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Natur brüllt! LXXX

Tagesmail vom 13.05.2024

Natur brüllt! LXXX,

„Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, sind es achtzig Jahre“, singt der Psalmist.

Bald wird Israel achtzig Jahre. Wird es diesen gesegneten Geburtstag erleben?

„Premier Netanjahu hat die Kontrolle über die politische Zukunft seines Landes verloren. Seine Strategie isoliert den Staat und führt den Gazastreifen ins Chaos. Was kann ihn stoppen? Schließlich steckt Netanjahu in einem rechtlichen Dilemma, weil ein unverhältnismäßig rücksichtslos geführter Krieg die politischen Ziele nicht erreichen wird, die sich Israel nach dem Terrorüberfall gegeben hat. Daraus erwächst ein völkerrechtliches Problem, das in einer Anklage münden könnte und bereits jetzt zu einer Niederlage im virtuellen Gerichtssaal der globalen Öffentlichkeit geführt hat,“ kommentiert die SZ. (Sueddeutsche.de)

Das jüdische Volk ist nicht bekannt für staatliche Aufbau- und Erhaltungskünste. Bislang war es vor allem ein ewiges Wandervolk, das sich über die ganze Welt verbreitete – aber ohne Beständigkeit und Verteidigungsfähigkeit des immer gleichen Reviers.

Erst im letzten Jahrhundert verschärften sich die Bedürfnisse nach einer verlässlichen Heimat, die Theodor Herzl in eine Wanderbewegung in das uralte heilige Land umwandeln konnte. Jenes Land im Nahen Osten, wohin Jahwe den Abraham gesendet hatte, um seine Vergangenheit abzuschütteln und von vorne zu beginnen.

„Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. 2 Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. 3 Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.“

Gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden: welch eine Verantwortung für die Juden. Sind sie ihr gerecht geworden – oder hat Gott sie überfordert?

Die überaus wechselhaften Ereignisse dieses Volkes bis zum heutigen Tag wurden niedergeschrieben in einem besonderen Buch, das zum Buch der Offenbarung für drei Erlösungsreligionen wurde, die allesamt im Judentum begannen und sich dann als konkurrente Glaubensgemeinschaften selbstständig machten: dem Judentum, dem Christentum und dem Islam.

Die vertrackte Mischung aus Übereinstimmungen und Gegensätzen wurde von den Religionen entweder friedlich ausgetragen oder in schrecklichen Konflikten ausgefochten.

Wenn Juden in christlichen Ländern verfolgt wurden, flohen sie zumeist in mohammedanische Lande, wo sie zwar nicht gleichberechtigt, aber friedlich mit dem Herrenvolk zusammen leben konnten.

Da Erlösungsreligionen eine vertrackte Mischung aus humanen und inhumanen Anteilen sind, wuchs auf diesem giftigen Untergrund allmählich der Antisemitismus. Erlösungsreligionen sind keine universalen Gebilde für alle Menschen, sondern scharfe Auswahlsysteme: viele sind geladen, nur wenige auserwählt.

„Aber er antwortete und sprach: Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, die werden ausgerissen. 14 Lasst sie, sie sind blinde Blindenführer! Wenn aber ein Blinder den andern führt, so fallen sie beide in die Grube.“

In früheren Zeiten war Antisemitismus ein Phänomen der Christen. Mohammedaner bildeten zumeist mächtige, in sich ruhende Staaten, in denen Andersgläubige problemlos existieren konnten.

Heute aber fühlen sie sich von imperialen Christen und Juden des Westens nicht selten bedroht, weshalb sie – besonders jene Muslime, deren Land von den Juden eingenommen wurde –, gelegentlich einen scharfen Hass gegen die Eindringlinge entwickeln.

Schwierige Dreiecksverhältnisse entstehen da, wo seit Jahren muslimische Flüchtlinge nach Europa flüchteten und seitdem – nicht immer unterirdisch – gegen Juden und Christen wüten.

Da alle drei Religionen aus humanen wie inhumanen Teilen bestehen, überwiegt abwechselnd der friedliche oder der hasserfüllte Teil der Religionen.

Das religiös verwahrloste, sich aber aufgeklärt fühlende Deutschland denkt nicht daran, sich mit diesen „Kinkerlitzchen“ zu beschäftigen und fühlt sich berechtigt, diese immer wieder auftretenden religiösen Grundsatzreibereien vollständig zu ignorieren. Sie kennen nur eins: Ruf nach der Polizei und Verschärfung der Gesetze.

Einmal werden Muslime in toto verflucht, ein andermal ihre christentums- oder demokratiefeindlichen Elemente nachlässig übersehen. Viele Muslime haben sich längst angepasst und kennen keine Probleme mehr mit dem Gastland, das sie großzügig aufgenommen hat.

Andere denken nicht daran, ihre muslimische Auserwähltheit zu vergessen und wüten gegen alles Andersgläubige. So kam es zur Forderung dieser Tage, Deutschland in ein Kalifat zu verwandeln.

Eine absurde demokratiefeindliche Aggression. Solche miteinander unverträglichen Auserwähltheitsforderungen hätte das Einwandererland schon vor Jahrzehnten gesetzmäßig verbieten können.

Doch nein, die „Souveränen“ und religiös Blinden wollen sich nicht wie mittelalterliche Ketzerrichter definieren und wursteln sich – wie zumeist in politischen Dingen – irgendwie durch das Brennnesselgestrüpp.

Um die Probleme wirklich zu lösen, müssten sie sich mit der Struktur des Christlichen auseinandersetzen, doch da könnten sie auf vieles stoßen, was ihnen nicht gefallen würde: auch christliche Kirchen kennen uralte Vorrechte, die sie auf keinen Fall verlieren wollen – nur aus dem Grund, gegenüber anderen Religionen bevorzugt zu sein.

Doch wenn Christen Vorrechte haben, wollen auch die anderen nicht zurückstehen und fordern ihre eigenen Privilegien. So kämpften die Juden um das Recht, ihre Säuglinge religiös beschneiden zu dürfen. Und dies, obgleich die Medizin eindringlich vor solchen Eingriffen warnt. Muslime beanspruchen, dass ihre Frauen verschleiert säkulare Berufe ausüben dürfen. Hier protestieren natürlich die säkularen Demokraten, die auf die unverletzliche Würde des Einzelnen pochen – und dazu gehört das freie, für alle Menschen sichtbare Antlitz.

Kurz: Deutschland will die Reibungen und Konflikte zwischen den drei Religionen nicht zur Kenntnis nehmen – weil es sich nicht mit dem Christentum anlegen will.

Würden die Deutschen nach Amerika schauen, könnten sie feststellen, dass religiöse Konflikte zwischen Biblizisten und wirklich aufgeklärten englischen Demokraten noch immer existieren. Bei der Gründung der USA gab es genug Mitglieder der englischen Oberschicht, die die Verfassung der athenischen Polis auswendig kannten.

Trump hätte nicht die jetzige Bedeutung, wenn er nicht die Gefolgschaft der Superfrommen gewonnen hätte. Seine ätzenden Regelverletzungen beruhen auf dem „Recht“ der Frommen, gegen alle irdischen Gesetze verstoßen zu dürfen: Gott würde allen vergeben, wenn sie nur ihr Unrecht bereuten. In der Subkultur der Frommen herrscht noch immer ein Hass gegen die griechischen Heiden mit ihrer gottlosen Polis – die der englischen Demokratie ein Vorbild waren.

Auch im damaligen Deutschland, rund um die Französische Revolution, gärte dieser abendländische Grundkonflikt. Auch bei den weltoffenen Klassikern Goethe und Schiller.

In Schillers berühmter Ode „An die Freude“ heißt es: „… muss ein lieber Vater wohnen“. Das war die Forderung einer schwankenden Vernunft, keine Überzeugung eines innigen Glaubens.

Wie Kant hatten die Weimarer sich gescheut, den Gott der Christen einfach vom Tisch zu wischen. Also bildeten sie einen Kompromiss und stellten eine Forderung der reinen Vernunft. Ob diese dadurch rein geblieben ist, war nicht mehr ihr Problem.

Engländer konnten sich damals solche Kompromisse erlauben. Denn ihre stetig gewachsene demokratische Überzeugung war fähig, die Religion soweit in die Knie zu zwingen, dass sie das demokratische Denken eines Locke nicht mehr verfälschen konnte. Schließlich waren sie überzeugte Anhänger der athenischen Philosophie, die sie vor devotem Kniebeugen in der Kirche schützte. (Siehe vor allem: Georg Grote, Geschichte Griechenlands)

Dann aber kam Hegel und widersetzte sich – zusammen mit der Romantik – Kants Aufklärung. Mit seiner Wundermethode der Dialektik, die alle unauflöslich scheinenden Widersprüche der Welt in objektiver – sprich göttlicher – Allmacht auflösen kann.

„Das Göttliche muss sterben; der wiederauferstandene Gott umfasst alle Widersprüche des Seins; der Schmerz, die Trennung gehören ebenso zu seinem Wesen wie die erhabenste Harmonie. „Der ungeheure Schmerz des Negativen“ muss hereingenommen werden in Gott. Gott ist ein Vernunft- und Liebesprozess. Die Logik ist die Selbstdarstellung dieses Prozesses. Trinität und Logik sind identisch, Geist ist nichts anderes als Offenbarung. „Der logische Prozess hat bei Hegel eine dreifache Bedeutung, eine theologisch-religiöse, eine wissenschaftlich-systematische und eine kosmologische. Logik ist die erste, die wahre Selbstoffenbarung Gottes im Elemente des reinen Gedankens.“ Hegels Logik entsteht tektonisch aus dem Zusammenschluss zweier Gesetze: des logischen Gesetzes der Liebe. Gott ist Widerstreit und Versöhnung, Kampf und Frieden, Prozess und Ruhe. Er ist das Spiel der Liebe mit sich selbst und der Ernst des Kampfes, der Schmerz, die Geduld und die Arbeit des Negativen. Das Wesen der Spekulation ist … die Einheit der Gegensätze.“ (alles in Heer, Europa, Mutter der Revolutionen)

Eine unerhörte Idee von Hegel, die schärfste Logik mit der innigsten Liebe zu versöhnen. Denken ist nicht das Gegenteil von Fühlen, Scharfsinn nicht das Gegenteil von Mitempfindung.

Was Hegel als dialektische Versöhnung bezeichnet, inszeniert Goethe mit Mephisto: Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.

Die deutschen Genies hatten das Negative der Weltentwicklung erkannt, waren aber unwillens, ein negatives Finale der Weltgeschichte zu akzeptieren. Erst Nietzsche war dazu in der Lage – obgleich auch nicht ganz und gar, denn er war von der ewigen Wiederkehr des Gleichen überzeugt. Das aber war eine triumphale Rückkehr des zirkulären griechischen Zeitgefühls. Wenn alles ewig wiederkehrt, kann es nicht im Abgrund enden.

Mit einfachen Worten: Hegels Gott erschuf die Welt mit Problemen. Diese durften das irdische Geschehen zwar eine Zeitlang schwächen, aber niemals am Boden zerstören.

In kleinen Schritten mussten alle Widersprüche – von der Natur bis zum menschlichen Geist – miteinander in den Clinch, sich gegenseitig abarbeiten, um sie auf die nächste Stufe der Widersprüche heben, bis sich am Ende der Zeit die allgemeine Versöhnung aller Dinge ereignet.

Bei den Religiösen heißt das: Jesus muss ans Kreuz, sich martern und töten lassen, bis er den Tod überwindet und als Sieger aufersteht.

Randbemerkungen: Hegels präzise Beobachtungen der gesamten Welt liefern viele Erkenntnisse, die sich bis heute noch nicht durchgesetzt haben, obwohl sie manche Hauptprobleme aus dem Weg räumen würden:

„Die Maschine hilft dem Menschen, die Natur zu betrügen, indem er sie für sich arbeiten lässt. Dieser Betrug rächt sich am Betrügenden: je mehr er die Natur unterjocht, umso niedriger wird er selbst. Je maschinenmäßiger die Arbeit wird, desto weniger Wert hat sie und desto mehr muss er auf diese Weise arbeiten.“

Eine Analyse der Maschine, für die Mumford dankbar gewesen wäre. Kein einziger KI-Bewunderer aus Silicon Valley ist bis heute in der Lage, diese ungeheuer frühe Deutung der Maschine zu verstehen – und sinnvolle Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

Auch zum Kapitalismus äußert Hegel seine präzise Meinung: „Ein Übermaß an Reichtum und ein Übermaß an Armut hängen zusammen.“

Doch am Ende seines Denkerlebens zeigt sich Hegels schwacher Schluss: „Die Auswanderung nach Amerika lasse wohl das Problem lösen.“

Ein absoluter Trugschluss, wenn man sich die Geschichte Amerikas genau betrachtet. Heer kommentiert kess, um die folgende Dominanz eines gewissen Marx plausibel zu machen: „Hegel möchte hier nicht weiter denken. Unendlich müde resigniert er hier. Jetzt müssen Marx und Heine kommen.“

Das war der Bankrott der christlichen Heilsgeschichte, weil die Versöhnung von Vernunft und Glauben scheiterte. Hegel stand am Ende des christlichen Abendlands mit seinem Glauben an einen guten Ausgang – für die Erwählten.

Mit der Kapitulation seiner Dialektik verwirft Hegel sein gesamtes bisheriges optimistisches Denken. „Eine uralte Welt geht mit uns unter.“

Dieser Untergang des heiligen Optimismus und der Aufgang des beginnenden Nihilismus bestimmte die Untergangsstimmung des 19. Jahrhunderts – die erst in der prophetischen Schau eines Heiligen Dritten Reiches aufgelöst werden konnte.

„Das dritte Testament des Joachim die Fiore erschien als Dritte Internationale“ und wieder als „Drittes Reich, verkündet von einem Führer, der als Erlöser bejubelt und von Millionen mit „Heil“ begrüßt wurde. Ein letzter Kampf sollte das Heilsgeschehen zu seiner weltgeschichtlichen Erfüllung und Vollendung bringen.“ (Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen)

Wie alt ist die Weltgeschichte? Wie lange noch wird sie ausharren mit den Dummheiten der Menschen? Werden wir etwa Zeugen eines beginnenden letzten Kampfes, um den Triumphator der Apokalypse aus der Tiefe des Raumes kommen zu sehen?

Fortsetzung folgt.
(Der nächste Text vom Sokratischen Marktplatz erscheint erst in einer Woche)