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Menschheit

Hello, Freunde der Menschheit,

wie überwältigend hilfreich und herzlich können Menschen sein. Wie großzügig und souverän Franzosen sich um die Angehörigen der deutschen Opfer kümmerten, sie in ihre Wohnungen aufnahmen, sie verköstigen, mit ihnen sprachen, ihr Leid teilten und für sie da waren!

Junge Feuerwehrleute redeten von europäischer Solidarität, wann hörte man solche Worte – von deutschen Kommentatoren als Naivität abgetan – zum letzten Mal? Gebirgshirten, Bergführer, Ärzte und Schwestern standen bereit, ließen ihre tägliche Arbeit liegen, um den sonst so mächtigen, anderen Nationen ihre Gesetze aufzwingenden, jetzt so hilflosen, von Trauer und Schmerz gezeichneten Deutschen beizustehen.

Was, wenn das Unglück am Parnassos in Griechenland geschehen wäre? Zweifelt irgendjemand, dass die Griechen sich mit gleichem Eifer wie Franzosen und Spanier eingesetzt hätten, um den merkel-kalten, nun so vom Schicksal gezeichneten Germanen aus dem Norden, in allen erdenklichen Dingen beizustehen?

Deutsche Medien troffen von eitler Ergriffenheit, metaphysischer Betroffenheit und schicksalhaft stammelnder Sprachlosigkeit vor dem Unfassbaren, Unerklärbaren, waren erschüttert über die vor Herzeleid brechende Stimme Lammerts, die überwältigende Schweigeminute im Bundestag – doch das solidarische Tun und Handeln der europäischen Nachbarn und Freunde blieb im Dunkeln, wurde nur beiläufig erwähnt.

Es muss eine Auszeichnung sein, gefallenen Titanen helfen zu dürfen. Dankbarkeit gehört nicht zu den Tugenden der Dauersieger. Verstehen sich solche Freundschaftstaten nicht von selbst? Ist es nicht das Wenigste, das man von

Leuten erwarten kann, denen man oft, allzu oft, unter die Arme gegriffen hat, um sie – ob sie wollten oder nicht – ins Land des Wohlstands zu zerren?

Über Nacht wurden die Großen und Starken zu Schwachen. Doch wie zeigten sie sich? Als die Größten – im unerklärbaren Leid, das nur Erwählten zuteil wird. Nur die Seinen züchtigt Gott im Übermaß. In der Not zeigt sich nicht nur der Mann, sondern die von Tragik umwitterte Nation. Sind sie stark, sind sie unbesiegbar, sind sie schwach, sind sie noch stärker. Wahre Stärke ist, in der größten Not barhäuptig und ungebrochen vor seinem Schöpfer zu stehen und ihm die Ehre zu geben.

Religiöse Trauer wird zur Staatsraison. Kommt Not über das Land, verschmelzen Staat und Kirche zur obszönen Einheit. Die Frömmler, immer bereit, sich von allem gekränkt zu fühlen, was sie nicht abgesegnet haben, haben keine Hemmungen, eine ganze Nation zur Beute ihrer ecclesia triumphans zu nehmen. Liegt die Welt im Argen, dominieren die jenseitigen Seelentröster.

(In einem amerikanischen Staat gilt als Glaubensfreiheit, wenn man Schwule beschimpfen darf. In den ZDF-Fernsehrat ziehen immer mehr Profi-Hirten ein, um Petra Gerster im Glauben zu unterstützen. Demnächst wird ein Kreuz im heute-Studio prangen, und Kleber wird seine Sendung beschließen mit einem ergreifenden „Gott sei uns Sündern gnädig“.)

Keine Talkshow ohne obligaten Seelsorger, der zu künden wusste, wie man in Not und Tod „sich gehalten fühlt“, so Ex-Bischof Schneider bei Anne Will. Wie fühlt man sich gehalten – und wer hält? Fragen an den Notfallseelsorger, der in „Grenzsituationen“ zu Hause ist und gekonnt die Frage nach Gott in allwissender Ignoranz abweist. Ein wahrer Gott lässt sich nicht in die Karten schauen. Gäbe es einen Grund, an ihn zu glauben, wenn man ihn erkennen könnte und zur Rechenschaft ziehen dürfte?

Ein allmächtiger Gott darf kein hilfloser, kein bösartiger sein. Also Vorhang zu und alle Fragen offen: mach dir kein Bildnis, du Opfer. Was erkühnst du dich, oh Wicht, mit Gott zu klügeln, nur, weil du dich in Schmerzen krümmst? Weißt du nicht, wie es Hiob erging? „Ich habe geredet in Unverstand, Dinge, die zu wunderbar für mich, die ich nicht begriff.“

Die deutschen Medien – allesamt aus der nobilitierten Kategorie: „Herr, wir glauben, hilf unserem Unglauben“ – wollten begreifen, wollten nichts begreifen und diejenigen, die alles begriffen, auf keinen Fall begreifen und zu blasphemischen Sündern erklären. Hiobs Bankrott vor Gott darf sich in einer frommen, halbfrommen, aufgeklärt frommen, ungläubig-aber-dennoch-frommen Nation nicht wiederholen.  

SPIEGEL ONLINE: Wie oft hören Sie die Frage „Warum“?

Rieske: Die hören wir sehr oft, aber es geht zunächst meist um den konkreten Hergang des Unglücks. Die tiefergehende Frage, etwa nach einem Gott, der das zulässt, kommt meist später.

SPIEGEL ONLINE: Was antworten Sie darauf?

Rieske: Wir können diese Frage nur aushalten. Es gibt darauf keine Antwort. Und das sagen wir auch. (Interview mit Pastor Rieske)

Mit Warum kann man nach Gott fragen oder man könnte wissen wollen, welche irdischen Ursachen es gibt, die man – soweit sie in der Macht des Menschen liegen – in Zukunft vermeiden müsste. Doch zwischen Metaphysik und Physik können Deutsche nicht unterscheiden.

Kant ist vergeblich gestorben. Seine Grenzziehung zwischen Herumtappen im frömmelnden Jenseits und dem sicheren Gang der Wissenschaft im Diesseits war folgenlos.

Bei Seele denken Deutsche stets an ein unsterblich stoffloses Ding in der Brust, niemals an ihre sterbliche Denk- und Fühlzentrale. Bei Warum denken sie an den unerklärbaren Gott und nie an natürliche Gesetze, die erklär- und erforschbar sind.

(In 3-Sat, unter der Ägide des Theologen Scobel, der vorgibt, ein Intellektueller zu sein, gibt’s schon Propagandasendungen für Wunder. Was gilt dort als Wunder? „Ich bin Realist, ich glaube an Wunder. Es gibt so viele Dinge, die wir nicht wissen – wenn das keine Wunder sind!“

Nö, 3-Sat, sind sie nicht. Wunder sind per definitionem ecclesiae Eingriffe Gottes in die Natur, die – wie der Urheber selbst – immer unerklärlich bleiben. Was wir hingegen nicht wissen, aber der Natur und ihren Gesetzen unterliegt, könnte sehr wohl eines künftigen Tages erklärbar werden. Selbst, wenn es das Fassungsvermögen unseres begrenzten Verstandes für immer überstiege, bliebe es natürlich.

Goethe: „das Erforschliche zu erforschen und das Unerforschliche ruhig zu verehren.“ Verehren heißt nicht, sich für doof erklären, niederknien, anbeten und einen Gott daraus stricken. Überall müssen die pfiffigen Theologen ein naturfeindliches Nirwana schaffen, um dem heimatlosen, unerklärbaren Gott ein Asyl zu bieten.)

Prinzipiell sind alle Ursachen eines natürlichen Vorgangs natürlich und erklärbar. Wäre es nicht erklärbar, wäre es ein Wunder. Wer von einem Wunder, einem Unerklärbaren spricht, bringt Religion und Metaphysik ins Spiel und verurteilt die menschliche Vernunft zur Idiotin.

Dazu gehört die deutsche Kanzlerin, die solche Sätze emittiert: „Das, was vor Ort passiert, übersteigt unsere Vorstellungskraft.“

Wenn natürliche Dinge, und seien sie noch so gefährlich, die Vorstellungskraft einer Physikerin übersteigen – Physik hat bekanntlich Hiroshima zu verantworten – dann wäre es an der Zeit, sein Bündel zu packen und leise weinend das Kanzleramt zu verlassen – um Platz zu schaffen dem Allroundmimen Jauch, der demnächst seinen TV-Dom verlassen muss, weil er fälschlich Zeugnis abgelegt hat wider seinen griechischen Nächsten. Ach so, den Plasberg kriegt Jauch als kostenlosen Pressesprecher obendrauf.

Womit wir bei den Ursachen angekommen wären – pardon, den möglichen Ursachen des Unglücks, das möglicherweise kein Unglück, sondern ein Suizid in kollektivem Umfang war. Gewissermaßen eine Plurale-tantum-Untat. (Ein Pluraletantum ist ein Substantiv, das ausschließlich im Plural vorkommt, wie etwa „ein Dutzend“.)

Pluraliatantum-Untaten gibt’s en masse. Nur in Deutschland darf es sie nicht geben. Deutschland ist perfekt und kennt keine religiösen Fanatismen. Jeder Märtyrer, der um seines Glaubens willen ein Attentat auf sich begeht, um viele Feinde mit in den Tod zu nehmen, ist ein Pluraletantum-Täter. Kennen die Christen natürlich nicht, die nur fast die ganze antike Kultur in Rauch und Asche verwandelten und sich selbst ins Messer stürzten, um das Reich der Himmel und der Erden zu gewinnen. Das Blut der Märtyrer ist der Samen der Kirche.

Inzwischen dient der Absturz des deutschen Flugzeugs dazu, die emotionalen Beziehungen zwischen den europäischen Partnern zu vergiften. Sollte es sich bewahrheiten, dass ein Pluraletantum-Copilot der Urheber der schrecklichen Tat war, wären die Deutschen viel schlimmer als die Italiener, deren Kapitän Schettino nicht so viele Tote auf dem Konto seines Kreuzfahrtschiffs-Desaster hatte.

Wie BILD die Mittelmeerländer fäkal zu beharken versteht, so beharken diese nun schadenfroh zurück:

„Das politisch ähnlich ausgerichtete Minderheitenblatt „Libero“ spricht von deutscher Schande. Der Kopilot und seine Arbeitgeber seien Kriminelle; unvergessen, dass sich gerade die Deutschen so über Schettino aufgeregt hätten. Manche Journalisten in Italien sind offenbar glücklich, bei einer solchen Tragödie schreiben zu können, dass Deutschland nicht perfekt ist.“ (FAZ.NET)

Wechselseitige Häme ist ein erfreuliches Zeichen. Es zeigt, dass die europäischen Völker zusammenwachsen und sich in bekannter familiär-gruppendynamischer Weise niedermachen. Nähe ist nicht immer eine emotional erfreuliche Angelegenheit. Die – in Deutschland präferierte – Moral der Nähe ist nicht automatisch eine köstliche Frucht der Philanthropie.

Natürlich muss spekuliert werden. Spekulationen sind notwendige Hypothesen, die richtig oder falsch sein können. Ist es schwierig, sie zu verifizieren, heißt das nicht, dass sie falsch sein müssen.

Die Psychoanalyse ist eine empirische Wissenschaft, die nichts tut, als nachweisbare Taten mit spekulativ vermuteten Psycho-Ursachen zu erklären und zu kurieren. Bekanntlich hat man ihr derohalben Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen und versucht, sie aus dem Kanon der harten überprüfbaren Sozialwissenschaften harsch zu entfernen.

Doch das ist Unfug – es sei, man ist bereit, alle nicht objektiv quantifizierbaren Sozialwissenschaften als alchimistischen Nonsens zu bezeichnen. Zwar gibt es gekünstelte Versuche, in Demoskopie, Testtheorie und ähnlichen Möchtegern-Naturwissenschaften quantitative Methoden einzuführen. Doch jeder Statistiker weiß, dass zwischen der subjektiven Ordinalskala und einer absolut objektiven Rational- oder Verhältnisskala Welten liegen. In der ersteren gibt es immer subjektive Einschätzungen, die von Mensch zu Mensch höchst unterschiedlich sind. Solche Willkürzahlen kann es in der letzteren nicht geben.

In keiner Sozialwissenschaft gibt’s astreine Rationalskalen. Diese „Minderwertigkeit“ der Sozialwissenschaften, gemessen an den objektiven Naturwissenschaften, war der Grund, dass im 19. Jahrhundert deutsche Philosophen (Dilthey, Rickert) viel Gedankenschweiß aufbrachten, um den Status der nicht objektiven Wissenschaften – die Philosophie immer voran – zu klären.

Keine Sozialwissenschaft kann einer Naturwissenschaft methodisch das Wasser reichen. Schon gar nicht die wissenschaftlich sein wollende Ökonomie. Wenn aber nicht methodisch, so doch in ihrer Relevanz für das menschliche Leben. Keine Relativitätstheorie kann uns sagen, wie wir leben sollen. Kein Gravitationsgesetz, wie wir uns selbst erkennen können. Keine mathematische Gleichung kann uns das Geheimnis der Freundschaft verraten.

In ihrer Substanz überragen die Geisteswissenschaften die quantitativen Erkenntnisse der Natur um ein Vielfaches. Auch wenn ihre Hypothesen nicht einwandfrei nachgewiesen werden können, müssen sie noch lange nicht falsch sein. Das Kriterium der Wahrheit muss ein anderes sein als das der Naturwissenschaften.

Wittgensteins Seligpreisung der „positiven Wissenschaften“ und seine Degradierung aller anderen zu Humbug ist dämlich. („Wovon man nicht reden kann, davon soll man schweigen.“ Dieser Satz hieße, 99% der ganzen menschlichen Kultur zu ersticken und zum Verstummen zu bringen.)

Das Menschliche entzieht sich präziser Quantifizierung. Dennoch sind Erkenntnisse möglich. Wann ist eine psychoanalytische Hypothese mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr? Wenn sie fähig ist, das Unbewusste aufzubrechen und dem Selbsterkennenden eine neurose-freiere Humanität zu verschaffen.

Philosophie ist eine Disziplin der qualitativen, nicht der quantitativen Erkenntnisse. Hier spielen logische Folgerichtigkeit, Argumente und Gegenargumente eine Rolle. Hätte die Menschheit sich auf diese humanen Methoden des Streits und der Verständigung geeinigt – die identisch sind mit demokratischen Methoden auf der Agora –, wäre sie bereits im Vorzimmer des Paradieses angekommen.

All diese notwendigen Vorüberlegungen kümmern deutsche Edelschreiber nicht die Bohne. Sie wissen durch bloße Henri-Nannen-Instinkte, was erklärbar und unerklärbar ist und wo ihr legasthenischer Verstand aussetzen muss – um sich fertig machen zum Gebet. Zu der genialen Imbezillen-Clique gehören fast alle Politiker, Ökonomen und sonstige Masters of Universe.

Nun ist die Vermutung aufgekommen, der Copilot könnte aus neurotischen Gründen ein Pluraletantum-Verbrechen exekutiert haben:
„Die „Bild“-Zeitung (Samstagsausgabe) zitiert eine Ex-Freundin von Andreas L., eine Stewardess, die 2014 fünf Monate mit dem Copilot liiert gewesen sein soll. Die Flugbegleiterin sagt, Andreas L. habe sein Vorhaben letztes Jahr bereits angedeutet: „Als ich vom Absturz hörte, ging mir immer wieder ein Satz durch den Kopf, den er sagte: ‚Eines Tages werde ich etwas tun, was das ganze System verändern wird, und alle werden dann meinen Namen kennen und in Erinnerung behalten.‘ Ich wusste nie, was er damit meinte, aber jetzt ergibt es einen Sinn“.“ (WELT Online)

Den Deutschen ist die Seele abhanden gekommen. Ihre Mutation zu zweibeinigen, wirtschafts- und profitgesteuerten Quantitäts-Aliens steht vor der Vollendung. Immer vorneweg die gefühlssichere Pastorentochter, die zur Bekundung solidarischer Empathie mit den Opfern einen gestanzten Satz vom Blatt lesen muss.

Da es keine deutsche Seele mehr gibt und der Copilot ein Deutscher war, kann seine nicht vorhandene Seele auch nicht defekt gewesen sein. Wie sollte eine nichtexistente Seele Macht über den durchtrainierten Leib eines tüchtigen Karrieristen und Technikers gewonnen haben? Wunder? Diesmal nicht als Eingriff Gottes, sondern als direkte Intervention aus der Hölle?

Positivisten lassen nichts Unquantitatives gelten, doch mit Religion und sonstigem Abrakadabra haben sie keine Probleme. Gott, Himmel und Hölle sind für sie realer als alle physikalischen Erkenntnisse zusammen. Von wem stammen die Sätze: „An einen Gott glauben, heißt die Frage nach dem Sinn des Lebens verstehen. An einen Gott glauben, heißt sehen, dass es mit den Tatsachen der Welt noch nicht abgetan ist“? Vom Mystiker Wittgenstein. Amen.

Nur in wenigen Kommentaren ist zu lesen, dass Pluraletantum-Untaten gar nicht so selten sind. Bettina Gaus gehört zu den Ausnahmen:

„Der Wunsch, dass der Freitod ein Zeichen über die eigene Person hinaus setzen möge, ist so selten nicht. Sogar aus der internationalen Luftfahrt sind mehrere Fälle bekannt. Es ist schwer verständlich, dass deutsche Verantwortliche nun immer wieder erklären, ein Fall wie der jetzige habe bislang außerhalb ihrer Vorstellungskraft gelegen. Sie hätten ihre Fantasie doch gar nicht bemühen müssen. Die Lektüre der Tagespresse wäre schon hilfreich gewesen, von einem gut funktionierenden Archiv ganz zu schweigen.“ (TAZ)

In einem Punkt aber irrt Frau Gaus. Märtyrertaten mit Vernichtung vieler Heiden und Sünder sind sehr wohl typisch für religiöse Kulturen. Die Angst vor dem höllischen Feuer hat noch nie Wunder bewirkt. Wär‘s anders, wären alle fanatischen Religionskulturen Mustergebilde an gehorsamen Erfüllern von Gottes Geboten.

Verschiedene Fragen müssen streng auseinander gehalten werden.

a) Ist es möglich, dass eine bestimmte Neurose – oder Psychose – zu einem kollektiv erweiterten Selbstmord (oder Selbsttötung plus Fremdenmord) führen kann?

b) Ist es möglich, dass eine solche seelische Disposition erkannt werden kann?

c) Ist es möglich, dass eine solche erkannte Disposition verhindert werden kann?

Antwort a): Unbedingt.    

Antwort b): Unter Umständen: wenn der Neurotiker „unangepasstes Verhalten“ zeigt. Wenn er sich einer therapeutischen Behandlung unterzieht.

Antwort c): In einer intakten Demokratie niemals. Nur totalitäre Regime mit umfassenden NSA-Kenntnissen könnten solche Erkenntnisse erheben. Und möglicherweise nicht mal sie.

Seelische Erkrankungen hatten schon immer die exzeptionelle Flexibilität, sich mit angepasstem und vorbildlich geltendem Verhalten zu akkomodieren. Hitler und Stalin brachten es ohne nennenswerte Schwierigkeiten bis an die Spitze abendländischer Kulturen. Noch mehr: die offiziellen Normen der altchristlichen Kulturen waren in sich identisch mit verbrecherischen. Fast die ganze deutsche Nation war eine Selbst- & Fremdmörder-Nation in einem. Entweder würde es ihr gelingen, ihre Feinde zu eliminieren oder sie selbst sollte vor die Hunde gehen.

Sollte Naomi Klein Recht haben – sie hat Recht –, ist die ganze Welt dabei, sich in Nichts aufzulösen. Der Kapitalismus als eschatologischer Akt der christlichen Weltuntergangspflicht zerstört sich selbst, um die ganze Natur zu zerstören oder die Natur zu zerstören, um sich selbst zu zerstören.

In deutschen Besprechungen des neuen Klein-Buches überwiegt ein geradezu unfassbar super-suizidaler Bagatellisierungston: Klein mache es sich zu einfach, alles auf den Kapitalismus zu schieben. Die KULTURZEIT in 3-Sat schoss den Vogel ab: Klein benutze die Klimakatastrophe, um sich wichtig zu machen und einen Weltbestseller zu landen.

Bye bye, meine Geschwister. Im Himmel sehen wir uns wieder, wenn wir bei Seinen Englein sind.

Die hochgelehrte FAZ kennt immerhin den Herostrat-Effekt als Vorläufer eines schrecklichen Verbrechens, um sich einen unsterblichen Namen zu machen. Das Christentum als apokalyptischer Anschlag auf die ganze Natur, um unsterblich und selig zu werden, ist der FAZ unbekannt.

Die kollektiv-suizidale Gesamtpsychose der christianisierten Zivilisation ist derart gewaltig, dass die Zivilisation die furchterregende Diagnose vollständig leugnet und den geringsten Ansatz einer Therapie verweigert. Sie leugnet zu tun, was sie zu glauben vorgibt.

Amerikanische Christen sind hier eindeutiger als deutsche: sie glauben zu wissen, dass zu ihren Lebzeiten der Messias kommen wird, um die alte Schöpfung zu zerstören und eine neue zu schaffen. Folgerecht lehnen sie ökologische Maßnahmen als Widerstandsakt gegen Gottes Heilswillen ab. Deutsche Christen halten sich für zu aufgeklärt, um solche „Mythen“ zu glauben.

Ein eminentes Unglück wie der Flugzeugabsturz ist wie der Einschlag eines Meteoriten ins kollektive Unbewusste einer Nation. Was sonst unter dicken Verdrängungsschichten verborgen bleibt, bricht wie ein vulkanischer Feuerstrom ins Helle und wir können mühelos erkennen, was im täglichen Leben der Nation unterdrückt wird. Unter der Stahlschicht des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts, für welchen jeder sich mit jedem bis aufs Messer bekämpfen muss, lauert das tiefe Verlangen nach emotionaler Einheit und der Utopie einer friedlichen Menschheit.  

Wir Deutschen gehen ja normalerweise unseren Geschäften nach, keiner guckt sich an. Wir gehen aneinander vorbei wie Fremde. Und da ist dieses Unglück. Wir umarmen uns. Wir sind uns alle plötzlich so nah. Wenn es irgendetwas Gutes gibt an dieser Katastrophe, ist es, dass wir uns alle so nah sind.“ (BILD)

In solchen Katastrophen zeigt der Mensch, dass er von Natur aus überwältigend hilfreich und herzlich sein kann. Doch welche Kräfte gebieten ihm, seine Natur zu sprengen? Was zwingt ihn, sich gegen seine eigene Natur zu stellen und sich zu zerstören? Nicht nur Gossenschreiber, auch gelehrte Kolumnisten bestätigen, dass in außerordentlichen Ereignissen die Gemeinschaft aus ihrem menschenfeindlichen Alltag heraustreten muss:

„Michael Stürmer sieht das in der Welt ganz ähnlich: „Die Repräsentanten der Republik – Deutschland, Frankreich, Spanien – spüren, dass sie aus dem Alltag heraustreten müssen, um Trost zu spenden und zu beweisen, dass es Gemeinschaft gibt, verbunden in Trauer.“

„Denn jetzt können die deutsche Bundeskanzlerin und der spanische Ministerpräsident nur mit Dankbarkeit feststellen, wie groß Hilfe und Freundschaft der Franzosen sind, auf deren Gebiet das deutsche Flugzeug abstürzte. Unter dem Eindruck eines schrecklichen Ereignisses … tritt das Trennende zurück und rückt das Verbindende in den Mittelpunkt.“ (BLZ)

Was das Unglück an den Tag bringt, ist eine grausame Bestätigung des Hayek‘schen Neoliberalismus. Die herrschende Wirtschaftsdoktrin der Gegenwart beruht auf der totalen Verdrängung und Verwüstung aller naturgegebenen, familiär erlernten Eigenschaften des spontanen Helfens, der ungekünstelten Empathie und der Sehnsucht nach globalem Frieden. Die Menschheit muss – nach Hayek – alle humanen Instinkte der sozialen Urgruppe mit Stumpf und Stil ausrotten, um den Planeten in einen Tresor voller Geld und toter Dinge zu verwandeln.

Hayeks Ideologie ist der Fußabdruck der christlichen Religion, die die Vernichtung der Erde fordert – um ein übernatürliches Reich aus Gold und Diamanten zu errichten.

Religion ist dabei, ihren Siegeszug über die Natur bis zum Suizid der Gattung fortzusetzen. Der Triumph der Erlöser fällt zusammen mit dem Untergang aller Menschen.