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Anetta Kahane

Offener Brief an Anetta Kahane

Verehrte Frau Kahane,

kann ich Ihren heiligen Zorn verstehen, der alle Grenzen sprengen will, wenn Deutsche es wagen, die maßlosen Racheaktionen der israelischen Militärmaschine als schreiende Menschenrechtsverletzungen anzuprangern?

Vielleicht werden Sie sagen, kein Deutscher kann einen Juden verstehen. Ich halte dagegen und sage, jeder Mensch kann jeden Menschen verstehen – sofern er ihn verstehen will und das Verstehen lernen konnte.

Verstehen kann man nur, wenn man selbst verstanden wurde. Sind Juden in ihrer langen Geschichte von Nichtjuden verstanden worden? Im christlichen Abendland bestimmt nicht. Alle Christen hassen alle Juden. Das müssen sie, denn ihr Gott fordert es von ihnen. Der Hass auf die Juden gehört zum Glaubensbekenntnis der Christen. Der Antisemitismus gehört zum Kern des christlichen Credos, das Judas in die Hölle verflucht, weil er Gottes‘ Sohn an seine Häscher verraten hat.

Doch Judas musste den Herrn verraten, es blieb ihm keine Wahl. Erst sein Gehorsam gegen Gott konnte den Heilsplan ermöglichen. Es war eine hässliche Tat, die Judas vollbringen musste. Er hätte nur eine Wahl gehabt, wenn er den Gott verflucht hätte, der solch eine Tat von ihm gefordert hat. Ohne fromme Knechtstat des Judas hätte kein Christentum entstehen können. So gesehen müsste Judas einer der ersten Heiligen des christlichen Glaubens sein.

Wenn die Christen schon jemanden brauchen, der am Tode ihres Heilands schuldig sein soll, dann wäre es der Vater des Sohnes, der ihn zum Tod am Kreuz verurteilte, weil er ein stellvertretendes Sühneopfer für seine eigenen

Rachebedürfnisse benötigte.

Was ist das für ein Gott, der am Anfang der Geschichte Menschenopfer forderte, ab Abraham ersatzweise Tieropfer (seitdem wird die unschuldige Tierwelt dem christlichen Fortschritt zum Opfer gebracht), danach musste der Sohn des Schöpfers selbst zum Opfer werden. Allerdings nur zum Schein, denn am dritten Tag soll er auferstanden und bald danach in den Himmel aufgefahren sein, um Allherrscher über das Universum zu werden.

Der Sohn wurde in paradoxer Tat geopfert. Er endete nicht als Verlierer, sondern als strahlender Sieger der Heilsgeschichte. Seine Heilstat entspricht der „Umwertung aller irdischen Werte“ durch die göttliche Paradoxie: wer der Erste unter euch sein will, der sei euer aller Knecht, der sei der Letzte von euch allen.

Anstatt ihren Gott und die Logik seines Heilsplans zu hassen – hätte Gott in seiner Allmacht nicht ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung gehabt, um seine angeblich sündhafte Kreatur zu retten? – wandte sich der Hass der Christen gegen die Juden.

Warum so viel Biblisches? Weil wir den modernen Antisemitismus ohne Rückgriff auf biblische Mythen nicht verstehen können. Sind doch diese Mythen noch immer Glaubensgegenstand vieler Christen rund um den Planeten.

Die modernen Formen des Antisemitismus wie Rassismus oder Neid auf die erfolgreichen Juden in allen Bereichen der Zivilisation sind nichts als mangelhafte Maskeraden des uralten und unveränderlichen Antisemitismus, der im Neuen Testament dogmatisch fixiert wurde. Ohne Analyse der Erlösungsreligionen, ohne klare Religionskritik können wir unsere modernen Probleme weder verstehen noch beheben.

Ich vermute, bis hierher werden Sie sich nicht im Geringsten von mir verstanden fühlen. Denn Religion ist für die meisten Juden der Gegenwart ein Tabu. Sind sie noch religiös, sind sie nicht mehr religiös? Ist Judesein eine biologisch-rassische oder eine religiöse Angelegenheit?

Diese Frage wird heute selten klar beantwortet. Aus Holocaustgründen will jeder Jude mit jedem solidarisch sein, das ist ein wunderbares und beneidenswertes Gefühl der Zusammengehörigkeit. Gleichzeitig glaubt fast jeder Jude sich verpflichtet, auch die jüdische Religion verteidigen zu müssen, auch wenn er sich als glaubensfern betrachtet.

Das halte ich für eine falsch verstandene, ja politisch gefährliche Form der Über-Identität. Wohin diese übermäßige Solidarität führen kann, sieht man am zunehmenden Einfluss der Ultrareligiösen auf die israelische Gesellschaft. Die irreversibel scheinende Hass- und Vertreibungspolitik der Jerusalemer Regierung – von der israelischen Gesellschaft geduldet oder gar gut geheißen – ist das Ergebnis einer kritiklosen Duldung einer so genannten göttlichen Offenbarung in der Bibel, die noch heute zur Legitimation der Landnahmepolitik Netanjahus dient. Sie wird erst dann innehalten, wenn das ursprüngliche Altkanaan in seiner ganzen Ausdehnung offiziell zu Großisrael geworden ist.

Dieser Imperialismus ist nicht weniger völkerverbrecherisch als Putins Heimholung der Krim. Wenn wir uns nicht lächerlich machen wollen, müssen wir die Vorkommnisse der Welt nach gleichen Kriterien beurteilen oder verurteilen. Alles andere wäre Heuchelei.

Spätestens an dieser Stelle werden Sie mich vielleicht – unter der Maske des Verstehens – als besonders hinterlistigen Feind Israels und bösartigen Antisemiten entlarvt haben und womöglich die Lektüre affektiv beenden. Dennoch wäre es besser, Sie würden weiterlesen. Mit meinen Gefühlen, nachdem ich Ihren Kommentar in der BLZ gelesen hatte, möchte ich Sie nicht behelligen.

Warum nur komme ich auf die Idee, dass Sie sich für die Gefühle eines Deutschen nicht die Bohne interessieren würden? Könnte es damit zusammenhängen, dass es nicht den Anhauch eines deutsch-jüdischen Dialogs gibt, somit nicht den geringsten Versuch von beiden Seiten, die andere Seite zu verstehen?

Sie haben richtig gelesen: von beiden Seiten. Die Deutschen verstehen die Juden nicht und wollen sie nicht verstehen, sie müssten denn zuerst ihre eigene Religion verstehen. Die Juden verstehen die Deutschen nicht und wollen sie nicht verstehen, sie müssten denn zuerst ihre eigene Religion verstehen.

Die Deutschen – darunter meine Väter und Vorväter – haben den Juden unendlich viel Leid zugefügt. Dieses Schandmal werden die Deutschen nicht mehr los, solange es Deutsche geben wird. Und dennoch können sie durch Verstehen der väterlichen Schandtaten und striktem Verhindern drohender Wiederholungsgefahren vieles dazu beitragen, dass die heute lebenden Juden und Deutschen so normal zusammenleben können, wie es denn dem beiderseitigen Verständigungswillen möglich ist.

Versöhnung ist nicht möglich, sagen viele Juden, nur praktische Verständigung. Versöhnung ist ein religiöser Begriff. Gibt es keine weltliche Form der Versöhnung?

Die heutigen Generationen der Deutschen haben kein Blut mehr an ihren Händen. Sie weiterhin für die Verbrechen ihrer Väter bis ins dritte und vierte Glied zu bestrafen, ist nicht nur unmoralisch, sondern widerspricht allen Friedenspflichten, die die Völker nach dem Zweiten Weltkrieg sich feierlich auferlegt haben. Darunter Deutschland und Israel.

Das bedeutet, dass beide Länder eine normale Beziehung miteinander haben. Unter Normalität ist zu verstehen, dass kein Land dem andern seine Politik aufoktroyieren darf. Mit militärischen Mitteln schon gar nicht, aber auch nicht mit „moralischen“.

Genau dies geschieht, wenn Israel Deutschland dazu zwingt, seine Verbrechen gegen Menschen- und Völkerrechte zu tolerieren und diese Toleranz als angebliche Sühneleistungen für die Verbrechen des Dritten Reiches zu verstehen. Unter der immerwährenden Drohung, die Nachkommen der NS-Schergen seien noch immer verkappte Antisemiten, werden die deutschen Regierungen zu einem schändlichen Kotau vor der israelischen Unrechtspolitik gezwungen.

Gemach. Zum Zwingen gehören immer zwei, einer, der zwingt und einer, der sich zwingen lässt. Nicht weniger schändlich als die israelische ist die deutsche Politik, die zu feige ist, den angeblich besten Freund unter den Nationen mit deutlicher Kritik daran zu erinnern, dass Menschen- und Völkerrechte zur Verpflichtung jeder Demokratie gehören. Zumal Israel immer so viel Wert darauf legt, die beste Demokratie in Nahost zu sein.

Dieses Selbstbild sollte das junge Land nicht nur innenpolitisch – auch da liegt vieles im Argen, warum ziehen so viele desillusionierte, jugendliche Israelis ausgerechnet nach Berlin? –, sondern auch in den Außenbeziehungen zu ihren Nachbarn, vor allem den schwächsten Nachbarn, nämlich den Palästinensern, in Wort und Tat unter Beweis stellen.

Doch je schlimmer die verstockte Friedensunwilligkeit und die Rachepolitik des Militärs, je größer das rituelle Geschrei der immer Unschuldigen und Perfekten, wie entsetzt und schockiert sie über die schreckliche Reaktion der Welt seien, die seit Schöpfungsbeginn feindlich gegen die Kinder Gottes eingestellt wären. Diese uralte jüdische Paranoia (Avraham Burg), ein Produkt ihres Auserwähltheitsglaubens, ist zur selbsterfüllenden Prophezeiung geworden.

Israel erträgt es nicht, ein gleichgestelltes Volk unter Völkern zu sein. Und wenn es nicht durch vorbildliche Taten hervorstechen kann, muss es sich durch brüskierende Amoralität in den Mittelpunkt der internationalen Politik vordrängen. Wird es für seine gesetzlose Anarchie und Abenteuerei abgelehnt, sind seine Vorurteile gegen die Welt wieder bestätigt. Sie lieben uns nicht und werden uns niemals lieben.

Zum Geliebtwerden gehört, dass man sich liebenswert macht. Solange aber die Ich-Identität der Kinder Israel davon abhängt, dass die Welt sie ablehnt, müssen sie sich prophylaktisch so verhalten, dass die Welt sie ablehnen muss.

In diesen Zusammenhang gehört die Diffamierung des Begriffes Kritik. Alle Kritik – selbst die wohlwollendste – wird unisono als Hass und Antisemitismus verflucht. Das sind perfekte Selbstimmunisierungen, die nur noch blinde Unterwürfigkeit als internationale Anerkennung zulässt. Wer Israel nicht sieht, wie es sich selbst sieht und gesehen werden will, ist ein Judenhasser.

Das zeigt überdeutlich, dass Juden – ich rede nicht von dem Juden, den es nicht gibt, sondern von jenen Juden, die Israel und die internationalen Weltverbände repräsentieren – unfähig sind, die Welt zu verstehen. Auch das hat religiöse Wurzeln. Wer sich aus unerfindlichen Gründen von einem Gott auserwählt fühlt, hat ein schlechtes Gewissen gegenüber seinen vernachlässigten oder grundlos verdammten Mitmenschen. Gleichzeitig muss er den unerforschlichen Ratschluss seines launischen und willkürlichen Gottes mit dem Argument rechtfertigen, Gott werde schon gewusst haben, was er tat. Und also muss Gottes Wahl eine gerechte gewesen sein.

Doch die gerechte Wahl zu überprüfen, könnte ja zum Ergebnis führen, dass Gott ein willkürlicher Tyrann und die eigene Erwählung völlig grundlos ist. Um dieses Debakel einer misslingenden Theodicee (Rechtfertigung Gottes) zu vermeiden, kann kein Jude sich „objektiv“ mit den Gojim beschäftigen. Bei einigen jüdischen Gottesgelehrten sind Gojim auf der Stufe von Tieren und haben es zum Menschsein noch nicht gebracht. Gewiss wird die Majorität der humanen Juden diese Ungeheuerlichkeiten niemals unterschreiben, dennoch fehlt es an einer klaren Verurteilung solch religiöser Verfluchungen, die die Seelen auch vieler säkularer Juden prägen könnten.

Nicht anders als bei vielen Christen, die trotz Aversionen gegen die Kirche noch immer christlich fühlen – ohne dass sie es bemerken. Was daran liegt, dass sie weder von ihrer Religion, noch den Wirkungen derselben auch nur die geringste Ahnung hätten. Ihre aus anderen Quellen stammenden humanen Prinzipien deuten sie fahrlässig in heilige Schriften hinein. Sie beziehen sich auf Schriften, die sie nicht kennen und verfälschen ihre persönlichen Deutungen zu Auslegungen derselben. Diese kollektiven Fälschungsmethoden werden in allen drei Erlösungsreligionen seit Jahrhunderten angewandt.

Frau Kahane, Sie geben vor, genauestens zu wissen, was sich hinter der Israelkritik der Deutschen verbirgt. Woher wissen Sie das? Sind Sie Hellseherin? Nicht einmal Psychoanalytiker, die ihre Patienten schon längere Zeit kennen, sind in der Lage, deren verborgene Triebregungen präzis zu bestimmen. Es bedarf einer sehr genauen Kenntnis eines anderen Menschen, um dessen unbewusste Motivationen zu erahnen, hypothetisch zu vermuten. Mehr ist nicht drin.

Ob diese Vermutungen zutreffen, kann nur der herauskriegen, der sie im Alltag ständig überprüft und mit dieser Überprüfung sein Leben verändern kann. Nicht Motive entscheiden über die Berechtigung einer Kritik, sondern die Sachgemäßheit der Kritik. Schon gar nicht vermutete Motive. Kann es sein, dass Sie nur sehen, was Sie sehen wollen und müssen?

Sie schreiben: „Wer in Deutschland: „Schlachtet die Juden!“ oder „Jude, Jude, feiges Schwein..“ oder „Brenn, Jude!“ lauthals durch die Straßen brüllt, der meint, was er sagt. Ich weiß es, genauso wie ein Schwarzer weiß, wann ihm Rassismus im Auge seines Gegenübers begegnet. Oder ein Moslem, wenn über seine angeblich genetisch bedingten Mängel diskutiert wird.“

Welche Möglichkeit gibt es, diesem unfehlbaren „Ich weiß es“, seine andere Wahrnehmung entgegenzusetzen, ohne Ihr Anathema zu riskieren? Welche Kompetenzen haben Sie, um zu diesem göttlichen Verdammungsurteil zu gelangen? Könnte es damit zusammenhängen, dass Sie eine Opfer-Unfehlbarkeit für sich einfordern? Wissen sie nicht, dass die Grundlagen jeder Vorurteils-Psychologie das Gegenteil besagen? Opfer sind zumeist so traumatisiert, dass ihre Wahrnehmungen zur objektiven Rekonstruktion einer Tathandlung schlechterdings untauglich sind. Das gilt aus achsensymmetrischen Gründen auch für Täter.

Das sind die Gründe, warum ein deutsch-jüdischer Dialog so schwierig ist. Die Täter krümmen sich vor Feigheit, sie könnten noch immer unveränderte Bösewichter sein. Die Opfer sind in der Gefahr, die vermuteten Neutäter zu dämonisieren.

Gewiss, es muss schrecklich in Ihren Ohren klingen, schon wieder die fürchterlichen Sätze zu hören: schlachtet die Juden. Und dennoch müssen alle verständigen Menschen sich darauf besinnen, dass wir nicht in der Nazizeit leben.

Die Deutschen, davon bin ich überzeugt, haben wenig davon verstanden, welche Elemente ihrer Geschichte sie zu den Massakern an den Juden verleitete. Gleichwohl muss auch gesagt werden: sie haben sich bemüht und es zu einer vorzeigbaren Demokratie gebracht. Im Vergleich mit anderen Demokratien – zu denen auch Amerika und Israel gehören – muss sich die deutsche nicht verstecken.

Völlig ausgeschlossen, dass man diese Bemühung der Deutschen nach Belieben negiert und sie pauschal wieder zu menschenfressenden Nazis erklärt, die nichts Besseres zu tun haben, als sich mit antisemitischen Palästinensern zu verbinden, um das Land Israel zu vernichten. Das sind derartige Übertreibungen, dass man nicht weiß, ob man lachen oder heulen soll. Sie werden nach dem alten Motto eingesetzt: Angriff ist die beste Verteidigung.

Das sind nicht nur pauschale Verurteilungen der Deutschen, sondern der ganzen Welt, wie in einem SZ-Artikel von Dieter Graumann nachzulesen ist:

„Wenn die Sirenen heulen, haben Israels Bewohner 15 Sekunden Zeit, sich in Sicherheit zu bringen vor den Raketen der Hamas. Deren Krieg richtet sich gegen die Werte des Westens. Warum sieht das hier keiner? Warum verschließt die Welt die Augen davor?

Was sind das für Pappkameraden, die hier durchlöchert werden? Wer in Deutschland, wenn er noch bei Sinnen ist, verteidigt die fürchterliche Hamas? Allein, die Hamas hätte keine Macht über die Palästinenser, wenn das Volk nicht schon seit Dekaden besetzt, unterdrückt und in schreiender Ungerechtigkeit misshandelt werden würde. Bei einer solchen Übermacht des Gegners, der zudem auf die duckmäuserische Kumpanei des ganzen christlichen Westens rechnen kann, muss jeder Widerstand übermäßig giftig werden.

Das beste Mittel gegen Hamas wäre, halten zu Gnaden, eine friedensstiftende Politik Israels. Wenn Netanjahu aber unverblümt zugibt, dass der Konflikt unlösbar sei, wenn die Palästinenser von ihm als Angehörige einer Todeskultur diffamiert werden – im Gegensatz zur jüdischen Lebenskultur – dann haben wir es wieder mit religiös-rassischen Herren- und Untermenschen zu tun.

Gemach: nicht auf derselben Stufe wie in Nazideutschland. Doch nicht alles, was nicht so verheerend ist wie Naziverbrechen, ist schon eine reine Liebestat. Diese inzwischen lächerlichen Vergleiche dienen nur noch der Selbstimmunisierung einer Regierung, die Menschen- und Völkerrechte für Larifari hält und für sich das Ausnahmerecht in Anspruch nimmt, nach Belieben über die Stränge zu schlagen.

Avigdor Lieberman möchte am liebsten in Gaza „den ganzen Stall ausmisten“. Der Wirtschaftsminister Naftali Bennett verspricht den Hamas-Leuten ein „Ticket in die Hölle“. Peter Münch beschreibt in der SZ den Paradigmenwechsel der israelischen Eliten zu bedingungslosem Hass.

Der Hass der Hamas ist nur die Reaktion auf diesen Vernichtungswillen. Uri Avnery bestätigt, dass „Hamas weithin eine israelische Schöpfung ist.“ Er fordert eine politische Lösung: „Das würde bedeuten: stoppt die Raketen und die Bomben, beendet die israelische Blockade, erlaubt den Menschen im Gazastreifen ein normales Leben zu leben, fördert die palästinensische Einheit unter einer wirklichen Einheitsregierung, führt ernsthafte Friedensverhandlungen, MACHT FRIEDEN.“

Wie hat der jetzige Krieg begonnen? Der Anlass war der Tod dreier jüdischer Jugendlicher. Diese schreckliche Tat wurde von Netanjahu benutzt, um eine noch schrecklichere Sippenstrafe, ja Volksstrafe mit einer erbarmungslosen Militärmaschine zu exekutieren. Wie es wirklich in Gaza aussieht, schildert der SPIEGEL-Bericht von Raniah Salloum.

Kriminelle Taten werden in funktionierenden Demokratien in penibler Arbeit von der Polizei untersucht und vor Gericht geahndet. Mit Verteidigern, Staatsanwälten und Richtern. Wie kommentiert Graumann die Rache Israels?

„Trotzdem wird Israel, der einzige demokratische Staat im Nahen Osten, immer wieder als Aggressor diffamiert. Ja, es wird Israel sogar vorgeworfen, dass es die Menschen, die dort leben, durch sein technologisches Know-how schützen kann. Zum Glück kann es das! Wenn dann im Westen lauthals über die „Proportionalität“ der israelischen Militäraktionen geurteilt wird, sollte man sich einmal in die Lage israelischer Eltern versetzen. Sie müssen täglich mit der Ungewissheit leben, ob sie ihre Kinder überhaupt wiedersehen, die sie morgens zur Schule verabschieden. Was ist proportional zu diesen Ängsten?“

Ängste gibt es nicht nur in Israel. Dort aber gibt es die Möglichkeit, mit schrecklicher Überlegenheit Hassgefühle, die sich als Ängste ausweisen, in kollektiver Gewalt an einer unschuldigen Zivilbevölkerung abzulassen. Wer diese Art der Vergeltung rechtfertigt, verfälscht faschistische Untaten zu vorbildlichen Taten einer Demokratie.

Sie, Frau Kahane, gehen noch einen Schritt weiter als Dieter Graumann. Sie wissen nicht nur, dass hinter den berechtigten Demonstrationen gegen Israels Gräueltaten nichts als Antisemitismus stecken kann, Sie wissen darüber hinaus, dass der Hass auf das Judentum ein Hass auf die gesamte Moderne ist:

„Mit dem Judentum kamen die zehn Gebote, das Gesetz, das den Glauben an Naturgewalten und kollektive Bestrafung ablöste. Es entstand das Gewissen des Einzelnen, die Eigenverantwortung, das Individuum und damit die Voraussetzung für Demokratie und den Kampf um eigene Rechte.“

Eine dreistere Geschichtsfälschung gab‘s nie. Haben Sie schon jemals ein Wörtchen von den Griechen gehört? Kennen Sie den Urkonflikt Athen-Jerusalem? Den Streit zwischen autonomer Vernunft und totalitärer Offenbarung eines Gottes, der jeden Ungehorsam gegen sein Wort mit ewigen Strafen ahndet?

Die Wiege der Demokratie, der Menschen- und Völkerrechte, ist noch immer Athen. Die zehn Gebote sind keine moralischen Tafeln, sondern mit göttlicher Allmacht erpresste Glaubensbekenntnisse. Der biblische Hass gegen die Natur als Reich des Teufels ist die Ursache unserer ökologischen Verwerfungen.

Warum haben die humansten Juden wie die Aufklärer Spinoza, Moses Mendelssohn oder Neukantianer Hermann Cohen im Streit zwischen Athen und Jerusalem sich an Athen gehalten und die Rachereligion des Alten Testaments mit Hilfe der säkularen Vernunft humanisiert?

Judentum und Christentum, sonst verfeindet bis über alle Ohren, haben sich seit Kriegsende verbündet, um alles Demokratische und Menschenrechtliche – das sie seit Jahrhunderten bekämpfen – als Früchte ihres totalitären Glaubens auszuweisen. Gegen diese Geschichtsfälschungen sind alle Umschreibungen des Wahrheitsministeriums in 1984 belanglose Harmlosigkeiten.

Immer, wenn Israel sich über alle Menschenrechte hinwegsetzt und es in Deutschland zu Demonstrationen gegen das Land kommt, erleben wir dasselbe Ritual der etablierten, vor Israel auf dem Bauch liegenden Presse. (Das unter dem Deckmantel des Philosemitismus agierende antisemitische Hetzblatt BILD bringt jedes israelische Opfer in Riesenlettern auf der ersten Seite. Die 100-fach größere Anzahl der palästinensischen Opfer wird kaum erwähnt. Merke: es gibt Opfer de luxe und Opfer der zu ignorierenden Art.)

Die Jugendlichen, die sich noch nicht alle Vorstellungen von Recht und Demokratie auf dem Altar der deutschen Staatsraison haben herausoperieren lassen, werden von den Medien schärfstens in die Mangel genommen. Gewiss, die Jugendlichen übertreiben und müssen kritisiert werden.

Doch warum übertreiben sie? Weil die Mitte der Gesellschaft mit ihren vor Angst schlotternden Medien vor Heuchelei nicht aus den Augen schauen kann. Ihren Selbsthass wegen mangelnder Courage vor ihren Freunden projizieren sie ungeniert auf die Jugendlichen, deren Übertreibungen es nur gibt, weil die tonangebenden Eliten gegenüber Israel gänzlich versagen. Die kleinen, überhitzten Ehrlichen schlägt man, die Großen und Cleveren lassen sich gegenseitig laufen. Jeder Organismus erzeugt seine Krankheitssymptome an den schwächsten Stellen.

Die Medien haben sich auf die Tonart festgelegt: unlösbares Problem in Nahost. Bei unlösbaren Problemen werden wir nicht schuldig, wenn wir in „Demut“ dem Massaker zuschauen und unsere Hände in Unschuld waschen können. So ein im Zweifel linker Kommentator im SPIEGEL:

„Das Drama um die mögliche Entführung dieser drei Jungen und was die israelische Regierung daraus macht, ist ein neuerliches Zeichen: Es ist Zeit zum Rückzug. Wer Israel und Palästina helfen will, sollte sich abwenden.“

Verehrte Frau Kahane, Ihr Kommentar ist maßlos. Aus dem Holocaust haben Sie die falschen Schlüsse gezogen.

Mit freundlichen Grüßen   Fritz Gebhardt