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Der Tod

Hello, Freunde des Gebens und Nehmens,

wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand. Doch was, wenn er das Amt wieder nimmt? Muss der Verstand als Immobilie der Obrigkeit im Amt verbleiben? Oder darf der ehemalige Amtsträger den Verstand als bewegliches Souvenir mit nach Hause nehmen und seinen Kindern zeigen: schaut Kinder, euer Vater hatte Verstand, täglich von 8 Uhr morgens bis 5 Uhr abends? Die Rechtsverhältnisse sind unsicher.

Wem Gott eine Milliarde gibt, gibt er dem auch Verstand? Oder muss er schon Verstand mitgebracht haben, um eine Milliarde einzuheimsen? Was voraussetzen würde, dass Verstand und Geldscheffeln verträglich sind.

Solch komplexe Fragen übersteigen die staatlich erlaubte Lösungskapazität von Normalos und müssen dem neu eingerichteten Superministerium für Überkomplexes überwiesen werden, das Sigmar Gabriel passgenau auf den Leib geschrieben wurde.

Gabriel ist Spezialist für das Vereinbaren von Unvereinbarem. Den Schriftsteller-Aufruf gegen amerikanische Omniszienz kann er freudig begrüßen, doch unterschreiben könne er das Papier nicht. Schließlich sei er kein Schriftsteller. Da hat die Gilde der Literaten noch mal Glück gehabt. Schrift-Steller ist er nicht, aber Wort-brecher. Was für normale Gehirne unverträglich wäre, ist für Merkels besten Freund tägliches Brot.

(Wenn Merkel ihren Seelenbruder anstrahlt, ist das dem Vorsitzenden peinlich. Wie soll er diesen multivalenten Blick seinen Bottropern erklären? Eben dies weiß die schlaue Pastorentochter und

freut sich diebisch über ihren unschuldigen Mädchen-Coup, den sie abends unter Kichern dem Herrn Sauer erzählt.)

Er tut den ganzen Tag nichts anderes als Dinge zu vereinbaren, die beim besten Willen unvereinbar sind. Wie auch immer man in die Etagen der Eliten vorgedrungen ist – die meisten durch Kaiserschnitt –: auf dem obersten Deck des Vergnügungsdampfers ist die Welt noch in Ordnung. Ja, nur dort ist sie noch in Ordnung.

In ihrem schillernden Bericht über Bettina Wulff zitiert Gisela Friedrichsen die hohe Blonde, die dem Gericht die Wahrheit sagen wollte, mit den Worten: „Bei gemeinsamen Essen habe mal der eine, mal der andere gezahlt. „Wichtig ist, dass es ein Geben und Nehmen ist. Ich denke, das hat sich die Waage gehalten“.“

Das macht Eliten zu echten Vorbildern: bei ihnen ist alles, wie es nach der katholischen Soziallehre sein soll: Nehmen und Geben stehen im Einklang. Ist der eine mal knapp – was nie vorkommen kann – steht der andere parat, um die gemeinsame Zeche zu bezahlen. Man tritt füreinander ein, aber freiwillig, und nicht weil der Staat einem dazu zwingen will.

Man hält zusammen. Besonders gegen die Horden jener, die vom Staat nur nehmen wollen, dann aber die Tür zuschlagen mit dem garstigen Schrei: mir gäbet nix. Würden alle Unterschichten so vorbildlich sein wie Oberschichten, es gäbe keine Unterschichten mehr. Sie wären alle aufgestiegen und unten wäre – nichts.

Doch nebenbei: was wollte Friedrichsen, die in einem strengen Nonnenkloster aufwuchs, uns mit ihrem hintergründigen Bericht vermitteln? „Sie trägt eine elegante weiße Seidenbluse mit Schluppe (laut Duden eine Schlinge, die man auch um den Hals legen kann), die bis zur schmalen Taille reicht, was sie gertenschlank erscheinen lässt, einen engen schwarzen Rock, blickdichte schwarze Strümpfe und halbhohe Pumps aus Wildleder. Sie ist stark, aber trotzdem zurückhaltend geschminkt – eine Frau, die ihren Auftritt zelebriert, die um ihre Wirkung weiß und alle Augen auf sich zieht, sobald sie einen Raum betritt.“

Eine Frau mit blickdichten Strümpfen und Pumps aus wildem Leder, die jeden Raum dominiert, den sie betritt, ihre Schlinge immer griffbereit bei sich – woran sollen wir denken, oh Gisela? Was willst du uns in, mit und unter dem Wort zuraunen mit deinem blickdichten, schillernden Boudoirstil, der alle Düfte Arabiens herüberwehen lässt: so stark in seiner Wirkung und doch so zurückhaltend formuliert? Kann denn dieser konturlose Engel lügen? (Gisela Friedrichsen im SPIEGEL)

Womit wir mit der schönen Blonden umstandslos beim Tod angekommen wären. Dem Tod und dem Mädchen. Bei Niklaus Manuel Deutsch kommt auch eine Schöne vor, wenngleich wenig blickdicht und mit langen roten Haaren. Hinter ihr steht der Freier mit lüsternem Griff und hat sein abscheuliches Gebiss schon ins junge zarte Fleisch geschlagen.  (Tod und Mädchen)

Solch ein Bild könnte heute nicht mehr gemalt werden. Denn: der Tod kommt als Freier und als solcher würde er sofort von der Polizei abgeführt werden. Das Gesicht der sich Entblößenden ist schwer zu deuten. Sie schaut zurück, wer sie hier a tergo begehrt. Erschrickt sie über das Totengesicht? Ist sie erstaunt, erfreut, dass ein so hoher Herr hinter ihr her ist?

Warum ist der Tod immer ein Mann, warum begehrt er das Leben als Weib?

„Er nahm sie in der Mitten,

Da sie am schwächsten war,

Es half bei ihm kein Bitten,

Er warf sie in das Gras,

Und rührte an ihr junges Herz.

Da liegt das Mägdlein zarte

Voll bittrer Angst und Schmerz.“

Wer solche Todesvorstellungen hat, darf sich nicht wundern, dass die Südafrikaner beim Begräbnis ihres Menschheitshelden sangen und tanzten – wir aber nie. Bei uns ist der Tod ein Schrecken. Was nichts anderes bedeuten kann, als dass die meisten Christen in unserem Lande sich nicht auserwählt fühlen. Denn hätten sie das Gefühl, zur Schar der Seligen zu gehören, sie müssten jubeln und sich freuen wie Mandelas glaubensstarke Landesleute.

Das Klagen und Heulen der Gläubigen ist die Todeserklärung ihres Glaubens. Wären sie von der Wahrheit ihres Himmels überzeugt, gäbe es keinen Grund zur Trauer. Im Gegenteil, Flöten und Schalmeien müssten jubilieren.

Doch halt: trauern sie nicht um den Verlust eines Menschen? Müssten sie dann nicht den Nächsten mehr lieben als sich selbst und mehr an dessen Übertritt ins himmlische Paradeis denken, als an ihren eigenen egoistischen Verlust?

Wie kommt es, dass im ganzen christlichen Westen Alter und Tod mit allen Mitteln verdrängt werden? Nicht nur mit Jugendwahn – gibt es heute noch ein Omagesicht mit Runzeln? Sondern mit unendlichem Fortschritt – ohne Tod des Fortschritts. Mit endlosem Wachsen des Reichtums – ohne Tod des Reichtums. Mit nie endender Zukunft – die nie Gegenwart und Vergangenheit werden darf? Der Mensch wird zum todlosen Wesen.

Der Tod ist der Urfeind der Menschheit. Er muss ausgerottet werden. Ruhe ist Tod, also muss Ruhe getötet werden. Stillstand ist Ruhe, also muss Stillstand ausgerottet werden. Wer stehen bleibt, wird überholt: er wird eliminiert. Stehenbleiben, Ausruhen, zur Besinnung kommen: alles lebensgefährliche Tätigkeiten. Also muss beschleunigt werden.

Wer ständig beschleunigt, fühlt sich grenzenlos. Wer seine Grenzen überschreitet, fühlt sich todlos. Tod ist Grenze. Alle Grenzen müssen gesprengt werden. Ihren Kindern müssen sie ständig Grenzen setzen, weil sie sich selbst keine setzen. Die gesamte Moderne befindet sich auf kollektiver Flucht vor dem Tod. Wahrhaft, der christliche Glaube an ein besseres Jenseits muss überwältigend sein.

Alles hat ein Verfallsdatum, das wäre aber eine Grenze. Also muss jedes Verfallsdatum des Alten zerfetzt werden. Siehe, ich habe das Alte überwunden, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde. Die Zukunft ist offen, sie darf keine Grenze haben. Alles muss offen bleiben, alle Grenzen sind abgeschafft. Grenze ist Endlichkeit. Wer seine Grenzen schleift, dementiert seine Endlichkeit.

Hybris war die Überheblichkeit des Griechen, seine Endlichkeit zu überwinden und gottgleich zu werden. Der Christ ist gottgleich, er muss es nicht werden. Seine natürliche Endlichkeit muss er nur überwinden, um zu werden, was er schon immer war. Hybris ist für Griechen das schlimmste Vergehen, bei Christen ist sie Glaubensgehorsam. Addiere Vergehen mit Glaubensgehorsam, teile durch zwei und du erhältst das Schlachtfeld der Moderne.

Der Tod ist der Sünde Sold. Menschen müssen sterben, weil sie Sünder sind. Wären sie ohne Sünde, wären sie unsterblich. Die Anfangsmythen künden noch von Ahnungen uranfänglicher Todlosigkeit. Adam wurde 930 Jahre; Seth 912 Jahre, Enos 905 Jahre, Kenan 910 Jahre, Methusalem 969 Jahre. Ewiges Leben kennt keinen Tod.

Die Hölle ist Tod, der nicht sterben darf. Die größte Verheißung an seine Jünger war die Zusage des Herrn: „Wahrlich, ich sage euch: unter denen, die hier stehen, sind einige, die den Tod nicht schmecken werden, bis sie den Sohn des Menschen mit seiner Königsherrschaft haben kommen sehen.“

Und nun das Schreckliche: der Herr hat sein Wort gebrochen. Bis heute läuft alles weiter, als sei nichts geschehen, als käme nie ein Ende. Deshalb apokalyptische Beschleunigung, die Hast aufs Ende. „Alles drängt und stürzt dem Ende entgegen“, steht in Thomas Manns Doktor Faustus, einem eindrucksvollen Buch mit einer lächerlichen Botschaft.

Wer ist schuld an der verbrecherischen Entwicklung der Deutschen? Der Teufel, das Käsperlin. Viel Genie, Wahnsinn, altdeutsch-derbe und knorrige Begriffe für den Gottseibeiuns in wabernder Magie: schon haben wir das Rätsel der Deutschen gelöst.

Hat Jesus die Menschheit betrogen? War er ein Gaukler, ein Hochstapler? Das darf nicht sein, also kann es nicht sein. Um ihren Heiland zu retten, rasen sie von morgens bis abends, um die Verheißung im Nachhinein zu erfüllen. Die jagende Hetze, das grenzenlose Beschleunigen dient allein dem Zweck, post festum doch noch zu erfüllen, was der Herr leichtsinnig in den Sand gesetzt hat.

Die Moderne muss die Schwächen des Erlösers kompensieren. In höllischem Tempo soll ungeschehen gemacht werden, dass der Herr weder allwissend noch omnipotent war. Es ist wie mit der Blöße Noahs. „Sem und Japhet nahmen das Gewand, gingen rückwärts und bedeckten ihres Vaters Blöße, indem ihr Angesicht rückwärts gewendet war, sodass sie ihres Vaters Blöße nicht sahen.“ So heute: sie schauen nicht nach hinten, sie schauen immer nach vorn. Würden sie nach hinten schauen, könnten sie die Blößen ihres Erlösers sehen, der Ungeheueres versprach und nichts hielt.

Je eher es gelingt, die versprochene Todlosigkeit zu erfinden, je eher können sie sagen: vor Gott sind 1000 Jahre wie ein Tag. Jesus sprach nicht von äußerer, sondern von innerer Unsterblichkeit. Das Reich Gottes muss nicht außen kommen, es ist inwendig in uns – wenn wir nur glauben. Doch ihren eigenen Parolen scheinen sie nicht zu glauben. Also muss durch Fortschritt und Technik die äußere Unsterblichkeit hergestellt werden. „Denn dieses Verwesliche muss anziehen Unverweslichkeit und dieses Sterbliche anziehen Unsterblichkeit.“ Wir haben die Agenda von Silicon Valley vor uns.

Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? Der Tod scheint für Anhänger einer linear-unendlichen Heilsgeschichte das schlimmste Verhängnis. „Aber ich verfluche den Tod. Ich kann nicht anders. Und wenn ich darüber blind werden sollte, ich kann nicht anders, ich stoße den Tod zurück. Würde ich ihn anerkennen, ich wäre ein Mörder.“ Elias Canetti würde sich als Mörder fühlen, wenn er nicht den Tod bekämpfte.

Das ewige Leben wäre bedroht, wenn der Tod das letzte Wort behielte. Dieser Furor steckt in allen wissenschaftlichen Bemühungen Amerikas – Ray Kurzweil will den Tod algorithmisch übertölpeln –, um die Grenzen des Lebens ständig zu erweitern, bis dass die Reisen mit Lichtgeschwindigkeit keinen Altersprozess mehr zulassen. Bis Zeitreisen in Vergangenheit und Zukunft nach Belieben möglich wären. (Ein Berliner Pirat nennt sich Zeitreisentechnologe.)

Ihr Schlangen, ihr Nattern, wollt ihr dem höllischen Feuer entrinnen? Was ist das Schlimmste an der Hölle? In der Offenbarung des Johannes steht‘s:

„In jenen Tagen werden die Menschen den Tod suchen und werden ihn nicht finden und sie werden begehren, zu sterben und der Tod flieht von ihnen.“

Das ist das Höllischste an der Endzeit, die Menschen müssen unsterblich sein. Nicht fröhlich unsterblich, sondern in grenzenloser Folter. Was ist Hölle? Das ewige Verbot, Natur zu sein und sterblich zu werden.

Die gesamte christliche Natur in Ost und West, im Kapitalismus wie im Sozialismus, steht unter dem Zwang, den Tod zu besiegen. Die Kultur des gottgleichen Übermenschen „will sich über die gegebene Wirklichkeit der Natur erheben. Worin liegt die Besonderheit der Menschheit, über die sich die Übermenschen erheben wollen, wenn nicht darin, dass sie sterblich ist?“ (Ludolf Müller, Der Übermensch bei Solovjev)

Bei Homer waren Mensch und Sterblicher noch Synonyme. Der Christ fühlt sich vom Tod besiegt und überwunden. „Wenn dem aber so ist, so folgt, dass der Übermensch vor allem Besieger des Todes sein muss.“ Auch wenn der Weg zur Unsterblichkeit noch lang wäre, so führt er doch zu einer „immer vollkommener werdenden Erfüllung als finaler Triumph über den Tod.“

Den westlichen Impuls zum unendlichen Fortschritt kann nur verstehen, wer die Sucht der Übermenschen – der Gläubigen im Vollbesitz des Heiligen Geistes – nach totaler Ausrottung des Todes verstanden hat. Tiere bleiben sterblich. Die Kluft zwischen ihnen und todlosen Übermenschen ist unüberbrückbar. Tiere müssen sterben, sie sind nur Naturwesen. Der Mensch aber ist Geist. Geist ist Unsterblichkeit.

BILD stellt die Frage, warum manche Kulturen so fröhlich trauern? (BILD) Die Antwort gibt uns ein Profibestatter:

„Der Tod ist in Deutschland aufgrund der abendländischen Kulturgeschichte, die stark durch das Christentum und den dazugehörigen Sündenfall geprägt ist, negativ besetzt und bis heute ein Tabuthema.“

BILD nimmt keine Stellung, als ob sie nicht wüsste, in welcher Kultur sie ihr Unwesen treibt. Wenn sie das fröhliche Beerdigen so vorbildlich sieht, warum fordert sie ihr Millionenpublikum nicht zur Trennung vom Christentum auf, in dem die Sünde das ganze Leben und den Tod verhagelt?

Beim Tod ist es wie in allen Bereichen. Zuerst prägt der christliche Glaube seine Schäfchen in verheerender Weise und dämonisiert den Tod. Dann merken die Hirten, dass der Wind sich dreht. Über Nacht klagen sie ihre Zeitgenossen an, sie würden den Tod aus dem Leben verdrängen.

Mitten im Leben darf nichts an Alter und Tod erinnern. Kein Hospiz, kein Altersheim in der Nachbarschaft. Selbst Leichenwagen müssen neutral und unscheinbar sein. In Hamburg muss womöglich ein Hospiz wieder schließen, weil Anrainer Klage erhoben haben. (In Hamburg musste auch ein Kindergarten schließen, weil Kinderlärm für Leistungsträger unzumutbar ist.)

Jedes Hospiz in Hamburg hatte bisher Proteste erlebt. „Das sind alles vorgeschobene Gründe. In Wirklichkeit ertragen es die Menschen nicht, den Tod so nah vor der Haustür zu haben“, sagt Martina Kuhn. „Sie haben Angst vor ihrem eigenen Tod und wollen den Gedanken so weit es geht wegschieben. Viele wissen gar nicht, was in einem Hospiz überhaupt passiert.“ (Anne Fromm in der TAZ)

Wir werden erst aufhören, die Natur zu drangsalieren, wenn wir sie zum Zweck der Todlosigkeit nicht unendlich ausschlachten. Der Tod ist die Voraussetzung der unermüdlichen Regenerationskraft der Natur. Wären alle Lebewesen unendlich, gäbe es für sie hienieden nicht mal Stehplätze.

Im Tod kehren wir zur Mutter Natur zurück, die wir nie verlassen haben. Sie erzeugt uns, sie nimmt uns zurück und macht neues Leben aus uns.

Sokrates war von der Wahrheit überzeugt, „dass dem guten Menschen weder im Leben noch im Tode irgendein Übel zustoßen kann.“ Der Tod ist „kein Übel, sondern etwas Gutes: entweder ein Zustand wie ein traumloser Schlaf oder der Zugang zu einem besseren Leben.“