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Natur brüllt! XC

Tagesmail vom 21.06.2024

Natur brüllt! XC,

Die Entdeckung des Lokiceratops ähnelt der Wiederauferstehung des Neoliberalismus.

Schon stehen Fachmänner staunend um ihn herum, um ihn willkommen zu heißen:

„Der argentinische Präsident Milei erhält eine Medaille zu Ehren des Ökonomen Hayek. Die preisverleihende Hayek-Gesellschaft steht der AfD nahe. Am 22. Juni bekommt Hamburg hohen Besuch. Dann verleiht die Hayek-Gesellschaft Javier Milei die Hayek-Medaille. Laut der Gesellschaft wird der Staatschef Argentiniens den Preis persönlich entgegennehmen. Man verleihe Milei die Medaille, weil er Argentinien die Chance biete, einen Weg einzuschlagen, „der dieses Land wieder auf einen Wohlstandskurs bringt“, CDU-Chef Friedrich Merz twitterte: „Hayek schreibt: Setzt der Staat eine überbordende Bürokratie in Gang, verliert er seinen Wohlstand und auch seine Freiheit. Was wir in Berlin mit SPD und Grünen erleben, ist das Gegenteil dessen, was Freiheit und Innovation ermöglicht. Es ist der Weg in die Knechtschaft.“ (TAZ.de)

Wozu brauchen wir die AfD, wenn wir kompetente Hayekianer haben, die uns das Elend unseres Staates verblüffend einfach erklären?

Eine echte Demokratie besteht aus Staat und Wirtschaft, welche immer reicher werden will. Um auf dem Pfad endloser Bereicherung erfolgreich in die Zukunft zu galoppieren, fehlt noch – die Freiheit.

Nicht die billige Freiheit für alle, sondern die kostbare für Geldvermehrer, die in ihren rasenden Rennwagen von keinen Trödelwagen gebremst oder aufgehalten werden wollen.

Die Freiheit für die Supertüchtigen, die die weniger Tüchtigen permanent ausbremsen, könnte man „das totalitäre Prinzip“ nennen. Denn sie will ganz allein bestimmen, wer die Überholspuren benutzen darf – und wer die Stolperpfade am Rand der Autobahnen entlang hoppeln muss – bis der Urwald sie wieder restlos verschluckt

Supermoderne Probleme kann man nur lösen, wenn man tief ins Altertum zurückschaut.

Heute ist niemand beunruhigt, wenn nur das totalitäre Prinzip den Reichtum der Reichen endlos vermehrt – oder: „solange ihr Totalitarismus marktfreundlich“ ist. (James Galbraith, Der geplünderte Staat)

„Die Geschichte der letzten drei Jahrzehnte (geschrieben im Jahre 2008) wird oft als Kampf zwischen den Ideen Milton Friedmans (einem Hayek-Schüler) und den Geistern Keynes´ und Roosevelts beschrieben – zwischen dem Markt und dem Staat. Die Folgen sind nicht zu übersehen: Wohlfahrtsprogramme, die sich an die verwundbarsten Bürger richteten (etwa Sozialwohnungen), wurden drastisch gekürzt.“ (ebenda)

Die Städte verkauften ihre billigen Sozialwohnungen – und die Armen standen von heute auf morgen auf der Straße.

Das war karrieretüchtigen Proletenaufsteigern und Grünen zu verdanken, die ihr Image als Wirtschaftsversager loswerden und den wirtschaftlich „kränkelnden“ Staat wieder zum Laufen bringen wollten.

Seit jenem Kurswechsel der Schröders, Schilys, Clements und Joschka Fischers gehören bezahlbare Wohnungen nicht mehr zur Norm der sozialen Notwendigkeiten, sondern dienen Raubtierbörsianern zum arbeitslosen Prinzip der Geldvermehrung.

Reiche Ausländer kauften die Innenstädte Londons oder die Luxuswohnungen Hamburgs nicht, um dort zu wohnen, sondern um ihre Konten in den Himmel wachsen zu lassen.

Der Begriff Neoliberalismus – eine Verfälschung des „Paläoliberalismus“, der Rüstows Idee des Neoliberalismus ins Gegenteil verkehrte – entstammt den reichen Gehirnen gewisser Österreicher, die die Hitlerschmach loswerden und die Welt mit modernsten Mitteln superreich werden lassen wollten. Was ihnen mit Auszeichnung gelang.

Hayek eroberte den Westen, indem er Margaret Thatcher und Ronald Reagan auf seine Seite brachte und den sozialen Kapitalismus des New Deal Roosevelts überrannte.

Zwar gab es schon von Anfang an ein reiches und ein armes Amerika. Doch erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges konnte der vorbildliche Senator J. William Fulbright sein Bekenntnis ablegen:

„Es gibt zwei Amerikas: Das Amerika Lincolns und Adlai Stevensons – und das Amerika Teddy Roosevelts (nicht mit Franklin Roosevelt und seinem New Deal zu verwechseln) und der modernen Superpatrioten.“ (Arroganz der Macht)

Warum ist Amerika so schwierig einzuschätzen? Weil der Kontinent seine konträren Gesichter unberechenbar zeigt. Einmal sein vorbildlich-demokratisches, ein andermal sein habgierig-kapitalistisches.

Der Siegeslauf der Hayekianer wurde später übernommen und fortgesetzt von den Neoliberalen, die es satt hatten, ihr Land als einfältig moralistisches zu präsentieren. Sie wollten die Stärksten, die Mächtigsten und Gierigsten der Welt sein.

Das ist ihnen bis heute in einem Maß gelungen, dass Trump, der „Rockstar“ unter den Demokratie-Unwilligen, seine Klientel vor allem aus dem Bereich der Frommen und Armen beziehen kann. Die Superreichen hat er ohnehin auf seiner Seite.

Woher kommt die überraschende Nähe zwischen Reich und Arm in Amerika?

Man will es nicht glauben, besonders wenn man pietistisch oder lutherisch denken kann. Fast in allen Dingen hat das Neue Testament zwei Seiten, auch in Dingen des Geldes. Einerseits werden die Reichen verflucht, andererseits werden sie bevorzugt:

„Es waren diejenigen, die ihr Kapital angehäuft und sogar verdoppelt hatten, zu denen der Herr sagte: „Wohlgetan, du guter und getreuer Knecht: über weniges hast du treu gewaltet, ich will dich über vieles setzen: nimm teil an der Freude des Herrn.“ Handelt der Millionär nach diesem Rat, so wird es seine Pflicht, seine Einkünfte zu vermehren. Der Kampf um mehr ist dann völlig frei vom Makel der Selbstsucht und des Ehrgeizes und wird ein edler Beruf. Er arbeitet dann nicht mehr für sich, sondern für andere, nicht um aufzuhäufen, sondern um auszugeben. Seine Arbeit ist eine tägliche Tugend.“ (Andrew Carnegie, Das Evangelium des Reichtums)

Das war der ursprüngliche Calvinismus mit seiner Vorherbestimmungslehre. Wer die Gewissheit gewinnen wollte, zu den himmlischen Vorherbestimmten zu gehören, musste es durch irdischen Erfolg plausibel machen. Also stürzten sich die Möchtegern-Prädestinierten ins Geschäft des Geldverdienens – nach dem Prinzip „Die Zeit ist kurz – um am Jüngsten Tag von Gott die Bestätigung zu erhalten: Wohlgetan, mein lieber Knecht.“

Momentan geht’s den Frommen immer schlechter, weshalb sie den Kraftprotzen Trump als ihren Helden ausersehen haben, damit sie wieder zu Kohle kommen und Gottes Ruhm in der Welt verbreiten können.

Nicht nur CDU-Merz will den argentinischen Hayekianer persönlich begrüßen, weil er sich Akzente erhofft, wie Deutschland sich wieder wohlstandsmäßig erholen kann.

Es ist natürlich auch die Hayek-Gesellschaft, von der man lange Zeit nichts gehört hat, aber die nun die Chance sieht, mit Gottes Hilfe wieder weltbestimmend zu werden:

„Milei hat sein persönliches Erscheinen zugesagt. Die Veranstaltung ist mit über 200 Zuschauern schon lange ausgebucht. Auch außerhalb Argentiniens hat der ungewöhnliche Staatschef eine Menge Aufsehen erregt. Die Hayek-Gesellschaft, die wegen ihrer Nähe zur rechtsradikalen AfD umstritten ist, beschloss schon im Februar, ihn auszuzeichnen. Da war er keine zwei Monate im Amt. Denn SPD und Grüne bereiten in den Augen des Libertären aus Argentinien mit ihrem Staatsinterventionismus in der Wirtschaftspolitik dem Kommunismus den Weg. So hat Milei es ausgedrückt, als er im Januar vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos vor Gender-, Frauen- und Klimapolitik linker Regierungen warnte. Deren Ziel sei es, so orakelte er düster, den Kapitalismus zu stürzen. Milei zeigt sich gern mit libertären Unterstützern wie Elon Musk, mit dem er im April eine Tesla-Fabrik in Texas besuchte. Bislang haben Mileis Dekrete nur dazu geführt, die Menschen in größere Armut zu stürzen.“ (SPIEGEL.de)

Wozu das ständige Nerven gegen eine ideenlose AfD, wenn wir die Hayekgesellschaft und die politischen Christen unter uns haben? Alle wollen nämlich dasselbe: Rückkehr ins Mittelalter unter der Hand Gottes. Alles Moderne hingegen ist teuflischer Verfall.

Die Feinde der Moderne wollen nicht vorwärts in eine immer demokratischere Weltrepublik, sondern zurück in den Patriotismus rivalisierender Christenvölker. Den Wettlauf der Heilsgeschichte will jede christliche Nation für sich allein gewinnen.

Und da die Momente des Verfalls immer apokalyptischer werden, muss die ökonomische Konkurrenz immer schärfer werden. Hier hilft keine Nächstenliebe mehr, hier hilft nur Hobbes: Jeder gegen Jeden.

Der Sieg am Ende der Tage wäre zugleich der Beweis für die auserwählteste Nation, an der Gott sein Wohlgefallen haben wird.

Die Moderne ist eine Säkularisierung des christlichen Heilswettbewerbs, was nicht bedeutet, dass sich die Religion unter dem Tand des Fortschritts aufgelöst hätte.

Der Gedanke der ökonomischen Konkurrenz hat mit dem sportlichen Agon der Antike nichts zu tun. Dort sollten die Besten der Bürger in gewissen Disziplinen hier und jetzt herausgefunden werden. Im Wettkampf der Gläubigen will Gott seine Tüchtigsten und Liebsten für die Ewigkeit herausfiltern.

Eine humane Weltwirtschaft will allen Völkern das Beste liefern. Auf keinen Fall soll eine Siegernation mit ihrer Überlegenheit die Konkurrenten in den Schatten stellen.

Das Beste auf Erden ist ein friedliches, fröhliches und ruhiges Leben, weshalb eine soziale Marktwirtschaft ohne Moral undenkbar ist:

„Die Wirtschaftspolitik untersteht der Forderung der Moral, und alle wirtschaftspolitischen Fehler, die gemacht werden, lassen sich gleichzeitig als Verstöße gegen die Moral auffassen.“ (Rüstow)

Und weil sie um jeden Preis den Siegerpokal für sich gewinnen wollen, hassen die modernen Konkurrenten eine moralische Wirtschaft wie die Pest. Sie wollen an Daten gemessen werden, nicht an moralischem Schickimicki.

Die Moralfeindschaft der Ökonomie ist eine Erfindung der Naturwissenschaften, die ihre neu gefundenen Gesetze als moralunabhängige Gesetze der Realität betrachteten, die man mathematisch und empirisch jederzeit verifizieren oder falsifizieren kann.

Moralische Gesetze hingegen sind subjektive Beliebigkeiten, für die es keine objektiven Maßstäbe gibt.

Hayek hingegen vertritt einen determinierten Konjunktiv der Ökonomie. Die wirtschaftlichen „Gesetze“ sind Teile der Natur, die man nur ahnen und vermuten kann. Denn nur Gott ist der wissende Herr dessen, was auf Erden abläuft. Obwohl zwischen empirischer Exaktheit und göttlichem Regiment eine unüberbrückbare Kluft herrscht, beharrt Hayek darauf: Der Mensch ist aufs Ahnen und Vermuten festgelegt:

„Wiederum sah ich, wie es unter der Sonne zugeht: Zum Laufen hilft nicht schnell sein, zum Kampf hilft nicht stark sein, zur Nahrung hilft nicht geschickt sein, zum Reichtum hilft nicht klug sein; dass einer angenehm sei, dazu hilft nicht, dass er etwas gut kann, sondern alles liegt an Zeit und Glück. 12 Auch weiß der Mensch seine Zeit nicht, sondern wie die Fische gefangen werden mit dem verderblichen Netz und wie die Vögel mit dem Garn gefangen werden, so werden auch die Menschen verstrickt zur bösen Zeit, wenn sie plötzlich über sie fällt.“ (Prediger 9, 11 ff)

Wirtschaft ist ein Revier des Ungefähren und der Mensch darf seine Vernunft nicht überschätzen.

„Sozialistischen Moralvorstellungen zu folgen, hieße einen großen Teil der Menschheit zu vernichten und einen großen Teil der übrigen verarmen lassen.“ (Hayek, die Verhängnisvolle Anmaßung)

Kleinigkeiten können zwar mit Vernunft beurteilt werden, ansonsten aber hat die Vernunft der Aufklärung nichts zu sagen. Hayek ist ein weitgehender Gegner der Aufklärung. In vielen Dingen hat sich der Mensch den Zufälligkeiten des göttlichen Geschicks zu unterwerfen.

Aus all diesen Gründen muss der Mensch sich „verhängnisvollen Anmaßungen der Vernunft“ enthalten. Die Vernunft des Menschen ist beschränkt und muss sich ihrer Begrenztheit im täglichen Kampf bewusst sein. Auch die Moral des Menschen übersteigt seine Vernunftfähigkeiten:

„Moralregeln übersteigen die Fähigkeiten der Vernunft.“

Das war eine Absage an die griechische Philosophie, die zwar über verschiedene Moralen gestritten, diese Erkenntnisse aber nicht vollständig über Bord geworfen hat.

Über diese Urprinzipien unseres Verhaltens müsste gründlich gestritten werden. Wird aber nicht, schon gar nicht im denkfaulen Deutschland. So kann es nicht anders sein: der Fortgang der Weltökonomie als Absage an unsere Vernunft schliddert regel- und gedankenlos ins Abschüssige.

Obgleich ein Bewunderer der exakten Naturwissenschaft, bekennt sich Hayek ausdrücklich zu den „zentralen moralischen Positionen des Christentums“, hat gleichwohl keine Probleme, die Verlierer des wirtschaftlichen Wettbewerbs auf den Hund kommen zu lassen. In wichtigen Punkten ist er ein entschiedener Gegner der Demokratie.

Ständig spricht er vom Dualismus Staat – Wirtschaft und übersieht, dass eine lebendige Volksherrschaft nie einen starren Staat haben kann. Im Deutschen ist Staat ein Betonklotz, von dem niemand weiß, woher er kommt. In Demokratien hingegen gibt es nichts, was nicht vom Volke kommt und jederzeit durch Mehrheit verändert werden könnte.

Die Würde des Menschen ist bei Hayek nicht unantastbar, sowenig er ein Freund der Gleichheit und Gleichwertigkeit aller Menschen ist. Würde kann man durch Arbeit nicht verdienen, sie ist ein Geschenk des Volkes an den Einzelnen, der sie nutzt, um die Demokratie lebendig zu halten.

Nach Hayek sind alle Menschen verschieden und verdienen ein ungleiches Schicksal.

Wer unfähig ist, sich selbst zu ernähren, hat die Konsequenzen seiner Faulheit verdient. Von Muße als einer philosophischen Frucht der Freiheit scheint der Gelehrte nie gehört zu haben.

Sein Misstrauen gegen Demokratie ging so weit, dass er mit verschiedenen Diktatoren auf Du und Du stand. Warnungen vor der ökologischen Zerstörung der Natur waren für ihn Kindermärchen. Kein Wunder, dass die Neoliberalen von heute nichts Besseres zu tun haben, als über die ökologischen Bemühungen der Menschen zu spotten.

Hayeks Freiheitsbegriff bezog sich nur auf die Freiheit der Reichen und Mächtigen. Alle anderen haben sich am Riemen zu reißen.

Bei dieser Parodie auf demokratische Regeln bleibt uns nichts anderes übrig, als an uralte Regeln der Weisheit zu erinnern:

„Alle Sittenlosigkeit, Diebstahl und Raub, Gesetzesübertretung und zuchtloser Wandel der Leute entstehen aus dem Mangel. Der Mangel entsteht aus der Maßlosigkeit. Herrscht Maßlosigkeit, so werden die Geringen gleichgültig und lässig und die Großen werden verschwenderisch und ausschweifend. Keiner kennt die Grenzen mehr.“ (aus dem alten China)

Hayek ist weltenweit entfernt von der Vitalität einer selbstkritischen demokratischen Vernunft. Ebenso weit entfernt ist er von der Einsicht:

„Dass das Volk unruhig ist, kommt daher, dass der Unterschied zwischen reich und arm so groß ist.“ (ebenda)

Wie nennt man den Erfinder einer strengen naturwissenschaftlichen Disziplin, die unter dem unberechenbaren Regiment göttlicher Regeln steht? Einen Neoliberalen.

Fortsetzung folgt.