Kategorien
Tagesmail

Natur brüllt! XCI

Tagesmail vom 24.06.2024

Natur brüllt! XCI,

Wer jetzig Zeiten leben will,
Muß haben ein tapferes Herze,
Es sein der argen Feind noch so viel,
Bereiten ihm groß Schmerze.
Da heißt es stehen ganz unverzagt
In seiner blanken Wehre,
Daß sich der Feind nicht an uns wagt,
Es geht um Gut und Ehre.
Geld allein regiert die Welt,
Dazu verhilft betrügen;
Wer sich sonst noch so redlich hält,
Muß doch bald unterliegen,
Rechtschaffen hin, rechtschaffen her,
Das sind nur alte Geigen:
Betrug, Gewalt und List vielmehr,
Klag du, man wird dir’s zeigen.
Steh gottgetreulich, unverzagt,
In deiner blanken Wehre:
Wenn sich der Feind auch an uns wagt,
Es geht um Gut und Ehre!“ (Mundorgel, aus dem 17. Jahrhundert)

Haben wir Gut, haben wir Ehre?

Niemand mehr kann den Aufschrei hören: unser Elend schreitet voran.

Niemand mehr kann die Frage hören: ja, was tun wir, um die Misere zu bremsen?

Ein Amerikaner ist es, der sich schlicht und tapfer nicht zum Schweigen bringen lässt:

„Für vorausschauendes Denken ist auf allen Ebenen kein Raum mehr, weil auch kein Raum mehr ist für interessefreie Uneigennützigkeit. Es scheint, als sei eine ernste Krise vonnöten, um die Regierungen wachzurütteln und sie an ihre Führungsverantwortung zu erinnern. Nur eine nachdrückliche öffentliche Einmischung und Teilnahme der Bürger bringt sie zustande. (John R. Saul, Der Markt frisst seine Kinder)

Woher soll die Einmischung kommen, wenn sie in Deutschland als eigennützig und egoistisch verfemt wird?

„Der Bundesfinanzhof urteilte 2019, dass Tätigkeiten, die darauf abzielen, politische Entscheidungen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen, nicht gemeinnützig sind und daher keinen Anspruch auf Steuervorteile haben. Die globalisierungskritische Organisation Attac hatte vergeblich dagegen geklagt, dass ihr das Finanzamt Frankfurt/Main den gemeinnützigen Status aberkannt hatte. Die Unterzeichner rufen die Regierung auf, den Einsatz für demokratische Werte, Menschenrechte, Antidiskriminierung und Rechtsstaatlichkeit in die Liste gemeinnütziger Zwecke aufzunehmen. Zudem solle es etwa Sportvereinen möglich sein, zu Demonstrationen gegen rechts aufzurufen, ohne um ihre Existenz fürchten zu müssen.“ (SPIEGEL.de)

Wer hat diese Liste der Eigen- und Uneigennützigen erstellt? Deutsche Beamte.

Um zu erklären, was Beamte sind, muss man wissen, dass Deutschland noch immer eine Zweiklassengesellschaft ist. Der normale Deutsche ist der Demokrat. Der bessere Deutsche ist der Beamte, der kritiklos der Obrigkeit dient und die Untertanen im Sinne des Staates reglementiert.

Normale Untertanen mögen inzwischen so gottlos sein, wie sie wollen: die vornehmen Untertanen dienen im Geiste des Paulus oder Luthers. Den Status einer emanzipierten und freien Bürgerschaft haben sie noch nicht errungen. Das werden sie so lange nicht, solange sie ihren minderwertigen Untertanenstatus noch gar nicht bemerkt haben.

Lehrer werden schnell Beamte, damit sie mit Privilegien bedacht werden. Als Gegenleistung müssen sie sich aus dem öffentlichen „Meinungsbildungsprozess“ heraushalten und dürfen im Unterricht keine Meinung haben.

Damit zerstören sie die Uridee des Pädagogen, der die Kinder mit Rat und Tat freier Denker ins Leben begleiten soll. Nur wenn Kinder glaubwürdige Vorbilder erleben, können sie sich die nötigen Tugenden des Mündigwerdens „wie nebenbei“ und doch bewusst aneignen.

Die Würde des Menschen, zumal eines demokratischen Erziehers, ist angetastet, wenn ihm fundamentale Rechte aberkannt werden.

Beamte werden besser bezahlt und erhalten viele Vorteile, wenn sie lammfromm werden und im Unwetter den Kopf einziehen. Das sind vermoderte Bruchstücke aus dem Mittelalter.

Schon der Ausdruck „dem Staate dienen“ ist eine ärgerliche Zumutung. Einem demokratischen Staat dient man, indem man ihm nicht dient, sondern den Staat negiert und allein den autonomen Bürger anerkennt.

Der Begriff Demokratie besteht aus den griechischen Wörtern: demos = Volk und kratos = Herrschaft. Wo hat sich hier ein Staat versteckt?

Eine lebendige Demokratie kann nur bestehen, wenn ihre „Untertanen“, sprich ihre Mitglieder, sich standhaft als freie Verantwortliche fühlen und – ohne mit der Wimper zu zucken – die Losung eines französischen Königs für sich behaupten: „L`etat, c`est moi“, der „Staat“ bin ich.

Deutsche Beamte, die besonders vorbildlich sein wollen, sind besonders rückschrittlich. Unser Land, historisch keineswegs vorbildlich demokratisch, müsste sich besonders anstrengen, um den Agon um die beste Volksherrschaft nicht zu verlieren. Wer in diesem Wettkampf seine Mitkonkurrenten überragt, schadet ihnen nicht, sondern nützt ihnen. Im Gegensatz zum Wettkampf des schnöden Mammons, in dem die Gewinner die Verlierer gnadenlos zur Strecke bringen.

Diese Selbstverständlichkeiten sind fast keinem Deutschen vertraut. Sie kennen nur einen übermächtigen Staat, den sie gelegentlich wählen dürfen.

Nur dann haben sie das Recht, ihn anzugreifen und gegen ihn zu demonstrieren, wenn sie keine Beamten sind. Schulkinder gewinnen den Eindruck, sie täten was Minderwertiges oder Verbotenes, wenn sie auf der Straße gegen den „göttlichen Staat“ lärmen.

Ob man eine freie und gleichwertige Volksherrschaft – oder aber nur eine in Obrigkeit und in einen minderwertigen Plebs gespaltene Demokratie anerkennt: daran sollte man eine linke oder rechte Bürgerschaft erkennen.

„Diese Frage ist die große Wasserscheide zwischen rechter und linker Politik“ schreibt John R Saul. Solche Kleinigkeiten kennt man hierzulande nicht, hier wird nur links, halblinks, selten Mitte, rechts und halbrechts geschwafelt.

Das war die Diagnose und wie ist die Therapie?

Achtung, bitte festhalten, jetzt rauscht’s über den geplagten Köpfen:

„Die Philosophie war von jeher der Kern öffentlicher Debatten über die Situation des Menschen in der Welt. Und zwar deshalb, weil eine erfolgreiche Umgestaltung von einer allgemeinen Verständigung über philosophische Alternativen und ihre Folgewirkungen abhängt. Heute aber ist die große Stimme einer Philosophie der Humanität verstummt, in öffentlichen Diskussionen tritt sie nicht mehr auf. Warum? Weil sich die meisten ihrer Vertreter in der Komplexität ihres Berufsstandes verstrickt und verfangen haben. In voller Breite überlassen sie die öffentliche Diskussion den zynischen Vorkämpfern der Gegenseite.“

In Gymnasien gibt’s nur selten das Fach Philosophie. Als kurz nach der Französischen Revolution das deutsche Gymnasium eingerichtet wurde, gab es heftigen Streit um die politische Wichtigkeit des strengen Denkens und Disputierens.

Die deutschen Obrigkeitsherrscher wollten keine öffentlichen Schulen als Stätten der Revolution. Also einigte man sich auf das harmlose Fach Germanistik. Hier durfte man sich als Kenner der mephistophelischen Seele darstellen: der Teufel wollte zwar das Böse, tat aber nur das Gute.

Das war jeder potentiellen Revolution schon den Hals umgedreht. In jeder besseren Gesellschaft macht es sich gut, den Faust zu zitieren, die sozialkritischen Neukantianer, die Bebels, Bernsteins und die Stimmen der Arbeiterbewegung hingegen blieben verbannt.

Die Gegnerschaft gegen ihre eigene Tradition haben nach dem Zweiten Weltkrieg selbst die Karrieristen der Arbeiterbewegung übernommen und sind fast komplett zu den weltbeherrschenden Neoliberalen übergelaufen. Heute kennt niemand mehr den Unterschied zwischen links – nicht identisch mit marxistisch – und gemäßigt liberal.

Marx war ein Bewunderer des Kapitalismus. Nur dessen Nachteile für die Arbeiter wollte er – streng im Takt einer determinierten „Heils“-geschichte – beendigen und ihnen irgendwann die Vorteile des Reichtums und Fortschritts übergeben. Urheber dieser Veränderung waren nicht die Menschen, sondern die materiellen Befehlshaber des Seins, die dem Bewusstsein der Menschen vorschreiben können, was sie gerade wollen.

Streng genommen müsste man sagen: der Mensch bei Marx hatte noch nicht mal die Autonomie des Menschen in der griechischen Philosophie errungen. Wie der Christ ein rechtloser Untertan göttlicher Obrigkeit, so war der Arbeiter, auch der revolutionäre, ein Untertan der materiellen Verhältnisse.

Dass der Mensch nicht vollständig frei, sondern immer noch höheren Mächten untertan ist, beweist vor allem das deutsche Beamtenwesen und die deutsche Untertanenschule.

Wie wird der Zögling zum willigen Untertanen deutscher Fabrikbesitzer dressiert? Durch die Terrorherrschaft deutscher Tests und allgegenwärtiger Noten. Aus Angst, das Klassenziel zu verfehlen, geht man heute brav in die nächste Penne und lässt sich sagen, was man zu denken hat.

Von wem? Von unmündigen Dienern des „Staates“.

Die Menschheit wird sich erst ändern, wenn die Jugend ihre untertänigen Bücher wegwirft und sich eine – im Gespräch mit vielen Nationen der Welt erarbeitete – Meinung gebildet hat.

Saul gibt uns Recht:

„Die demokratischen Reform-Eliten haben sich nie völlig aus der Umklammerung der autoritären Bewegung befreit, die Hobbes im 17. Jahrhundert in Gang setzte. Und die beste Form der Beherrschung war nun mal die Angst vor der Strafe.“

Ab jetzt wird die Dauerangst vor der Strafe mit miserablen oder ungerechten Noten das bewusst-unbewusste Herrschaftsregiment aller Nachwuchs-Dressur-Anstalten.

Während die Nachkommen der besitzenden Klassen sich um solche Fisimatenten keinen Deut kümmern müssen – erben sie doch automatisch den Reichtum ihrer Väter –, werden die Aufsteigewilligen der unteren Klassen von morgens bis abends gesiebt und unter Dauerangst gehalten.

Und die Medien? Sollten überhaupt keine Meinung haben. Meinungslos – oder neutral, wie sie formulieren, haben sie den Abstieg der Gesellschaft ins Chaos zu begleiten. Sie sollen nur beschreiben, was ist. Was aber aus diesem Ist werden kann oder werden muss, wollen sie nicht sehen. Dass kritisches Denken aus Sehen, Verstehen und Bewerten besteht, hat sich bei ihnen noch nicht herumgesprochen.

Typisch die Beschreibung ihres Feuilleton-Gottes Frank Schirrmacher:

„Die Leute sollten, wenn sie sein Feuilleton lesen, am besten vom Stuhl fallen. Vor Verblüffung, vor Entzückung oder vor Entsetzen – egal. Das Blatt sollte diese großartige, auch gefährliche, in jedem Fall aber neue Welt an jedem Tag feiern, verdammen und hinterfragen. Er konnte nicht nur den Bluff, er liebte die Verblüffung. Er war auch: ein ungeheurer Machtmensch, der für einige zu einer Art Ungeheuer wurde. Meistens spielte der den Mächtigen nur, und außerhalb des geschützten Raumes seiner Zeitung konnte man sich ihn gar nicht mehr vorstellen.“ (Sueddeutsche.de)

Offenbar wollte Schirrmacher die Welt vor allem verblüffen. Mit seinen Kenntnissen und seinem verführerischen Charme. War das ordentlicher und sachgemäßer Journalismus – oder die Theateraufführung eines Narzissten?

Schirrmacher wurde zum Anführer jener deutschen Schreiber, die es satt hatten, bei alten Denkern in die Schule zu gehen. Wahrheit, Klugheit, Mitgefühl und Wohlwollen wurden zu Spielzeugen der Gelangweilten, die keine Lust mehr hatten, zu untersuchen, woher die modernen Übel kommen und wie man sie beherrschen kann.

Die supermodernen Futuristen wollten sich losreißen von den Denkgewohnheiten ihrer philosophischen Lehrer, unter deren Knute sie einst gelitten hatten. Also bestimmten sie selbst, was Wahrheit und Vernunft sein müssen.

Allerdings nur subjektiv, objektive Wahrheiten gibt es seitdem nicht mehr. Damit war jede objektive Wahrheit über den miserablen Zustand der Natur und der von ihr abhängigen Menschheit verschwunden. Wahrheit war nicht länger die menschenunabhängige Vernunft der Natur, die der lernende Mensch zu suchen hatte.

Schon bei Nietzsche war der Mensch zum Gott der Moral geworden, nun war er zum Gott der Moral und des Seins geworden. Das Subjekt war aufgestiegen zum absoluten Herrn des Seins – doch was war das Sein?

Während die antike Philosophie in pyrrhonischer Skepsis verendete, versinkt die moderne im Verleugnen alles Objektiven. Das Subjektive präsentiert sich zwar als Herrin aller Wahrheiten, versenkt jedoch jede objektive Wahrheit im Orkus.

Ab jetzt darf der Mensch sich rühmen, zum Herrn der Wahrheit geworden zu sein. Hier bricht alles ein. Sind wir im Nichts angekommen? Geht es um Gut und Ehre?

Es kann nur noch um Sein oder Nichtsein gehen.

Fortsetzung folgt.