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Dekadenz

Hello, Freunde der Dekadenz,

Rom ging durch Christentum und Dekadenz unter, sagte Gibbon, der englische Historiker der Aufklärung. Wird Amerika durch Dekadenz und Christentum untergehen?

Was würde das für den Westen bedeuten, wenn sein Schlachtschiff unterginge? Würde es widerstandlos untergehen wie das sowjetische Imperium? Würde es nicht versuchen, möglichst viel von der antiamerikanisch verseuchten Welt mit in den Untergang zu reißen?

Könnte das unchristliche China tatsächlich die Rolle der USA einnehmen oder müsste mit dem Niedergang von Gods own country nicht das Ende der Welt mit einem atomaren Inferno eingeläutet werden?

Der christliche Westen ist auf absoluten Sieg oder absolute Katastrophe geeicht. Genauer, auf Sieg & Katastrophe oder auf Niederlage ohne „Sieg & Katastrophe“. Die globale Katastrophe ist nämlich Kern des finalen Siegs, der das ALTE vernichten muss, um das NEUE zu erwarten.

Die wirkliche und wahre Katastrophe als wirkliche und wahre Niederlage wäre der Abgang des Christentums aus dem Bereich relevanter Weltmächte ohne Sieg & Katastrophe. Der Glaube, der die Welt von Anfang bis zum Ende bestimmen wollte, hätte sich endgültig als Illusion erwiesen, die wie eine ungeheure Seifenblase platzen würde. Am Anfang war das Wort, am Ende die Desillusionierung, die

den weltüberwindenden Glauben als jahrtausendealte Fata Morgana entlarvt hätte.

Das endgültige Schicksal des Glaubens entscheidet sich im empirischen Schauen. Nicht des erhofften Reiches Gottes, sondern des geschändeten Reiches des Menschen inmitten des Reiches der Natur.

Im empirischen Schauen der Weltentrümmer, die eine Machtphantasmagorie, die sich als Offenbarung deklarierte, einer traumatisierten Menschheit hinterließe, die mehrere Epochen der Rekonvaleszenz benötigte, um sich nüchtern und ohne transzendente Flausen endlich an der Natur und nur an der Natur zu orientieren.

Dekadenz ist Fall und setzt eine bestimmte Fallhöhe voraus. Eine kulturelle Fallhöhe? Eine machtgestützte Fallhöhe? Mächte können vergehen. Können Kulturen vergehen, indem sie zusammenfallen?

Ein Organismus kann durch Krankheit verfallen und sterben. Krankheiten können zweierlei Ursachen haben: a) natürliche und b) psychische, also selbstfabrizierte. Scheiden natürliche Ursachen aus, sodass der Mensch als schuldlos gelten kann, bleiben nur jene selbstgemachten Ursachen, für die der Mensch zuständig ist.

Unglückliche, unterdrückte und ausgebeutete Menschen werden eher krank als glückliche, freie und zufriedene Menschen. Krankheit und Gesundheit sind abhängige Variablen des menschlichen Glücks oder Unglücks. In Kulturen mit höchst unterschiedlichen reichen und armen Klassen werden die reichen sehr alt, die armen müssen froh sein, wenn sie als Kinder nicht nach der Geburt verhungern.

Ist krank gleich dekadent, gesund gleich aufsteigend und siegreich? Ist siegreich überhaupt die Alternative zu dekadent? Oder gibt es nur aufsteigende und niedergehende Kulturen?

Gibbon spricht von decline and fall, Verfall und Untergang. Die logische Alternative erspart er sich im Titel. Oswald Spengler vertritt in seinem außerordentlich erfolgreichen Werk „Der Untergang des Abendlandes“ eine Zyklentheorie. Kulturen entstehen, blühen auf und vergehen. Geschichte ist wie Natur.

Vermutlich hat Spengler sich von der griechischen Zyklentheorie und von Nietzsches Wiederkehr des Gleichen inspirieren lassen. Die lineare Heilsgeschichte des Christentums sollte überwunden werden.

Doch ist es sinnvoll, das zyklische Naturgeschehen als Aufstieg und Fall der Blumen und Gewächse zu bezeichnen? Wenn Pflanzen nicht durch Naturereignisse – Vulkanausbruch, Klimaveränderung – ausgerottet werden, kehren sie regelmäßig wieder. Ihr individuelles Werden und Vergehen ist nicht identisch mit Werden und Vergehen ihrer Gattung. Sie bleiben konstant.

Gibt es konstante Menschenkulturen wie es eine konstante Fauna und Flora gibt? Gibt es: die Kulturen der Naturvölker, der Eingeborenen und Wilden.

Als Europa durch Entdeckung der neuen Welt auf eine unübersehbare Zahl „wilder Naturvölker“ stieß, musste sie anfänglich die Überlegenheit ihrer christlichen Geistkulturen durch Abwertung der Wilden stabilisieren. Alles Natürliche war wild, grausam, unzivilisiert, geist- und kulturlos. Im schrecklichen Naturzustand war jeder Mensch dem Menschen ein Wolf – homo homini lupus.

Hobbes versetzte diesen rohen Naturzustand an den Anfang der Menschheit, den sie im Verlauf der fortschrittlichen Kultur verlassen hatte. Die Kultur der beginnenden Neuzeit war ein immerwährender Aufstieg. Hobbes, der ein Kritiker des Christentums war (wenn auch kein öffentlicher), widersprach mit seinem schrecklichen Ursprungsmythos dem christlichen Ursprung der Geschichte: dem Paradies.

Der christliche Geschichtsverlauf ist primäre Vollendung mit sekundärem Sünden-Fall und tertiärem Fortschritt bis ans triumphale Ende der Geschichte mit Wiederkehr des Messias.

Es wird noch komplizierter. Den Fortschritt muss man glauben, er zeigt sich nicht in irdisch zunehmender Perfektion. Gott hat kein Interesse an irdischen Reformen der sündig verseuchten Welt. Er macht nur ganze Sachen. Sein Sohn muss die Hauptrepräsentanten der sündigen Welt, identisch mit der Natur: Tod und Teufel, am Kreuz besiegen.

Tod und Teufel müssen sterben. Zwar nicht auf der Stelle, doch am Ende der Geschichte. Dann wird Schluss sein mit der Natur. Am Ende entstehen ein neuer Himmel und eine neue Erde.

Der christliche Geschichtsverlauf hat einen perfekten Anfang und ein perfektes Ende, dazwischen liegt die vom Teufel verursachte Dekadenz, die sich in ihrer Verkommenheit nicht halten kann.

Ist die Heilsgeschichte das Gegenteil einer pessimistischen Dekadenztheorie?

Hier muss man fragen: unter welchem Vorzeichen? Unter dem der Geschichtsgewinner, die die ewige Seligkeit erringen werden – oder unter dem der Geschichtsverlierer, die als Bösewichter ewig in die Hölle fahren? Für die ersteren ist Heilsgeschichte eine finale Aufstiegs- und Erfolgsgeschichte, für die zweiten eine irreversibler Untergang. Die Heilsgeschichte ist ambivalent (zweiwertig), sie ist zugleich eine Unheilsgeschichte.

Fügt man den quantitativen Aspekt hinzu, müsste man von einer überwiegenden Unheilsgeschichte sprechen. Denn die Majorität der Menschheit wandert ins ewige Verderben. Nur eine Nano-Minderheit darf die Pforten des Himmels passieren. Quantitativ gesehen, ist die Heilsgeschichte des Schöpfers ein flagranter Misserfolg: die riesige Mehrheit seiner angeblich geliebten Kreaturen verliert der gütige Vater auf ewig an seinen Widersacher.

Jede Untersuchung der Heilsgeschichte durch die strengen Vertreter der McKinsey-Betriebsprüfer müsste zum Ergebnis kommen: halten zu Gnaden, deine Schöpfungsgeschichte, oh Herr, war ein Flop. Wir zaudern, ob wir dir eine zweite Chance einräumen sollen. Bei dir fehlt jede selbstkritische Fehleranalyse. Alle Schuld schiebst du penetrant deinen Untergebenen oder selbsterfundenen Dämonen in die Schuhe. Das kann nicht dein Ernst sein. Dein Führungsstil ist unter aller Kanone. Dein psychologisches Profil entspricht einem launischen und unberechenbaren Berserker aus germanischen Urwäldern. Wenn Du dich nicht grundsätzlich änderst, gibt’s keine zweite Start-up-Chance für dich. Auch Götter müssen Grundkenntnisse in Buchhaltung und Menschenführung nachweisen. Im Vergleich mit Dir sind neoliberale Chaoten geradezu berechenbare Pfennigfuchser.

Die anfängliche Reaktion der Neuzeit auf die Entdeckung der Naturvölker war deren Deklassierung. Die christliche Kultur empfand sich als linearer Aufstieg und Überwindung der unberührten Natur, die peu à peu zerstört werden musste, um die „zweite oder messianische Natur“ an ihre Stelle zu setzen.

Hier müssen wir über die Aufklärung sprechen, die einen irreversiblen Aufstieg in ein vollendetes Reich der Humanität propagierte: a) durch technischen und b) durch moralischen Fortschritt. Leider ging im Verlauf der Ereignisse der moralische Fortschritt verloren. Es blieb der Fortschritt allein durch Naturwissenschaft und Technik.

Der moralische Fortschritt würde sich als kollaterales Nebenprodukt des technischen von selbst einstellen. Eine gesonderte moralische Anstrengung der Menschen wäre überflüssig. Davon waren die Aufklärer überzeugt.

Das war der Irrweg, auf dem wir uns heute befinden. Silicon Valley wurde zum Mekka des Fortschritts ins Unendliche allein durch Maschinen.

Sola machina ist die Erbin des lutherischen sola gratia (allein durch Gnade). Sola scriptura (allein durch die Schrift) wurde ersetzt durch den Glauben an die Allmacht des Algorithmus. Sola fide (allein durch Glauben) wurde ersetzt durch die Zuversicht in die Erlösung durch IQ-Maschinen, die den Menschen schon heute übertreffen und ihn bald überflüssig machen werden.

Der Mensch ist gerade dabei, den Kardinalfehler seines Schöpfers zu wiederholen. Er konstruiert Maschinengeschöpfe, von denen er hofft, dass sie ihn übertreffen. Das werden sie mit Sicherheit nicht tun. Also werden sie von ihren Kreatoren im ersten fürchterlichen Zorn vernichtet und auf den Müllhaufen geworfen werden: Sündenfall zum zweiten.

Jeder Freund der Aufklärung kann nicht umhin, kühl zu konstatieren, dass die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts nicht frei von theologischen Allmachtsträumen war. Einen Automatismus in der Geschichte gibt es nicht. Weder einen positiven noch einen negativen. Was der Mensch nicht tut, bleibt ungetan.

Der Mensch ist ein fehlbares Wesen, das aus Irrungen und Wirrungen lernen kann, in mühseligem Fort- und Rückschritt aber auch lernen muss. Garantien gibt’s weder für Pessimisten noch für Optimisten.

Wir müssen die europäische Aufklärung aus ihren theologischen Verstrickungen befreien und sie der Nüchternheit des autonomen Menschen zurückgeben. Keine Geschichte kommt uns zustimmend oder ablehnend entgegen. Denn eine Geschichte gibt es nicht.

Man könnte auch sagen: wir müssen die Aufklärung über sich selbst aufklären. Nicht im Sinne hinterlistiger deutscher Romantiker, die die Aufklärung über sich aufklären wollten, indem sie sie in die Fänge des Glaubens zurücktrieben.

Das Zurücktreiben in den Pferch der Glaubenslämmer ist die Lieblingsbeschäftigung so genannter aufgeklärter Theologen der Gegenwart – wie Huber und Ratzinger. Ohne schamrot zu werden, verwandeln sie das Wehen des Geistes in Vernunft, die Originalwindeln des Herrn in medizinisch anerkannte Gichtmittel, den Glauben an ihre Erwähltheit in ein unfehlbares Placebo.

Die anfängliche Deklassierung des Wilden und Natürlichen konnte sich nicht durchhalten, je mehr die Aufklärung als Zuversicht in die irdische Welt oder in die Natur an Boden gewann. Rousseau stellte die Entwertung der Natur auf den Kopf und forderte in ungeheurer Kühnheit die Rückkehr zur unvergleichlichen Natur.

Es war ein Donnerschlag für ganz Europa. Selbst Kant, der als Naturverächter begonnen hatte, musste bekennen: Rousseau habe ihn zurechtgebracht.

Obgleich der Genfer sich zu den französischen Aufklärern zählte, war er zugleich ein Widersacher des aufgeklärten Fortschrittsglaubens ins immer Bessere. Der Gang der Menschheit war kein Aufgang in eine humane Kultur, im Gegenteil, sie war ein unablässiger Verfall, ein ständiger Niedergang ins Verdorbene, Heuchlerische und Unmenschliche.

Der Wilde wurde zum edlen Wilden, zum vorbildlichen Urmenschen. Die Kultur der Wilden war unbefleckt von menschlicher Korruption und avancierte zum Vorbild degenerierter Völker.

Voltaire und Rousseau: beide einig in der Selbstverpflichtung der Aufklärer, die Nationen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien, doch beide uneins, wohin die Reise der lichten Vernunft gehen sollte. Durch Fortschritt in eine immer bessere Kultur? Oder durch Rückkehr zur allgebärenden Mutter Natur?

War die bisherige Entfernung von der Natur ein segensreicher Fortschritt oder eine verhängnisvolle Dekadenz?

Womit wir in der Gegenwart angekommen wären. Die Deutschen sind eher naturliebende Rousseauisten, die Franzosen eher kulturstolze Voltaireianer. Die Ökobewegung setzt auf retour à l’origine und steht dennoch unter dem Zwang, die technische und wirtschaftliche Weiterentwicklung nicht zu vernachlässigen.

Lassen sich diese beiden konträren Aufgaben verbinden? Oder müssten die Grünen radikal fordern: wir müssen kompromisslos zurück zur Natur? Ein „grünes Wirtschaftswachstum“ mit immer neuen Maschinen sei Gift für die notwendige ökologische Wende?

Die Aufklärung hat ein Doppelgesicht bekommen. Es schaut nach vorn in ein Paradies der Maschinen und eines naturfeindlichen Geistes und es schaut zurück in das Paradies der heilen Natur, unter deren Gesetze sich der verständige Mensch mit Freuden beugt.

Muss der westliche Mensch von seinem hohen Ross der Kultur und Zivilisation heruntersteigen und sich die glücklichen Wilden zum Vorbild nehmen, deren Geschichte keinen Fortschritt, aber auch keinen drohenden Untergang kennt? Oder kommen die Wilden, sofern sie überleben wollen, nicht daran vorbei, sich der imperialen Zivilisation zu unterwerfen?

Jede Geschichtstheorie ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. An welchen Geschichtsverlauf ich glaube, an dem werde ich mich festklammern und versuchen, ihn in die Realität umzusetzen.

An diesem Punkt wird’s zappenduster. Es gibt keine Geschichtstheorie, die nicht von jemandem für richtig gehalten würde. Hier die Fortschrittler, die nur nach vorne blicken, dort die „Dekadenten“, die zum Ursprung zurückwollen. Hier die Heilsgeschichtler, die ebenfalls nach vorne wollen, aus ganz anderen Gründen aber als die Säkularen: sie warten auf das Pochen ihres Bräutigams an der Tür. Sie glauben an das Ende der Natur, das sie in vorauseilendem Gehorsam verwirklichen müssen. Dort die Ökologen, die alles unternehmen, um die Natur zu retten.

Fromme Ökologen müssen beide konträre Richtungen in sich verbinden, was sie in Deutschland fast handelsunfähig macht. Diese Widersprüchlichkeit ist die Hauptursache der ökologischen Kraftlosigkeit. Amerikanische Biblizisten wollen die Natur vernichten, um ihren Messias herbeizunötigen. Deutsche Christen wollen die „Schöpfung bewahren“, da sie ökologisches Handeln für den besten Gottesdienst halten.

Das ist ein Tohuwabohu, das sich erst klären ließe, wenn Gesellschaft und Politik vom Immer-reicher-werden-müssen Abstand nähmen und sich darauf besönnen, von welch widersprüchlichen Motivationen sie getrieben werden.

Warum sind die Naturvölker nicht von Dekadenz bedroht? Weil sie nicht von multiplen Widersprüchen erdrosselt werden. Sie sind eindeutig und mit sich identisch. Dekadenz ist Widerspruch mit sich selbst.

Das Geschäft der Vernunft wäre es, diese Widersprüche aufzudecken und der Moderne zur Einmütigkeit zu verhelfen. Einmütigkeit ist keine totalitäre Uniformität, kein vorgeschriebener Einheitsbrei, sondern das Ergebnis eines demokratischen Debattenprozesses, der die Widersprüche ins Bewusstsein höbe und dem Denken der Menschen zur Verfügung stellte.

Dekadenz gibt es nur, wenn der Mensch sich in exaltierte Höhen seines Menschseins erheben will, die der Natur widersprechen und ihn – im Gegenreflex – in Tiefen stürzen, die sein Überleben bedrohen.

Jenseits von trügerischen Höheflügen und unvermeidlichen Abstürzen wird der Mensch erst zur ruhigen Dauerexistenz in der Natur gelangen, wenn er seine Kultur mit der Erde, seinen Geist mit der Natur in Übereinstimmung bringen wird.