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Natur brüllt! LXXXI

Tagesmail vom 20.05.2024

Natur brüllt! LXXXI,

Aus der Tiefe des Universums hat sich – just am Tag der Ausgießung des Geistes – das Urgericht zu Wort gemeldet:

„In unserem Herrschaftsbereich soll es einen Planeten geben, der die Grundintelligenz eines Naturwesens offenbar verloren hat.

Grundintelligenz? Ist die gelungene Kooperation der Lebewesen, die alle Konflikte einträchtig miteinander lösen können.

Doch wer, auch nach langer Lernphase, zu dieser Koexistenz unfähig ist, den müssen wir auf die schwarze Liste setzen, alle Fälle penibel untersuchen und unser Urteil unverhüllt dem gesamten Weltall mitteilen.

Es handelt sich um den sonst unauffälligen Planeten Erde, der immer mehr ins Schlingern kommt und all seine Geschöpfe zu gefährden droht.

Der Mensch ist die führende Gattung auf der Erde, der sich viele Jahrtausende lang nichts hat zuschulden kommen lassen. Doch seit den letzten zwei- bis dreitausend Jahren beginnt die Menschheit, sich wie im kollektiven Rausch dem Abgrund zu nähern.

Seltsamerweise nennt sie dieses Kokettieren mit dem Abgrund: Fortschritt. Fortschritt einer immer listiger werdenden und sich über die ganze Erde ausbreitenden Hochkultur. Kann es sein, dass die führenden Geschöpfe der Erde nicht mehr wissen, was sie tun?

Das wäre ein harter Vorwurf, doch wir dürfen keinen Aspekt unterschlagen.

Wie lange dauerte es allein, bis der Mensch sich auf gewisse Normen verständigt hatte, um sein Zusammenrücken auf der immer kleiner werdenden Erde nicht in Hass und Morden ausarten zu lassen?

In der Achsenzeit endlich hatten die Völker ihre Grundnormen des Handelns so weit geklärt, dass ihre Konflikte nicht ständig in Mord und Totschlag ausarten mussten.

Jetzt bildeten sich die ersten Großreiche, die zwar ohne Gewalt ihre Macht nicht verteidigen konnten, dennoch den Frieden als Ziel ihres Zusammenlebens ausgaben.

In vielen Sprachen wurden Schriften erfunden, um niederzulegen, was die Menschen erlebten oder nicht mehr zu erleben wünschten. In vielen Kämpfen erfanden sie – ihre Moral.

Bis heute gelang es den verschiedenen Moralen nicht, sich in den wichtigsten Verhaltensweisen zu einigen. Nur im Bereich despotischer Religionen konnte der Eindruck entstehen, die Völker hätten sich auf Grundnormen des Verhaltens geeinigt.

So im Bereich des Abendlandes, wo der Gott der Theologen und die Vernunft der Menschen miteinander kollidierten. Gott verkündete seine Moral apodiktisch von Oben, die Vernunft hingegen musste selbstständig erkennen, was sie für richtig halten wollte, auch wenn der Schöpfer alles Geschaffene für abgrundtief böse hielt.

Das war schwierig, aber möglich. Auf Dauer ertrugen die Menschen nicht die despotische Stimme ihres Gottes und waren begierig, ihr Erdenglück nach eigenen Vorstellungen zu erproben.

Ergo begannen die Kompromisse zu verfaulen und stanken gen Himmel. Den Abendländern wurde endlos scheinende Macht über die Natur, die man durch grenzenlosen Fortschritt zu erobern gedachte, wichtiger als ereignisloses Herumlümmeln auf der Erde.

Als die Macht der Priester über Europa erlahmte, die Naturwissenschaften erfunden wurden, zerbrachen die Kompromisse zwischen Gott und Mensch fast endgültig.

Aber auch die Vernunftmenschen – oder Aufklärer, wie sie sich selber nannten – entdeckten allmählich die zähen Konflikte der rationalen Vernunft.

War das Gute, das sie gefunden hatten, gleichzeitig für alle gut? Oder nur gut für die einen, aber ungut für die anderen?

Eben dies war die Botschaft des scharfsinnigen Holländers Mandeville, der den Glauben an eine für alle gleich-gültige Moral zerbrach.

Eine wirtschaftliche Gerechtigkeit etwa, die allen Beteiligten denselben Erfolg versprach: solch eine Gerechtigkeit erwies sich als bloßes Märchen. Gerade an dieser Stelle betonte Mandeville: wirtschaftlicher Erfolg ist besonders für wenige Reiche da, die Armen verdienen nichts Besseres als das, was übrig bleibt, notdürftig unter sich zu verteilen.

Die Reichen mussten zuerst an sich selber denken: erst, was übrig blieb von ihrem überfließenden Profit, konnten sie an arme Schlucker verteilen.

Das war ein klarer Verstoß gegen den Bergprediger Jesus:

„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« und deinen Feind hassen. 44 Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, 45 auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. 46 Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? 47 Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? 48 Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“

Auch hier gibt es keine vollständig gleichberechtigte Ethik. Denn der Fromme soll mehr lieben als der Nichtfromme – wenn er seinen himmlischen Lohn zu recht verdienen will. Der Fromme soll etwas Besonders tun, damit er den Heiden in den Schatten stellen kann.

In der Erlösungsreligion sind Menschen nicht gleich, die einen sind auserwählt, die anderen verworfen.

Gleichheit aller Menschen gibt es nur bei den Heiden. Der Athener Antiphon attackiert den Unterschied zwischen Hellenen und Barbaren und begründet die Gleichheit beider damit, „dass wir von Natur alle in jeder Hinsicht in unserem Wesen gleich sind. … atmen wir doch alle durch Mund und Nase die Luft aus und essen wir doch alle mit den Händen.“ Zur körperlichen Gleichheit kam später die seelische hinzu.

Kein Zufall, dass nur in einer Vaterreligion die Unterschiede dominieren, die Gleichheit hingegen in jenen Ländern, die noch etwas von einer gemeinsamen Mutter Erde wissen.

Bei solchen philosophischen Erkenntnissen konnte sich die Sklaverei in Athen nicht mehr halten.

Wundert es jemanden, dass heutige Gleichheitsbewegungen zumeist von Frauen inspiriert sind?

Woher kommt die Krise der Gegenwart? Daher, dass die universelle Gleichheit aller Menschen zwar auf dem Papier, aber nicht in der Realität anerkannt wird. Die Verwerfung der demokratisch verbürgten Gleichheit ist die Überzeugung rechter Parteien, die – genau genommen – wieder ins Mittelalter der ungleichen Klassen und Stände regredieren.

Schreibt heute jemand ein Buch über Universalismus, muss er mit Beschimpfungen der Auserwählten rechnen.

Die globale Welt ist längst so weit zusammengewachsen, dass die Völker der Welt immer mehr zusammenrücken, um ihre Gleichheit gebührend zur Geltung zu bringen. Nichts für rechte und ultrarechte eitle Geschöpfe, die sich für etwas Besonderes dünken.

Durch den wirtschaftlichen Aufstieg nach dem 2. Weltkrieg konnten sich die Deutschen wieder als besonders Tüchtige empfinden – gewiss nicht als rassische, aber als ökonomische Übermenschen. Jetzt verlieren sich allmählich die Unterschiede und sie erkennen, dass nichts Wesentliches sie unterscheidet von den Flüchtlingen, die als Habenichtse zu ihnen kommen.

Mandeville gehörte zu den ersten Denkern Europas, der – neben Machiavelli – die Doppelmoral der Europäer erkannte. Daraus schlug er zynisches Kapital für die Erfolgreichen und Mächtigen.

Sein Motto lautete: „Private Vices, public benefits“ auf gut deutsch etwa: Private Laster sind öffentliche Tugenden. (Oder auf derb deutsch: die Schweinereien der Reichen sind Wohltaten für Karrieristen und Erfolgreiche, gehen aber auf Kosten der Proleten und Schwachen.)

Damit sind wir wieder angekommen bei der Empörung des Urgerichts über die Erde.

Hier müsste ein durchdringender Schrei quer durch alle Welten gellen. Wie kann eine Kultur stolz sein auf ihre humanste aller gleichwertigen und gerechten Moralen – wenn sie skrupellos das Gegenteil praktiziert?

Denn nur, wer Gesellschaft und Menschheit spaltet, die Bevorzugten noch mehr bevorzugt, die Abgehängten noch mehr abhängt, kann für sich und das Ganze optimalen Erfolg erzielen.

Mandevilles Motto für die Moderne: „Die Gesellschaft blüht, solange sie durch Leidenschaften und Laster der Einzelnen in Tätigkeit gesetzt wird und gerät sofort in Verfall, wenn die Einzelnen tugendhaft werden, also auf hemmungslose Befriedigung ihrer Leidenschaften verzichten.“

Hat jemand den hemmungslosen Amoraliker Trump erkannt? Seine Bewährungsproben in Unflat hat er fast spurenlos überstanden. Nun geht’s ans Eingemachte im Weißen Haus. Sollte er tatsächlich gegen den biederen Doppelmoralisten Biden gewinnen, wird’s heftig in der Welt. Dann dürfen wir uns warm anziehen.

„Indem der Mensch beständig die Anderen täuscht, erscheint er sich als anderes, nämlich gesellschaftsnützliches Wesen. Das aber ist das Optimum einer Bigotterie, einer kollektiven Doppelmoral, eines schlechthinnigen Trugs und Betrugs.“

Diese doppelte Moral, die vor allem vom Westen praktiziert, aber ideologisch verleugnet wird, drückt der ganzen demokratischen Gesellschaft den Stempel des ruchlosesten Betrugs auf.

Während die UNO feierlich erklärt:

„Alle Menschen verfügen von Geburt an über die gleichen, unveräußerlichen Rechte und Grundfreiheiten“,

während das Grundgesetz beteuert:

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“,

wird überall in der Welt, wo die westliche Überlegenheit in humanen Fragen gefeiert wird, das pure Gegenteil praktiziert.

Die Superreichen dürfen bedenkenlos die Erde aussaugen und die Natur zerstören – dadurch schaffen sie Reichtum für ihr Land und sind die Moralischsten der ganzen Welt. Dieses Gesetz lässt sich in unsäglich vielen Beispielen fortsetzen.

Was Mephisto in seiner Sprache ausspricht: ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, ist die perfekte Darstellung des Starken, der den Schwachen beschädigt, um das Ganze zu fördern.

Was wären kapitalistische Länder, wenn sie keine Reichen hätten, die auf Kosten der Armen immer reicher würden und Lindners Zahlen in die Höhe schnellen ließen?

Die grundlegende Weisheit all dieser Verherrlichung des Bösen als Förderin des Guten ist biblisch: Die Menschen tun das Böse, obgleich sie das Gute wollen. Sie tun das Gute, obgleich sie das Böse wollen. Gleichgültig, was sie wollen: Gott macht aus allem, was er will.

Arbeiter dürfen nur wenig verdienen, sonst schädigen sie den Profit der Gesellschaft, vor allem der Superreichen. Schüler und Schülerinnen dürfen nicht wirklich gebildet werden, sonst könnten sie durch autonome Erkenntnis den ganzen kapitalistischen Unsinn der Gesellschaft durchschauen. Zudem hätten sie so viel Selbstbewusstsein, dass sie den ganzen Bruchladen zum Einsturz bringen könnten:

„Ich habe bereits dargelegt, warum Zurschulegehen im Vergleich zum Arbeiten Müßiggang ist und habe diese Art der Erziehung armer Leute verworfen, weil sie für alle späteren Zeiten zu einfacher Arbeit unfähig macht.“ (Mandeville)

„Die schlechtesten ausschweifenden Menschen, die Verbrecher, sind gezwungen, für das öffentliche Wohl fortwährend tätig zu sein. Indem sie zerstören, was die Industrie produziert hat, helfen sie, die Armen zu unterhalten und die öffentlichen Auflagen zu bezahlen.“ (bei Vorländer)

Womit klar sein müsste, dass kapitalistische Schulen keine Bildung vermitteln, sondern per Angst und Drill wahre Bildung überhaupt verhindern: nämlich Bildung als Fähigkeit, das Menschenwürdige zu erkennen und vom Inhumanen zu unterscheiden.

Eben dies mussten deutsche Schulbeamte mit eiserner Strenge durchführen.

In Schulen wird man vollgepfropft mit allen Variationen doppelter Moral. Solange man jung ist und unverdorben, hat man anständig zu sein, wird man aber erwachsen und tritt in die offizielle Gesellschaft ein, wird Doppelmoral plötzlich zum kategorischen Imperativ kapitalistischer Welteroberer.

Was wäre, wenn das ganze deutsche Volk wirklich gebildet wäre? Das gäbe eine Urexplosion von Bayern bis zur Nordsee. Die jetzigen Shitstorms der sozialen Medien zeigen längst: wenn Menschen formulieren könnten, was sie wirklich empfinden, lebten wir bereits im Garten Eden. Denn ein Shitstorm ist nur die Umkehr dessen, was eine moralisch unbeschädigte Seele wirklich zu sagen hätte.

So aber muss es noch immer heißen:

„So klagt denn nicht. Für Tugend hats
In großen Staaten nicht viel Platz.
Von Lastern frei zu sein, wird nie
Was anderes sein als Utopie.
Stolz, Luxus und Betrügerei
Muss sein, damit ein Volk gedeih.“

Es ist eine absurde Kunst der Politik, dem Volk ideale Absichten und Ziele zu verkünden, das Gegenteil aber zu tun.

Wer deutsche Politik durchschaut, dem kann kein Mandeville mehr etwas Neues erzählen.

Hört ihr bereits den gellenden Urschrei aus den Tiefen des Universums zu uns dringen?

Fortsetzung folgt.