Russland

Hello, Freunde Russlands,

kennt noch jemand den Namen Gorbatschow, der Russisch sprechen konnte wie eine unendliche Melodie? Er sang nicht das Lied vom einsamen Soldaten am Wolgastrand, sondern die Hymne an die Fähigkeit des Menschen, seine weltweiten Probleme keinem Schicksal, keiner Geschichte, keinen materiellen Verhältnissen zu überlassen, sondern sie in eigener Regie zu lösen.

In seiner Biografie „Alles zu seiner Zeit“ schrieb er – und es klingt wie ein Gesang aus einer nie da gewesenen Zeit:

„Man sollte die Perestrojka nicht danach beurteilen, was sie nicht erreicht hat, sondern nach dem Ausmaß der Kehrtwendung, die sie für die jahrhundertelange Geschichte Russlands und in der Folge für die ganze Welt bedeutet hat. Die Perestrojka war eine Antwort auf die Bedürfnisse der sowjetischen Gesellschaft. Gleichzeitig griff sie aber auch Probleme auf, die sich im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts weltweit stellten. Mit der Perestrojka kehrte unser Land zu den Entwicklungsprozessen der Weltgemeinschaft zurück. Dabei stieß sie auf weltweite Resonanz und löste anderswo zukunftsweisende Tendenzen aus. In diesem Sinne gehört die Perestrojka zur ˂dritten Welle demokratischer Revolutionen>, die Mitte der siebziger Jahre durch Europa zog (Griechenland, Spanien, Portugal) und im folgenden Jahrzehnt auf die gesamte westliche Welt übergriff. In den achtziger und neunziger Jahren standen fast alle Länder vor der Notwendigkeit, sich den Herausforderungen der Globalisierung zu stellen. Wir entdeckten einen Weg, der uns weiterführte, taten, was getan werden musste: schafften die Freiheit, Glasnost, politischen Pluralismus, Demokratie. Wir haben

den Menschen frei gemacht. Wir haben die Bedingungen für bürgerliche Freiheit, Gewissens-, Meinungs- und Redefreiheit geschaffen, die den Menschen die Wahl lassen. Der neue Perestrojka-Kurs brachte einen Verzicht auf den früheren Konfrontationskurs mit sich, auf die Aufteilung der Welt in „wir“ und „die anderen“ und auf den Versuch, anderen die eigene Lebensweise aufzudrängen. Damit endete eine lange, potenziell lebensgefährliche Phase der Weltgeschichte, da die gesamte Menschheit unter der ständigen Drohung einer autonomen Katastrophe lebte. Der leidenschaftliche Wunsch der Menschen, die noch das Kriegsjahr 1941 erlebt haben, nie wieder einen solchen Krieg zuzulassen, hat sich endlich erfüllt. Der Übergang zu dieser neuen Gesellschaft ist ohne Blutvergießen vonstattengegangen. Es ist gelungen, einen Bürgerkrieg zu vermeiden. Wir sind mit den Reformen so weit gekommen, dass es kein Zurück gab. Bis heute wundern sich viele darüber, wie das in diesem großen und schwierigen Land überhaupt möglich war. Die Perestrojka war als Alternative zu den beiden historischen Extremen konzipiert: dem egoistischen, auf Privatbesitz schwörenden Kapitalismus auf der einen Seite und dem stalinistischen Totalitarismus auf der anderen. Zugleich war sie eine ebenso spontane wie zielstrebige Bewegung, um die positiven Aspekte des Sozialismus und Kapitalismus miteinander zu verschmelzen. Bei allen unterschiedlichen Bewertungen der Perestrojka genießen unsere Landsleute noch heute, wenn auch unbewusst, deren Errungenschaften, in erster Linie auf dem Feld der bürgerlichen und politischen Rechte und Freiheiten. Über 70% der Russen vertreten mehr oder weniger dezidiert grundlegende demokratische Werte, die auf die Perestrojka zurückgehen. Die durch die Perestrojka geschaffenen Voraussetzungen und eröffneten Perspektiven sind nicht nur „Zukunftsmusik“, sondern ein dauerhafter Faktor. Sie verhindern ein Abgleiten der Welt in eine neue Konfrontation und rufen das Beispiel einer realen Zusammenarbeit zur Lösung schwierigster internationaler Probleme in Erinnerung.“

Perestrojka ist Umbau, Veränderung, Reform. Glasnost heißt Offenheit, Transparenz. Gorbatschow spricht gar von Revolution, von einer Revolution ohne Blutvergießen.

Von einem radikalen Umbau der Gesellschaft, von einer Revolution ohne Blutvergießen konnte der Westen nur träumen. Die Russen vollbrachten, was dem Westen nie gelungen war: sie nahmen freiwillig und fast ohne Gewalt Abschied von einer fürchterlichen Vergangenheit.

Es war nicht nur das Werk eines großen Mannes. Ohne Zustimmung des Volkes hätte dieser Mann keine Chance gehabt. Wenn es aber große Männer gibt, dann war Gorbatschow einer und Mandela ein anderer. Diese großen Männer sind nicht nur politisch tot, sie sind von ihren Nachfolgern bei lebendigem Leibe eingesargt worden.

Eine irreversible Veränderung der Welt? Erleben wir nicht in diesen schrecklichen Tagen, dass es doch ein Zurück in frühere Konfrontationen gibt? In frühere Lageraufteilungen der Welt? In Versuche, zwischen uns und den anderen zu unterscheiden und uns im Westen für den überlegenen Teil der Welt zu betrachten? Sind Gorbatschows Worte nicht die Träume eines widerlegten Greises, eines utopischen Geistersehers, der nicht mehr in der Lage ist, die Brüchigkeit seines Werkes zur Kenntnis zu nehmen?

Dies ist nicht die Stunde einer politischen Psychoanalyse, sagte gestern im Presseclub der Journalist Eigendorf, Mitglied der WELT-Chefradaktion.

(Woran merkt man, dass die Lage ernst ist? Dass in den Talkshows die Chefredakteure auftreten, die den Weltgeist aus höchster Sicht zur Sprache bringen. Günter Jauch, ARD-Talker Nr. 1, verlustiert sich hingegen bei Fragespielchen, der Weltgeist ist bei ihm noch nicht vorstellig geworden, um ihn zu einem substantiellen Talkevent zu animieren. Da müssen schon tote Hunde vom Himmel regnen, damit eine renommierte Fachkraft der Öffentlich-Rechtlichen seine Pfründe bei den Privaten im Stich lässt und sich an die Arbeit macht.)

In der Stunde der Not, sagte Eigendorf – nicht, aber schon lag es ihm auf der Zunge – muss man über harte Maßnahmen nachdenken, keine Innen- oder Seelenshow betreiben. Wir sind von Frieden eingelullt, stand in BILD. Wir sind von Frieden verwöhnt, sagte in der Beckmann-Runde Marina Weisband, für die absolute Freiheit – „ganz objektiv gesehen“ – etwas Kontraproduktives ist. (Also lasset uns unsere Freiheit demolieren und den Ukrainern ein Stück der Trümmer als Geschenk überreichen.)

Dies ist nicht die Stunde der nüchternen Analyse und der Betrachtung eigener Fehler. Dies ist die Stunde derer, die wieder genau zwischen uns und den anderen unterscheiden können und wissen, dass das Böse jenseits des DONBASS lauert.

In der Stunde der Not müssen unsere Jungs endlich mit funktionierenden Schießgewehren ausgestattet werden. Es geht nicht an, dass die besten Heckler&Koch-Waffen an unsere Feinde geliefert werden und unsere Jungs gucken in die Röhre.

Vor allem müssen sie geistlich hochgerüstet werden. Schon hetzen die Militärgeistlichen – die unter dem Talar den entsicherten Colt tragen – von Kaserne zur Kaserne und lassen unsere Jungs die erbaulichen Choräle, passend zur Not der Zeit, memorieren. Darunter an erster Stelle: Ich bete an die Macht der Liebe – mit Akzent auf Macht. Was wäre himmlische Liebe ohne Heckler&Koch-Unterstützung? Wir könnten auch singen: „Wenn wir in höchsten Nöten sein und wissen nicht, wo aus noch ein“. Oder wie wär‘s mit dem Choral: „Was mein Gott will, das gscheh allzeit, sein Will, der ist der beste, Er hilft aus Not, der fromme Gott, er tröst die Welt ohn Maßen“? Hat das die Welt verdient, dass sie maßlos getröstet wird?

Wir könnten auch an die christliche deutsche Nation appellieren, nicht länger das Bordell Europas (so die geistbegabte Frau Käßmann) zu sein, sondern die ecclesia militans in Glanz und schimmernder Wehr:

„Wach auf, wach auf, du deutsches Land!
Du hast genug geschlafen.

Die Wahrheit wird jetzt unterdrückt,
will niemand Wahrheit hören;
die Lüge wird gar fein geschmückt,
man hilft ihr oft mit Schwören;
dadurch wird Gottes Wort veracht’,
die Wahrheit höhnisch auch verlacht,
die Lüge tut man ehren.

Fürwahr, die Axt ist angesetzt
Und auch zum Hieb sehr scharf gewetzt
Was gilt’s, ob sie dein fehlet.“

Die Axt ist angesetzt und auch zum Hieb sehr scharf gewetzt – dank prophetisch in die Zukunft schauender Jüngerinnen wie die gehorsame Glaubensmagd von der Leyen, die in den neuen Kitas der Bundeswehr das Morgengebet für den Nachwuchs eingeführt hat. Sei stille, deutsches Land, deine Obrigkeit schläft und schlummert nicht.

Es ist für alles gesorgt. Wir haben unsere christlichen Werte und die gilt es zu verteidigen, sagte Eigendorf mit Metall in der Stimme. Nein, christlich sagte er nicht, das muss er gar nicht sagen, das versteht sich von selbst in christlichen Wertekulturen. (Was ist ein christlicher Wert? Das Substantiv „Wert“ kommt in der Heiligen Schrift nicht vor. Was erneut beweist, dass es ohne geistbegabte Deutung nicht geht.)

Es war nicht Fukuyama allein, der am Ende des Tunnels die Umrisse einer Menschheits-Demokratie erblickte. Es waren Männer wie Gorbatschow und Mandela – es waren alle Menschen rund um den Globus, die solche Männer aus ihrer Mitte erst ermöglichten –, die eine friedliche Völkergemeinde am Horizont erblickten. Nehmt alles in allem, es war die Leistung der Menschheit, solche Perspektiven gegen den Widerstand aller menschenfeindlichen Priester und Propheten zu erarbeiten.

Eine glanzvolle, eine wunderbare Leistung, deren Wert man nicht in den Schlamm der Erdenfeinde treten sollte, weil die Menschheit nicht fähig war, ihr Optimum festzuhalten. Sie hatte sich überdehnt in äußerster Friedensanstrengung und wurde zurückgeschnellt. Das war ein vorauszusehender Rückschritt – um erneut, auf fortgeschrittener Ausgangsbasis, den Weg zu einer immer weiter lernenden Menschheit zu bahnen.

Wie hämisch waren und sind noch immer die Kommentare jener, die Fukuyamas Weltsicht genüsslich in Stücke zerschlagen. Wie könne man glauben, dass die Bestie Mensch, der Sündenkrüppel, die bankrottierende Kreatur, sich auf Erden heimisch einrichten könne? Das müsse ein Phantast sein.

Haben nicht die totalitären Despoten ihren geknechteten Untertanen utopische Verhältnisse in Aussicht gestellt? Wahrhaft, sie haben. Soll das etwa ein Einwand gegen menschliche Kompetenz sein, durch Einsichten und vernünftiges Debattieren humane Verhältnisse zu schaffen?

Versprechen die, die vor irdischer Utopie warnen, nicht das Blaue vom Himmel, die Seligkeit im Jenseits, das ewige Glück unter einem Allmächtigen? Vertrauen die, die an einen Allmächtigen glauben, nicht dem totalitärsten aller Gespenster?

Es war eine einmalige Leistung des russischen Volkes, Abschied zu nehmen von ihrer überlangen Knechts- und Leidenszeit unter Zaren, Lenins und Stalins, Abschied zu nehmen von der gefährlichen Illusion, mit weltvernichtenden Atomwaffen eine führende Nation zu sein. Es waren Russen, die zweimal einen drohenden Atomkrieg verhinderten. Das weiß niemand mehr im Westen, das will niemand mehr wissen.

Wie waren die Kommentare im Westen, als Gorbatschow die Sowjetunion zerlegte, um seine Landsleute unter demokratischen Verhältnissen mit dem demokratischen Westen zu versöhnen?

Es könne nur noch schrecklicher werden, tönten die Korrespondenten der Öffentlich-Rechtlichen, noch nie hat eine Weltmacht sich freiwillig ihrer Macht begeben – ohne dass fürchterliche Diadochenkämpfe entbrennen.

Was ist geschehen? Fast nichts. In bewundernswerter Weise akzeptierten die Russen ihre neue Lage, in der Hoffnung, ins Lager der Freien aufgenommen zu werden. Als Gleichberechtigte, als Brüder und Schwestern der Menschheit.

Was geschah? Das Gegenteil. Es durfte nicht die Leistung des ehemaligen Reichs des Bösen, es musste die alleinige Leistung des überlegenen Kapitalismus, einer naturschändenden Wirtschaft sein, die die zurückgebliebenen Tundra-Asiaten besiegt hatte.

Sie hatten schlicht und einfach den Wettbewerb verloren, diese sozialistischen Planerfüller, diese Kolchosen-Klone, diese Stachanow-Malocher, diese Verfälscher der reinen Marx-Lehre. Ihr Gebäude war morsch, die Eliten ratlos, der Sozialismus wurde von der Heilsgeschichte persönlich falsifiziert. Es war des angelsächsischen Gottes eigene sichtbare Hand, die vom Himmel herniederfuhr, um die verblendeten Sozialisten zur Raison zu bringen.

Diese kollektive Kränkung, die in dieser schamlosen Dreistigkeit nur von Erwählten exekutiert werden kann, vergaßen die Russen bis heute nicht – und wenden sich nun vom Westen ab.

Haben Merkel und Gauck ein einziges selbstkritisches Wörtchen über den Westen geäußert, ein einziges gutes Wörtchen zu der Perestrojka- und Glasnostleistung der russischen Völker gesagt?

Merkel & Gauck, das sind wir – die Guten. Putin & die Oligarchen – das sind die neuasiatischen Kosakenhorden, die nichts können als Völkerrechte verletzen.

In der Tat, das haben sie getan, das tun sie. Doch wer hat begonnen? Der Westen im Balkankrieg. Wer sagt das? Kein Geringerer als der ehemalige US-Botschafter in Moskau, Jack Matlock, in einem ausgezeichneten TAZ-Interview mit Dorothea Hahn:

„Wir dürfen nicht vergessen, dass das Ende des Kalten Kriegs kein westlicher Sieg war. Das ist eines der Probleme, dass heute viele Leute die Sache als einen westlichen Sieg betrachten. In Wirklichkeit war es Gorbatschow, der den Kommunismus und die kommunistische Kontrolle der Sowjetunion zerstört hat. Nicht westlicher Druck.“

Auch in Amerika, schau an, gibt es vernünftige Menschen, die sich von den jetzigen Nebelbildungen des Westens nicht dumm machen lassen. Unglaublich, aber wahr: in keiner einzigen der vielen Talks über Putin – nie über Obama – wurde der Name Gorbatschow erwähnt.

Dies ist nicht die Zeit, zurückzuschauen, wir blinzeln alle erblindet in die Zukunft. Wenn dich deine Augen ärgern, reiß sie beide raus, damit du nicht sehen musst, was nicht in dein charismatisches Geschichtsbild passt.

Nein, Putin ist kein Held, der in der Lage wäre, westliche Heucheltaten nicht zu imitieren. Er handelt wie ein pubertierender Flegel, der die Autoritäten anmault: wenn ihr mir solche Flegeleien zutraut, wie ihr sie selbst vollbringt, okay, dann werde ich euch den Spiegel vorhalten, damit ihr seht, was ihr den ganzen langen Tag so treibt. Wer hat denn angefangen? Das wart doch ihr.

„Es war der Westen, der damit begonnen hat, dieselben internationalen Regeln zu brechen, als die Nato wegen Kosovo Serbien bombardiert hat. Unsere zweite Verletzung der Schlussakte von Helsinki wonach Grenzen nur veränderbar sind, wenn beide Seiten zustimmen war, als wir die Unabhängigkeit von Kosovo akzeptiert haben. Putin sagt: Ihr habt den Präzedenzfall geschaffen. Jetzt verletze ich die Regeln. Das müssen wir berücksichtigen, wenn wir über Legalität reden. So zu tun, als ob Russland etwas Einzigartiges täte und Russland zu einem besonderen Ausgestoßenen zu machen, ist unfair.“ (Matlock)

Was eigentlich blieb den Russen übrig, als sich wie eine Wagenburg um diesen Flegel herumzustellen, als sie merkten, von der Welt werden sie wie Hinterwäldler traktiert? Man will sie nicht, diese ungeschlachten Wodka-Säufer, in den touristischen Zentren dieser Welt. Ihre Rubel allerdings sollen sie da lassen.

Was ist der Unterschied zwischen Obama und Gorbatschow? Gorbatschow hielt, was er versprach. Er redete nicht nur von Öffnung und Revolution. Obama war so berauscht von seiner engelgleichen Rhetorik, dass er selbst glaubte, seine Predigt an die Welt – go down Moses, lass mein Volk ziehen, und ihr werdet das schöne Land Kanaan besitzen – könne zur realen Weltpolitik werden. Da hat er nicht mit seinen erwählten weißen Neucalvinisten gerechnet, die niemand ins Land Kanaan ziehen lassen, die nicht dem rechten Gott der Weißen huldigen.

Es ist nicht die alleinige Schuld des ersten schwarzen Präsidenten, dass seine Verheißungen so gut wie nicht in Erfüllungen gingen. WASP-Amerika, das zweite Kanaan, duldet nicht, dass ein Schwarzer die Weißen ins Land der Seligkeit führe. Als Obamas Visionen aus allen Kanonen der Weißen zersiebt wurden, versuchte Obama seine Haut unsichtbar zu machen, indem er sich in weiße Macht- und Brutalopolitik flüchtete: vergebens. Was auch immer er verspricht, niemand glaubt mehr seinen Versprechungen. Der Präsident beliebt, übergroße Anzüge zu tragen, die ihm um die Schultern schlottern.

Russland hat viele Fehler gemacht. Nie hätten die friedlichen Revolutionäre neoliberale Scharlatane aus amerikanischen Eliteuniversitäten ins Land lassen dürfen, die mit grauenhaften Verwüstungen das alte Russland zerstörten, ohne ein lebensfähiges neues an seine Stelle zu setzen.

In einer globalen Weltwirtschaft kann die Synthese aus Kapitalismus und Sozialismus nicht in einem Land realisiert werden – es sei, dass es entschlossen wäre, seine Autarkie mit Hauen und Stechen zu verteidigen. Das kann nur der ganzen Menschheit gelingen, wenn sie sich einig geworden ist, dass das natur- und menschenfressende System beendet werden muss.

Russland wurde über Nacht zum Dorado der Oligarchen und Ressourcen-Verschleuderer. Die Schaffung einer stabilen Industrie wurde nicht mal angestrebt. Alles Wichtige muss eingeführt werden. Der Ruin des Landes ist absehbar. Vor diesem drohenden Ruin muss Putin, der Versager, mit Kraftgebärden ablenken.

(Wie desolat und verlogen die deutsche Medienlandschaft ist, kann man daran erkennen, dass der Name eines bekannten deutschen Putinbewunderers über Nacht nicht mehr genannt wird. Bis zum heutigen Tage hat Schröder die Bewertung „lupenreiner Demokrat“ nicht zurückgezogen. Und von keinem Journalisten wird er mit unliebsamen Fragen belästigt. Schröders Intimus Steinmeier kämpft gegen einen Völkerrechtsverbrecher, der für seinen Exchef Inbegriff eines Demokraten ist. Das zeigt die innere Verfaultheit einer Ex-Proletenpartei.)

Stefan Kornelius von der SZ, ein stämmiger NATO-Krieger, will unentwegt beweisen, dass nicht der Westen am „Putin“-Debakel schuldig sein kann. Der Westen habe keine Zusagen gemacht, dass die NATO sich Richtung Osten erweitern werde. „Nirgendwo wurde kodifiziert, dass die Nato keine neuen Mitglieder würde aufnehmen dürfen.“

Gleichzeitig muss Kornelius zugeben, dass es mündliche Zusagen von Baker, Kohl und Genscher gegeben habe:

„Wahr ist allerdings auch, dass in einer frühen Verhandlungsphase nach dem 9. Februar 1990 sowohl von US-Außenminister James Baker als auch von den Deutschen Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher mündliche Zusicherungen in Moskau abgegeben wurden, alternativ den Osten Deutschlands oder gar ganz Deutschland sicherheitspolitisch gesondert zu behandeln, sprich: aus der Nato fernzuhalten.“

Gilt das gesprochene Wort nichts mehr? Besteht Politik nur aus dem Austausch diplomatischer Noten? Ist es überflüssig, dass sich die Protagonisten persönlich vertrauen? Und wie ist zu erklären, dass Russland heute von Obama zur zweitklassigen Regionalmacht deklassiert wird?

Kornelius erklärt nichts, wenn er den Umschwung der amerikanischen Außenpolitik mit folgenden Worten beschreibt:

„Diese USA erlebten nach dem 11. September 2001 ganz andere Reizungen ihrer sicherheitspolitischen Nervenstränge. Russland verschwand vom amerikanischen Radarschirm, auch wenn George W. Bush meinte, er habe in Putins Augen geschaut und die Seele des Mannes entdeckt. Von nun an bekam Russland seine geopolitische Deklassierung über die Tagesnachrichten serviert.“

Amerika wird erklärt und verstanden, für Putin reicht die Empathie nicht mehr. Kornelius versteht sich als schreibender Begleitartillerist des Westens.

Nach anfänglicher Bewunderung Gorbatschows hat der Westen es nicht länger geduldet, dass das ehemalige Reich des Bösen in der Welt friedfertiger und menschheitsdienlicher erscheinen könne als der auserwählte Westen. Mit allen kapitalistischen Raubbaumethoden wurde Russland zum failed state degradiert – und Russland ließ es viel zu lange mit sich geschehen. Putin glaubte den blauen Augen eines damaligen deutschen Kanzlers.

Das Fass lief über, als die USA beschlossen, direkt im Vorgarten Russlands „Abwehr“-Raketen gegen nicht vorhandene iranische Raketen zu installieren. Aber auch das waren noch nicht die wahren Ursachen, sondern nur Anlässe, sich gegen die Überheblichkeit des Westens zur Wehr zu setzen.

Den wahren Grund hatte bereits vor Jahren der frühere Sicherheitspolitiker Johnsons und Carters, Zbigniew Brzezinski, unmissverständlich formuliert. Früh hatte er vor einer Hinwendung der Europäer zu Moskau gewarnt. Brzezinski reagierte auf das Erdgas-Röhren-Geschäft zwischen Russland und der BRD. „Er schrieb, dass die USA kein geopolitisch vereintes, Amerika herausforderndes Europa zulassen dürften. Dies entstehe, wenn Europäer begreifen, dass Russland ihr natürlicher Wirtschaftspartner sei.“ (DER SPIEGEL)

Amerika ist eine Weltmacht im Niedergang. Um seinen Machtverlust zu verschleiern, muss es seine wichtigsten Konkurrenten durch „Teile und Herrsche“ in Schach halten. Dies ist Washington durch den untergründig angeheizten Ukraine-Konflikt vorzüglich gelungen.

Amerika weiß nicht, wo ihm der Kopf steht. Doch es weiß genau, wie man unliebsame Freunde und Gegner daran hindert, Gods own Country in den Schatten zu stellen.