Kategorien
Tagesmail

Natur brüllt! LXXIX

Tagesmail vom 10.05.2024

Natur brüllt! LXXIX,

Kennt ihr das Märchen vom guten Pastor und den bösen Kindern?

„Der Pastor und die Kinder: „Meine Frau und ich machen seit Jahren alle 14 Tage an einer Brennpunktschule Sozialkompetenztraining“, berichtete der Geistliche. „Die Kinder in der 2. Klasse sind 8 bis 10 Jahre alt. In der ersten Stunde fragen wir sie immer: In welchem Jahr seid ihr geboren? Und 95 Prozent kennen ihren Geburtstag nicht!“ „Die Perspektiven fehlen. Ich habe Kinder in der 5. Klasse, die wissen schon, was sie mal werden: Bürgergeldbezieher!“ „Die Aggression wird immer größer“, warnt der Pastor. „Es wird viel mehr gemobbt, viel mehr geschlagen, viel mehr mit dem Messer herumgelaufen!““ (BILD.de)

Damit landen wir auf dem Platz jener Kinder, die sich rüsten, die Welt zu retten.

Wenn die nicht mal ihre eigenen Geburtsjahre kennen, wie sollen sie wissen, wann der Rettungstag der Natur vor der Tür stehen wird? Die wissen ja nicht mal, dass sie der Natur schon wieder die Haare vom Kopf fressen.

Dabei – psst, ein Geheimnis, das unter uns bleiben muss! – schrecken sie des Nachts immer öfter in ihren Betten auf, brabbeln fiebriges, wirres Zeug und halluzinieren von schrecklichen Gespenstern – oder brüllen sogar im Halbtraum ihre hilflosen Eltern an.

Was dann? Dann ab mit ihnen zu den Schulpsychiatern. Die haben auch keine Ahnung von nichts, doch ihr Gestammel klingt wie bedeutsame Wissenschaft.

Kinderstuben wissen es zuerst, oder genauer: sie ahnen es. Die Menschheit nähert sich erneut jenen Urschrecken, von denen sie sich vor tausenden von Jahren befreien wollte.

Höhere Kulturen – und solche wollen wir sein – beginnen mit dem Kollektivgemetzel an den Ungeheuern der frühesten Zeiten. Der rasante Fortschritt wird erfunden, um die grauenhaften Zustände der Urzeit so schnell wie möglich zu verdrängen.

Je erfolgreicher sich der Fortschritt gibt, desto höher scheinen wir zu steigen. Doch der Schein trügt: zwar werden die Ungeheuer ins Unsichtbare verdrängt, doch ihre verborgenen Kräfte donnern immer stärker an die glatten Oberflächen und drohen, sie zu sprengen.

Wohl ahnten das die ersten Kulturträger, die begonnen hatten, mit Schriften und Büchern ihre Errungenschaften der ganzen Welt zu verkünden Doch sie begriffen nicht, dass dieselben Fähigkeiten dazu beitrugen, die Rohheiten der Urzeiten ins Endlose zu verlängern.

Kultur wurde zum ständig präsenten Gedächtnis der Menschheit – im Guten wie im Bösen.

Die aufgeschriebenen oder eingravierten Schriftzeichen wurden zur kollektiven Erinnerung der Menschen, die sie bis zum heutigen Tag nicht losließ.

Der Fortschritt ihrer Kulturfähigkeiten wurde zum unveränderlichen Bestandteil ihres Bewusstseins – das sie öfter drangsalierte und piesackte, als sie wollten.

„Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen. 16 Und zur Frau sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein.“

Hat sich irgendetwas verändert? Zwar wurden viele Begriffe erfunden, die die Abgründe des Menschen virtuos umschreiben sollten. Doch vergeblich.

Ein halbes Jahrhundert dauerte im letzten Jahrhundert das Atemholen der Menschheit, um ihr Töten und Morden in der Tiefe der Geschichte zu begraben.

Doch kaum träumten wir wieder von kollektiven Friedensreichen, da hatte uns das Böse schon wieder am Kragen.

All unsere Fortschritte muss die Menschheit mit dem Bewusstsein eines grausamen Rückschritts bezahlen. Links und rechts sind die hilflosen Begriffe für vorwärts ins Menschliche und rückwärts in die Schlächtereien der Geschichte.

Wie erbärmlich klingt es im neuen „Grundsatzprogramm“ unserer stärksten Partei: Wohin gehen wir? Nach vorne!

Wohin denn sonst, wenn wir die chronologische Zeit nehmen? Aber inhaltlich? Die physikalische Zeit ist kein Gradmesser dessen, was die Menschheit wollen kann.

Wie oft war das Frühere besser – und doch käme kein Zeitgenosse auf die Idee, mit der Postkutsche über die Alpen zu fahren.

Hätte „nach vorne“ aber einen heilsgeschichtlichen Sinn, weil Religionen die Erlösung in der Zukunft erwarten, müssten alle christlichen Parteien nach vorne preschen. Und welche Partei würde entrüstet von sich weisen, nichts mehr vom lieben Gott wissen zu wollen?

Wird es doch wieder authentisch, der Öffentlichkeit stolz zu verkünden: ich bin wieder in der Kirche. So Maischberger, so Strack-Zimmermann, die Gott für den besten Liberalen hält – was wohl Lindner, der Allerbeste aller Liberalen, von dieser Aussage hält?

Das Beste kommt erst in der Zukunft, am Schluss der Geschichte – so das Credo aller Frommen. Wo aber bliebe da die Formel: wir sind eine konservative Partei? Konservare heißt das Gute der Vergangenheit aufbewahren. Genau das wäre eine grobe Sünde wider das Gebot, nicht nach hinten zu schauen:

„Gedenket nicht mehr der früheren Dinge und des Vergangenen achtet nicht. Siehe, nun schaffe ich Neues; schon sprosst es, gewahrt ihr es nicht?“

Jede wirklich christliche Partei müsste sich in Grund und Boden schämen ob solcher rhetorischen Schlingen, stets modern zu sein und den Zug in die Zukunft nicht zu verpassen.

Keine Eingeborenengesellschaft, die früher unbehelligt am Busen der Natur überleben konnte, würde die Zukunftspflicht der „fortgeschrittenen Kulturen“ gut heißen. Ist doch gerade der Fortschritt der imperialen Kulturen das Todesurteil ihrer stationären Lebenskunst.

Warum nennt sich die CDU konservativ und nicht progressiv? Weil sie keinen Überblick hat über ihre wirren Begriffe. Sie glauben, sie müssten dem modernen Zukunftsglauben entgegenkommen. Also basteln sie ein Potpourri aus allen Zeiten und Denklagern, um möglichst viele Wähler für sich zu gewinnen.

Das Gegenteil zur CDU wären progressive Parteien, die tatsächlich alles vernichten wollen, was dem Fortschritt nicht entspricht. Nehmen wir das progressive Denken von Silicon Valley in Amerika.

Schon jetzt leben die KI-Spezialisten in absoluten Zukunftsvisionen, die alles Alte und Zurückliegende als antimodern, unzumutbar und hoffnungslos veraltet erleben.

Gleichzeitig wollen sie nichts Dringlicheres als eine Zukunft im Universum, in der nur für wenige Auserwählte Platz wäre.

Wenige Auserwählte, aber massenhaft Verworfene: just das wäre der Erwählungsschlüssel derer, die ihre Religion immer schon nach diesem Vorbild gestalten wollten. Das Uralte einer Erwählungsreligion wäre das passende Vorbild ihrer geplanten Zukunft.

Schon ihre gegenwärtige Wirtschaftsform wäre undenkbar ohne die Heilsformel: viele sind verworfen, wenige sind auserwählt.

Diese Erwählungsprozedur war bereits für Augustin das unfehlbare Schema:

„Die Welt ist jetzt wie eine Kelter; es wird ausgepresst. Bist du Ölschaum, so fließt du in die Kloake; bist du Öl, so bleibst Du im Ölgefäß. Dass gepresst wird, ist unumgänglich. Nur beachte den Schaum, beachte das Öl. Pressung geht in der Welt vor sich: durch Hungersnot, Krieg, Armut, Teuerung, Not, Streben, Raub, Geiz. Das sind die Drangsale der Armen und die Mühsale der Staaten: wir erleben es. … Das Öl hat Glanz. Da findet sich nämlich ein anderer Mensch in derselben Presse und in der Reibung, die ihn zerreibt – war es denn keine Reibung, die ihn so blank rieb?“ (Augustin, in Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen)

Nach Augustin dürfte es kein soziales Programm der CDU geben, um den Armen zu nützen, denn diese sollen in die Kloake gepresst werden. Die Frommen hingegen werden blank poliert, um in strahlender Reinheit vor Gott zu stehen.

Unser jetziges System ist eine simple, aber an Brutalität unüberbietbare Pressungsmaschine.

Die CDU gibt sich in allen Dingen gespalten, ein bisschen modern, ein bisschen altmodisch. Damit ist sie in keiner Weise vorbildlich christlich, geschweige eschatologisch.

Heilszeit ist für Christen nur ein Fortschritt, wenn sie ausgepresst werden zum Guten. Für alle anderen ist Fortschritt ein Unheil.

Dass christliche Heilszeit auch für Fromme ein Grauen sein kann, das beschrieb Jean Paul in „Siebenkäs“:

„Und als Christus das reibende Gedränge der Welten, den Fackeltanz der himmlischen Irrlichter und die Korallenbänke schlagender Herzen sah, und als er sah, wie eine Weltkugel um die andere ihre glimmenden Seelen auf das Totenmeer ausschüttete, wie eine Wasserkugel schwimmende Lichter auf die Wellen streuet: so hob er groß wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlichkeit und sagte: »Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! Kennt ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? – Zufall, weißt du selber, wenn du mit Orkanen durch das Sternen-Schneegestöber schreitest und eine Sonne um die andere auswehest, und wenn der funkelnde Tau der Gestirne ausblinkt, indem du vorübergehest? – Wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des Alles! Ich bin nur neben mir – O Vater! o Vater! wo ist deine unendliche Brust, daß ich an ihr ruhe? – Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein?… Ist das neben mir noch ein Mensch? Du Armer! Euer kleines Leben ist der Seufzer der Natur oder nur sein Echo – ein Hohlspiegel wirft seine Strahlen in die Staubwolken aus Totenasche auf eure Erde hinab, und dann entstehn ihre bewölkten, wankenden Bilder. – Erkennst du deine Erde?«“ (Erstes Blumenstück)

Fortschritt ist ein Ding mit zwei Gesichtern: das eine ist das Antlitz ewigen Glücks, das andere die Fratze endlosen Unglücks.

Doch was haben diese konträren Glaubens-Visionen zu tun mit der realen Weltgeschichte? Selbst wenn sie nur Illusionen wären: die realen Vorstellungen einer politischen Erde reichten aus, um uns in Angst und Schrecken zu versetzen.

Schauen wir auf die heidnischen Untergangsformeln der Natur bei den Römern. Hier bei Plinius:

„Siegesgewiss blicken sie auf den Zusammenbruch der Natur.“ „Auf diese prägnante Formel hat der römische Naturforscher Plinius die Einstellung des sich überlegen dünkenden Menschen zu der von ihm – scheinbar – bezwungenen Natur gebracht.“ Scheinbar?

„Plinius übt hier massive Kritik an der kurzsichtigen, letztlich für ihn selbst ruinösen Art des Umgangs mit der Natur, die der Mensch im Bergbau, aber auch in anderen Bereichen praktiziert.“

„Was für ein Ende soll die Ausbeutung der Erde in all den künftigen Jahrhunderten noch finden? Bis wohin soll unsere Habgier noch vordringen?“ (K. H. Weeber, Smog über Attika)

Auch die Antike hatte Umweltschäden zu verantworten, die zum Teil bis in die Gegenwart reichen. Man denke nur an die erosionsgeschädigten Berge Attikas, die schon von Platon erwähnt wurden: „Ringsum ist aller fette und weiche Boden weggeschwemmt und nur das magere Gerippe des Landes ist übriggeblieben.“

Fortschritt der Technik und Ausdehnung des Kapitalismus begannen nicht erst im 17. Jahrhundert. Das europäische Übel beginnt schon in Solons Zeiten, weshalb der weise Gründer Athens ein frühes Warngedicht gegen die Verschandelung der Natur schrieb.

„Ruchlos ist die Gesinnung der Führer des Volkes, sie wissen ja niemals die Lüste maßvoll zu zügeln und nie sich zu bescheiden beim Mahl.

Reichtümer schachern sie all„, achten Gesetz nicht noch Recht, weder von heiligem Gut, noch des Staates Besitz lassen sie die Finger weg. Sie rauben und stehlen, wo`s angeht. Auf das Gesetz nur gründet das Gute der Mensch, baut er Beständiges auf.“ (Solons Eunomie-Gedicht)

Hier sehen wir in aller Deutlichkeit: schon seit mehr als zweitausend Jahren zeigt sich, dass Naturverderben und Kapitalismus untrennbar zusammen entstanden sind. Wer wissen will, wann und wo die ausbeutende Geldwirtschaft begonnen hat, muss beide Aspekte im Auge behalten.

Kapitalismus ist nicht nur das Verderben der menschlichen Gesellschaft, sondern das parallele Verderben der Natur.

Das alles spüren unsere hilflosen Kinder, die sich die Augen ausheulen, wenn sie erleben, wie ihre Autoritäten skrupellos die Welt vernichten. Tun wir alles, damit die Kinder fähig werden, ihre eigene Zukunft zu sichern. Dann wird niemand mehr fragen: hörst du die Kinder heulen?

Wer das Wohl der Kinder will, muss für das Wohl der Natur sorgen.

Fortsetzung folgt.