Tagesmail vom 09.12.2024
Die ERDE und wir. XXXVII,
„Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben,
den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn!
Deine Wangen
müssen heut viel schöner prangen,
eile, den Bräutigam sehnlichst zu lieben!“
Ein Text aus dem Weihnachtsoratorium? Gibt’s doch nicht.
Ist der Erlöser der Schönste und Liebste?
Sind wir in einem Liebesdrama? Ist Erlösung eine versteckte Liebeserklärung an ein ideales Menschengeschlecht, das demnächst kommen muss? Dürfen sich hier Triebregungen äußern, die im normalen Leben verboten sind?
Selbst bei den Hellenen waren die Frauen zweiter Klasse. Aber mit elementarem Schwung nach oben. Denken wir an Sappho, die erste weibliche Dichterin des Abendlands mit Sehnsucht nach weiblicher Zuneigung. An Diotima, die philosophische Lehrerin des Sokrates.
Obwohl die Frauen heute auf Straßen und in den Wohnungen körperlich immer aggressiver angegriffen werden, sind sie – im Kommen. Schaut ins Fernsehen, gibt’s da noch Männer? Einige griesgrämige Gesichter.
Nur die Frauen sind voller Lebensenergie, Neugierde und Präsenz. Überall, wo es Freiheitsbewegungen gibt: Frauen. Überall, wo es waffenlose Auseinandersetzungen gibt: Frauen.
Und wo sind die Männer? Klumpen sich dort, wo es was zu prahlen gibt. In mächtigen Kathedralen und Domen, in schillernden Palästen und Schlössern, innerhalb klassischer Mauern der Macht.
Die Männer wissen gar nicht mehr, in welche Falten sie ihre schlauen Gesichter legen sollen. Also grinsen sie in allen Variationen oder gucken versteinert in eine Zukunft, die nur sie ahnen können.
Sie können die gewaltigsten oder gelehrtesten Begriffe ausspucken, sie können tiefsinnige Bücher und gewaltige Dramen verfassen – doch was dann?
Warum wurde Deutschland von Mme de Stael das Land der Dichter und Denker genannt? Das war ein zwielichtiges Kompliment. Sie dachten und dichteten den ganzen Tag, weil sie nicht – handeln konnten. Es fehlte die Tat.
Warum schrieb Goethe in seinen Faust – die „Faust“, hört, hört, – den Satz:
„Am Anfang war die Tat!“
Das war sein Traum. Seine Wirklichkeit klang anders:
„Die Melancholie erfasst dich, weil keine Welt da ist, in der du handeln kannst.“
Das Lebenswerk sind Bücher, ein Buch ist die Tat des Lebens. „Ein Buch schreiben und dann sterben.“
Und was machen die Klassen, die kaum ein Buch lesen, geschweige wissen, wie man ein solches Monstrum verfassen kann? Die Oberen schreiben in den Gazetten, die Unteren buchstabieren mühsam und versuchen zu verstehen. Das Meiste verstehen sie nicht. Würden sie es verstehen, wäre schon längst die Revolution über uns gekommen.
Die Schule sollte die jungen Menschen auf das Verständnis und die politischen Notwendigkeiten des Lebens einstellen. Doch wie ist die Wirklichkeit?
„Statt dass der Mensch gebildet wird, wird er zum Handwerker und zum Werkzeug gemacht. (Heute zum KI). In Wirklichkeit erzieht die Schule weder Gelehrte noch Gebildete, sondern das Gegenteil von beiden – Journalisten.“ (Lütgert)
Gazettenschreiber ist der deutscheste aller Berufe. Über alles eine Meinung, sogar die objektivste, die es gibt; aber keine Tat, keine autonome Regung, keine demokratische Beteiligung. Alles in gleichmäßiger Entfernung, alles in Relotius-Dekor, nirgend ein kräftiger Fluch auf die Verelendung des Seins.
Zeitungsschreiber sind wie deutsche Historiker: „Die Objektivität des Historikers löscht die individuelle Persönlichkeit aus, anstatt sie zu stärken und zu füllen.“
Hat es mal ein Tribunal der Verleger über die verlogenste Zeitung der Republik gegeben, um sie für immer aus dem Revier der „Objektiven“ zu verscheuchen – über BILD?
Verglichen mit BILD ist die AfD eine belanglose Sprüchemacherin. Döpfner ist ohnehin ständig auf dem Sprung übers Wasser, um nicht den Anschluss an die Musks und Thiels zu verpassen. Wer die AfD verbieten will, muss zuerst die BILD verbieten.
Okay, okay, die Lage der schreibenden Klasse verbessert sich. Immer mehr schreiben sie auch über ihre subjektiven Impressionen. Doch es reicht noch lange nicht.
Das öffentliche Geschehen ist für die Klasse der Beobachter genau das, was Trump im amerikanischen TV bot: Klamauk und vergiftete Lufttrübungen, aber kein Bericht über das Geschehen mit separater kritischer Meinung.
Die Gründe dieser falschen Objektivität liegen im Vernichtungskampf der exakten Naturwissenschaften gegen die versumpften Geisteswissenschaften, die unfähig sind, ihre Meinungen mit der Rechenmaschine zu beweisen. Zum Dank ziehen nun die KI-Maschinen in ihre Zentrale, um ihre persönlichen Ausscheidungen zu vernichten.
Da Geschichte verläuft, wie sie – nach allen Materialisten – objektiv verlaufen muss: nach welcher Moral soll man sich richten, um das, was ist, mit dem Pickel zu bearbeiten und ein neues humanes Haus zu errichten?
Das 19. Jahrhundert ist an allem schuld. Erst wollten die Gebildeten von den Hellenen das Schöne, Wahre und Gute lernen. Dann reute es sie, das Erbe des Abendlandes den Heiden zu überlassen. Ergo kehrten sie zurück in Kathedralen und bilderlose Reformatoren-Kirchen, um den Sprüchen des Heilands nicht untreu zu werden.
Griechentum gegen Christentum: Null zu Null. Heidnische Ethik gegen christliche Ethik: vergiftetes Unentschieden. Nichts mehr blieb übrig, wenn … wenn sich nicht ein Ausweg gefunden hätte: es erschien das deutsche Genie.
Das Genie fühlte sich nichts und niemandem verpflichtet und konnte selbst nach Belieben entscheiden, was es für gut oder schlecht hielt. Das Genie war der Vorgänger des TV-Kaspers Trump, der nach Belieben alles zur Sau machen kann – oder ins Gegenteil.
Wie bereits Schiller vor der Französischen Revolution ins Ästhetische floh, um Politik und Moral zu entkommen, so sind die heutigen Meister des Öffentlichen die Genies des Beliebigen, die sich allen demokratischen Verpflichtungen entziehen und Allotria treiben.
Gelehrter formuliert: „Auch Nietzsches Geschichtsphilosophie gipfelt in dem Gedanken, dass das Ziel der Geschichte in den wenigen Großen liegt, … denen gegenüber die Menschheit eine bedeutungslose Masse ist. Die Massen werden überhaupt nicht beachtet.“
Dass der Prozess der Heilsgeschichte die Menschheit immer mehr in wenige Erwählte und viele Verworfene spaltet, sieht man jeden Tag deutlicher. Das ist keine amerikanische Erfindung.
Schon am Ende des 19. Jahrhunderts schrieb der damals wichtigste Historiker:
„»Die Millionen müssen ackern, schmieden und hobeln, damit einige Tausend forschen, malen und regieren können. Umsonst versucht der Sozialismus durch leeres Wutgeschrei diese herbe Erkenntnis aus der Welt zu schaffen. Darum ist die aristokratische Gliederung der Gesellschaft nicht grausam und ungerecht.« Der ästhetische Grundzug des klassizistischen Idealismus, der alle ethischen Bedenken verdrängte, trat in diesem Urteil grell hervor. Die Sozialdemokratie konnte Treitschke deswegen nur aus schärfste verurteilen.“
Treitschke war’s, der die Bismarckzeit in falschem Glanz leuchten ließ. Er verteidigte die Oberen, die auf einem Höhepunkt des neuen Kapitalismus angekommen waren, um den Pöbel in Grund und Boden zu stampfen.
Die heutigen Führer der Proleten denken immer noch wie Treitschke. Kaum haben sie Karriere gemacht, landen sie in den Führungsetagen der Großindustrie. Dort wissen sie am besten, was den Ruhrpottlern gut tut – sie hingegen schweben mit ihren Privatflugzeugen über das Land und gehören in die Sphäre der Genies, die von den Normalos nicht mehr verstanden werden.
Die Trennung in wenige Genies und viele Überflüssige gilt auch für die Entwicklung der Grünen.
Barbara Supp hat sich die Mühe gemacht, die Entwicklung der Grünen sorgsam zu überprüfen, um die Antwort zu finden, warum sie heute so weit entfernt sind von den Vorstellungen ihrer Anfänge. Für sie ist Joschka Fischer die Zentralfigur der Parteiverwilderung:
„Allen voran Joschka Fischer, der für mich vom ersten Moment an als Minister eine Enttäuschung war. Es gebe keine »grüne Außenpolitik«, sagte er. Wozu brauche ich dann einen Grünen in diesem Job? Über den Kosovo sprach er mit maximalem moralischem Druck, mit monströser Übertreibung. Er sprach von einem neuen Auschwitz, das der Serbe Slobodan Milošević plane und das nur durch Krieg zu verhindern sei. So drängte er die Grünen ins Militärische, erst im Kosovo, später in Afghanistan. Nein, ich bin nicht der Ansicht, dass Opposition Mist ist, dass man notfalls die Prinzipien aufgibt, um zu regieren. Druck ist möglich, Veränderung ist möglich. Eine scharfe Opposition ist mir da lieber als eine lasche Regierung. Die Latte für eine Regierungsbeteiligung, ich lege sie hoch.Und ich erwarte, dass eine Regierungspartei, die ich gewählt habe, über dem Regieren nicht ihre Prinzipien verliert. Ich wiederum habe die Absicht, diese Partei endgültig als Wählerin zu verlassen. Aber wo, das frage auch ich mich, soll ich dann hin?“ (SPIEGEL.de)
Eine schwere Anklage, in einzelnen Punkten kaum widerlegbar – wenn man die „Ideale des Anfangs“ als Bewertungsgrundlage nimmt. Dennoch hat die Kritikerin wichtige Aspekte übersehen.
Ideale werden in Deutschland verhöhnt. Wenn doch Naivlinge kommen, um ihre Visionen zu realisieren, sehen wir, dass sie die Bremsen der Geschichte nicht einkalkulieren. Arglos glauben sie, sie könnten Punkt für Punkt ihr Anfangsprogramm verwirklichen. Doch das wäre selbst dann aussichtslos, wenn sie ausreichend Macht dazu hätten.
Denn Politik findet nicht allein im geschützten Debattenraum statt, sondern im kreischenden Getriebe der nationalen und internationalen Politik.
Der Fehler der Deutschen im 19. Jahrhundert – vor lauter Idealen haben sie nicht zur Tat gefunden – haben die Grünen punktgenau wiederholt. Aus der Geschichte hätten sie lernen müssen, dass ihre Ziele nicht in einem eleganten Durchmarsch zu erreichen sind. Was auf keinen Fall heißt, sie hätten ihre Ziele mutlos wegwerfen müssen. Sondern heißt lediglich: wir müssen uns auf alle möglichen Zwischenetappen einrichten, auf Kompromisse, Abwege und sonstige Verirrungen durch konträre Elemente.
Diese Hindernisse hätten sie in ihr Grundprogramm schreiben müssen, damit ihre Wähler Bescheid wissen, was sie erwartet. Dann aber müsste die Kunst der realen Teilpolitik folgen, die das jeweilige Tagesoptimum herausholen kann, um sich dem Ziel zu nähern. Hier muss man endlos streiten, eines aber darf man nicht: das Ziel aus den Augen verlieren.
Ständig muss man überprüfen, in welchem Maß man sich vom Ziel entfernt hat, um sich diesem im nächsten Schritt wieder anzunähern.
Diese Grundbedingungen jeder realen Politik haben die Grünen übersehen und sich in der Falle der Vergangenheit verfangen: viele Ideale, keine realen Schritte, um sich diesen zu nähern.
Kompromisse sind schrecklich und ernüchternd, doch ohne sie geht es nicht. Wer sein Programm verwirklichen will, wie es auf dem Papier steht, steht sofort im Abseits und kommt keinen Millimeter voran.
Es muss ein intaktes Parteigedächtnis geben, das genau beobachtet, wie die Partei sich rational entwickelt – und inwiefern sie vom Kurs abkommt. Dann müssen die Gremien entscheiden, wie sie ihren Fehlerkurs korrigieren und sich dem Ziel wieder nähern können.
Das alles muss den Wählern stetig klar gemacht werden, damit jeder weiß, wo die Gruppe steht – und wohin sie gehen muss.
Die ständigen Korrekturen gelten natürlich auch für die Konkretisierung des Ziels. Klimakorrekturen sind wissenschaftliche Aufgaben und können sich nach neuen Erkenntnissen ständig ändern. Also müssen auch die Ziele ständig überprüft und debattiert werden. Parteien müssen dazu lernen. Neue, überprüfte Ziele müssen im Spiegel der täglichen Politlage stets neu vereinbart werden: eine mühsame Kollektivarbeit. Doch einfacher geht’s nicht.
Joschka Fischer war der Verächter der theoretischen Ideale und ein Draufgänger der gedankenlosen Tat. Er war das deutsche Vorlaufmodell Trumps, ausgerechnet bei den Grünen. Solche Aktivisten bräuchte man nur, wenn sie sich im Spiegel der programmatischen Gedanken kritisieren und korrigieren ließen.
Joschka Fischer war ein rasanter, aber gedankenschwacher Antreiber der Partei, zur Führung einer gedanken- und tatenreichen Partei unfähig.
Die jetzige Partei müsste von vorne beginnen und Tat und Gedanken symmetrisch miteinander verkoppeln. Robert Habeck rutschte zu sehr in den Sumpf unkorrigierter Kompromisse und verlor die Urziele der Partei aus den Augen.
Da capo, ihr Grünen, aber in symmetrischem Denken und Tun.
Fortsetzung folgt.