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Probleme lösen oder Erlösung

Hello, Freunde des Moratoriums,

Manjana, morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle modernen Leute.

Morgen werden alle Probleme gelöst. Heute improvisieren wir noch. Wenn Morgen zum Heute geworden ist, gilt dasselbe: Heute wird durchgemogelt, morgen lösen wir alle Probleme. Merkel ist kein Sonderfall, die ganze Welt wurstelt sich zum Jüngsten Gericht.

Morgen werden keine Probleme gelöst. Sonst wäre die Zukunft nicht offen. Die Zukunft muss offen bleiben.

Die Moderne hasst das Problemlösen. Gäbe es keine Probleme, gäbe es keinen Fortschritt, keine Entwicklung der Menschheit. Die moderne Welt lebt vom Lösen der Probleme, die unlösbar sein müssen.

Eine Welt ohne Konflikte und Schwierigkeiten wäre ein zum Stillstand verurteiltes Arkadien. Ein Garten Eden der Satten, Selbstzufriedenen, Selbstgerechten, Selbstgefälligen, Selbstbestimmten und Selbständigen. Sagen wir: der Selbsten.

Selbst heißt autos. Auto-nome Menschen geben sich kraft allgemeiner Vernunft selbst ihre Moral und ihr Gesetz. Heteronome Menschen erhalten ihre Gesetze vom Himmel, Gott, dem Teufel, der Evolution, der Wirtschaft, den Autoritäten, dem Fortschritts- oder dem Wachstumsglauben.

Das erwünschte Gegenteil der Selbsten wären die Heteros: die Fremdgerechten, die Fremdbestimmten, die Fremdgefälligen, die Fremdzufriedenen. Heteros sind Außengelenkte, die sich nicht selbst

bestimmen dürfen.

Will die Moderne autonom oder heteronom sein? Letzteres.

Wie kommt es, dass die Moderne den Ruf der Problemlöserin erhalten hat? Weil sie ihre Probleme löst, indem sie noch größere Probleme schafft. Wie werden technische Probleme gelöst? Durch Technik, die noch mehr Probleme macht. Probleme lösen durch Probleme schaffen, das ist das geniale Motto der Gegenwart, die es bis zu den Sternen weit gebracht hat.

Das Wachstumsprinzip muss in allen Dingen gewahrt bleiben. Kleine, belangslose Probleme, die eigentlich keine sind, müssen zu riesigen Problemen aufgebauscht werden, bis sie durch einen noch riesigeren und naturfeindlicheren Aufwand an Technik gelöst werden können.

Will ich eine mühsame Arbeit vermeiden, konstruiere ich eine Maschine, die ich per Knopfdruck betätigen kann. Irgendwann wird das Drücken der Knöpfe unzumutbar und es müssen neue Maschinen erfunden werden, die durch reine Gedankenkontrolle gesteuert werden. Auch diese Maschinen werden bald unzumutbar sein und müssen durch großartigere ersetzt werden, die die Gedanken der Menschen erahnen und unabhängig von Menschen agieren.

Erst wenn Maschinen auto-nom und Menschen zu hetero-nomen Blinddarmfortsätzen der Maschinen werden, sind alle Probleme so weit gelöst, dass sie in unvergleichlicher Weise unlösbar geworden sind. Dann haben wir den Orgasmus der menschlichen Gattung erreicht: den Untergang der Menschheit. Eros und Thanatos, Liebestod und Todesliebe, Erfüllung und Apokalypse, Höhepunkt und Untergang verschmelzen zur Einheit.

Was ist der Unterschied zwischen Deutschland mit Regierung und Deutschland ohne Regierung? Ohne Regierung geht’s besser, geräuschloser, ehrlicher. Probleme werden nicht gelöst, sondern so verwaltet, dass sie uns garantiert nicht verloren gehen.

Hand aufs Herz, meine Geschwister, war das Moratorium nicht eine wunderbar ehrliche Zeit? Die vorgesehene Regierung ging in Denkklausur, schrieb tiefe Texte über Gerechtigkeit und knutschte sich in den Kaffeepausen. Die Gesellschaft war auf Autopilot. Hat irgendjemand eine Regierung vermisst?

Wir sind erfolgreich zur Maschine mutiert, die Konstanten schnurren, die Variablen werden als Störungen dementiert. Nun kommt wieder eine Regierung und tut, als ob sie regierte, obgleich sie gar nicht daran denkt, zu regieren und die Gesellschaft vollautomatisch weiterschnurren lässt. Wie sollte es anders sein? Wenn die Welt von unveränderlichen Gesetzen bestimmt wird, was gibt’s zu regieren?

In der Wirtschaft regieren Gesetze des Wachstums, in der Wissenschaft Gesetze des Machtwissens, in der Gesellschaft die prästabilierte Harmonie zum Wohlstand aller mit besonderer Berücksichtigung des überragenden Zasters der Alphatiere. Demnächst gibt’s autonome Autos (Autoautos), die nur gelenkte Insassen ertragen (Heteromenschen). Schon lange ist die Weltpolitik auf dem Niveau der Fremdlenkung. In Lutherdeutsch: Gott regiert die Welt, seid untertan dem Himmel und der Obrigkeit.

Wo früher Gott regierte, regiert heute die Maschine. Gott ist zur Maschine geworden. Ohne allmächtige Gottesvorstellung keine Entwicklung einer omnipotenten Technik. Am Anfang war das Wort, das Wort ward Maschine und wohnte unter uns und wir schauten ihre Herrlichkeit.

Womit wir elegant bei der neuen Koalition wären, die so riesig ist, dass von einer nennenswerten Opposition keine Rede sein kann. Weshalb WELT und BILD die vermessene Idee hatten, die Opposition zu spielen und sich zur APO zu erklären, was auf Deutsch Außerparlamentarische Opposition heißt. Ein kleiner Scherz, denn der SPRINGER-Verlag gehört selbst zur GaGRoKO, zur Ganz Großen Koalition und ist nur sauer, dass Merkel ihn nicht als Stimme der Regierung an den Kabinettstisch geladen und stattdessen mit der SPD fremdgeht.

Noch ist die Gesellschaft die Hauptkritikerin der Regierung. Die Vierte Gewalt ist ein Teil der Gesellschaft und ersetzt sie nicht. Solche Absurditäten gibt es in einem Verlag, der seine Emissäre bis nach Silicon Valley schickt, um – ja was eigentlich zu tun? Parlamentarische Demokratie zu lernen? Wollen sie auch dort APO spielen gegen intelligente Supermaschinen, was längst notwendig und überfällig wäre?

BILD bläst sich auf und will stellvertretend (pro nobis) fürs Volk Opposition spielen. Das Volk kann ersatzlos gestrichen werden. Es stört nur. Schließlich haben wir BILD und seinen Luftikus, den feschen Chefredakteur. (Kai Diekmann in BILD)

Nun geht’s los, die neuen MinisterInnen scharren mit den Hufen. Frau Nahles ist erst 40 und schon Ministerin, auf diese Karriere kann sie zu Recht stolz sein. Der Wahlkampf hat sich für ihre private Selbstgefälligkeit voll ausgezahlt. Brigitte Fehrle in der BLZ sieht eine Koalition der Selbstzufriedenen.

Halt, gegen Selbstzufriedenheit wäre nur etwas einzuwenden, wenn es sich um Selbstverblendung handeln würde, die geleistete Arbeit miserabel und der Hochmut eine illusionäre Selbstbelügung wäre. Würden die Erwählten gute Arbeit leisten, wären sie zu Recht mit sich selbst zufrieden.  Man kann sich durchaus auch selbst gefallen, Selbstverachtung und Selbsterniedrigung sind christliche Tugenden. Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht.

Mit ihrer Arbeit dürfen Menschen nicht zufrieden sein und wenn sie herausragend wäre. Zufriedenheit verrät den mangelnden Willen, neue Ziele anzupeilen. Wer sich ausruhen will, ist erledigt. Ich bin nie zufrieden, sagen menschenähnliche Roboter, die ihre neoliberale Lektion gelernt haben. Zufriedenheit mit sich ist Ruhm auf sich selbst, auf das eigene sündige Können.

Was vor der Welt schwach ist, hat Gott erwählt, damit er das Starke zuschanden mache, auf dass sich kein Fleisch vor Gott rühme. Gott will selbst Anfänger und Vollender, Alpha und Omega aller Dinge sein. Da bleibt kein bisschen Stolz auf die eigene gute Arbeit. Wer sich rühmt, der rühme sich des Herren. Paulus ist es, der die moderne Arbeitsethik bis ins Innerste prägt.

Gegenwärtige Arbeit ist in Europa ein verkappter, in Amerika ein offener Gottesdienst. Denn Gott ist es, der das Wollen als auch das Vollbringen wirkt um seines Wohlgefallen willens. Nicht, dass wir von uns selbst aus tüchtig wären, sondern unsere Tüchtigkeit stammt von Gott. Wer auf sich stolz ist und nicht auf seinen Herren im Himmel, der sei verflucht.

Warum ist alles unendlich? Weil es hienieden keine Ruh und keine Rast geben kann. Bunyans Pilger wird erst im Jenseits an seinem Ziel angekommen sein, hienieden ist der Weg nie zu Ende. Auch fromme Amerikaner, die schon hier die Früchte ihrer Erwählung rühmen dürfen – als Früchte des Herrn wohlgemerkt –, kriegen im Diesseits den Rachen nicht voll. Vom Tellerwäscher zum Millionär ist die Reise vom Sündenkrüppel zum Auserwählten, der an der Seite seines Herrn Gericht über den ganzen Abschaum der Welt ausübt.

Frau Fehrle muss keine fromme Frau sein. Es genügt, up to date zu sein, um den rechten Ton der religiösen Welt- und Selbstverächter zu treffen. Nicht zufällig, dass sie der neuen Regierungsriege nichts zutraut. Sind sie doch alle Sünder und ermangeln des Ruhmes.

„Angesichts dieses erfreulichen politischen Tauwetters in Deutschland kommt einem der ritualhafte Satz, große Koalitionen müssen die großen Aufgaben lösen, wie aus der Zeit gefallen vor. Diese große Koalition löst keine der großen Aufgaben.“ (Brigitte Fehrle in der BLZ)

Welche großen Aufgaben? Schon die Absicht, die großen Probleme lösen zu wollen, würde einen Shitstorm wegen Größenwahn verursachen. Was wäre das für eine Welt, die ihre größten Probleme bewältigt hätte? Sie stünde mit einem Bein im Garten Eden, eine entsetzliche Vorstellung für Dauerrenner, Ruhefeinde, Langeweile-Phobiker, Fremdgefällige und Heterostolze.

Was für eine Falle für die Wähler: sie wählen Politiker, die sich – wenigsten ein wenig – den Anschein geben müssen, die Probleme der Welt zu lösen, gleichzeitig aber der Vermessenheit angeklagt werden, ein Paradies auf Erden errichten zu wollen.

Es herrscht eine babylonische Sprachverwirrung im christlichen Westen. Jeder Begriff bedeutet das Gegenteil seiner ursprünglichen Bedeutung. Jeder verbindet mit dem Urbegriff unverträgliche Widersprüche. Sagt der Politiker: wählt uns, wir sind die besten Problemlöser, muss jeder Bürger die Währung automatisch umrechnen: natürlich kann kein Politiker die Probleme der Welt lösen – wozu bräuchten wir den Erlöser, wenn wir selbst imstande wären, unsere Konflikte mit Mensch und Natur zu beheben?

Selbst Probleme lösen und sich erlösen lassen – das reimt sich nicht in Ewigkeit. Eine von der Erlösungsqualität ihres Heilands überzeugte Kultur ist zur Unfähigkeit vorherbestimmt, ihre Sachen selbst ins Reine zu bringen. Sie muss ein Chaos hinterlassen, das nur vom Blut des großen Erlösers gereinigt werden kann. Vor und nach uns die Sintflut, wir sind Nachkommen der Sintflut.

Wie sind die Probleme der Menschheit bislang gelöst worden? Indem Problemlöser erfunden wurden, die noch größere Probleme schufen.

Welch Frohlocken gab es über die Atomenergie. Alle Energieprobleme seien vom Tisch durch wenige Atommeiler. Sauber, machbar und ungefährlich.

Häufen sich die Menschheitsprobleme, kommt mit Sicherheit eine neue Erfindung, die das Ei des Kolumbus verspricht. So beim Internet.

Die Sphäre unbegrenzter Freiheit und Kommunikation zwischen allen Völkern würde auf uns zukommen. Jeder Mensch könne mit jedem vernetzt sein und sich mit allen Menschen austauschen. Kein Diktator könne sich das Netz untertan machen. Die Völker könnten sich mit Hilfe des unbegrenzten Netzes aller Despoten entledigen. Das Internet würde die Demokratie neu erfinden. Der Traum der Menschheitsverbrüderung sei in die Nähe gerückt.

Ausgerechnet dieses Medium ist zum Instrument der effektivsten Überwachung aller Menschen geworden, die die Geschichte bislang erlebt hat. Kein Orwell konnte sich diese Omnipräsenz allmächtiger und allwissender Staats- und Wirtschaftsorgane ausdenken.

Der rapide Umschlag zwischen Utopie und Grauen ist vermutlich die Ursache, warum gerade die junge Generation der Netzbewunderer – man sehe sich die zerrütteten Piraten an – so monadisch gespalten und so unfähig ist, soziale Fähigkeiten zur politischen Willensbildung zu entwickeln. Eine Generation, die von ihren netzunkundigen Eltern im Stich gelassen wurde und den ambivalenten Folgen von Progress und Regress hilflos ausgeliefert war. Jeder Freak sitzt einsam in seiner Kemenate, kennt keinen Menschen persönlich, mit dem er elektronisch verbunden ist.

Wenn Ältere ausgebrannt und überfordert sind, so sind die Jüngeren gemeinschaftsunfähig. Hier wurde eine ganze Generation zum Opfer einer neuen technischen Verheißung, die vom Heil ins blanke Gegenteil umzukippen droht. Die Problemlöser werden selbst zum größten Problem. Ein kleines Problem wird mit gigantesquen Golems so gelöst, dass wir keine Chance mehr haben, uns von ihrer Despotie zu befreien.

Der Atomphysiker C. F. von Weizsäcker: „Das naturwissenschaftliche Wissen umfasst nicht ein Wissen, das ausreichen würde, die Verantwortung für den Weltkreis zu tragen. Die Physiker waren nicht darauf vorbereitet, nun auf einmal politische Entscheidungen treffen zu müssen, die die Phantasie und politische Kraft der Physiker und all derer, die auf diese technischen Möglichkeiten nicht vorbereitet waren, weit übersteigen.“

Max Born, ein anderer Physiker von Weltruhm, hat den Fortschrittsfatalismus als Wesenszug der neueren Kernwissenschaft erkannt: „Diese Männer versinken in ihre Probleme, triumphieren über ihre Lösung, aber grübeln wenig über die Tragweite der Resultate. Und wenn sie das tun, dann mit dem Gefühl. Darauf haben wir ja doch keinen Einfluss. Die Idee, die Forschung aufzugeben, weil sie gefährliche Folgen haben könnte, erscheint ihnen absurd: denn wenn sie aufhörten, wären genügend andere da, sie fortzuführen.“

Verantwortung übernehmen für unlösbare Probleme? Ebenso gut könnte man Verantwortung für die Tatsache übernehmen, dass Wasser aufwärts fließt oder Feuer nicht brennt.

Die Menschheit will keine Probleme lösen. Sie will nicht, weil sie nicht darf. Also werden die Probleme immer größer und führen einen Vernichtungswettlauf mit Problemlösern, die ebenfalls immer gigantischer und unkontrollierbarer werden.

Die Gläubigen kriegen ihre Erlöser-Utopien nicht in den Griff. Ihre messianischen Hoffnungen lösen nicht das Problem, sie wurden längst Teil des Problems. Einst machte Religion sich anheischig, die Menschheit von allen irdischen Problemen zu befreien. Gerade auf religiösem Boden aber wuchsen die Unlösbarkeiten ins Phantastische. Ein christlicher Heiland wollte die Menschheit erlösen. In Wirklichkeit wird er sie vernichten.

Göttliche Erlöser sind Vorformen der utopischen Technik, die alles versprechen, doch nur den Untergang bringen. Der Mensch träumt von der gottebenbildlichen Fähigkeit, die geplagte Gattung von Elend und Schmach zu befreien.

Vom Traum der Erlösung muss er sich befreien, wenn er zur realen Lösung seiner Probleme kommen will. Der Westen befindet sich in einer vollständigen Konfusion der Begriffe. Fast kein Wort, fast kein Satz, die nicht das Gegenteil ihres ursprünglichen Sinnes bedeuteten.

Wenn Worte nicht stimmen, dann ist das Gesagte nicht das Gemeinte.

Wenn das, was gesagt wird, nicht stimmt, dann stimmen die Werke nicht.

Gedeihen die Werke nicht, so verderben Sitten und Künste.

Darum achte man darauf, daß die Worte stimmen.

Wer die öffentlichen Zustände ändern will, muss bei der Sprache anfangen. Wenn China seine Philosophie wiederfände und zum Grundsatz seiner Politik machte, wäre das Land der Mitte das Zentrum der Weisheit.