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Alles hat keine Zeit XCVI

Tagesmail vom 26.03.2021

Alles hat keine Zeit XCVI,

Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa. (aus dem 11. Jahrhundert)

Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern. (Vaterunser)

„Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler. Denn am Ende trage ich für alles die letzte Verantwortung. Qua Amt ist das so. Das bedauere ich zutiefst und dafür bitte ich die Bürgerinnen und Bürger um Verzeihung.“

„Die Idee eines Ostershutdowns sei „mit bester Absicht entstanden“, ergänzte sie. Dennoch sei sie ein Fehler gewesen. „Sie hatte ihre guten Gründe, war in der Kürze der Zeit aber nicht gut genug umsetzbar. Wenn sie überhaupt irgendwann so umsetzbar ist, dass Aufwand und Nutzen in einem angemessenen Verhältnis stehen.“ (FAZ.NET)

Oster-Shutdown? Widerspruch im Beiwort. Ostern steht für Auferstehung, Shutdown für das Gegenteil: herunterfahren, niederfahren. Heiliger Konfuzius, wenn schon die Grundbegriffe nicht stimmen!

„… gelitten unter Pontio Pilato, gekreuziget, gestorben und begraben, niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel.“

Wo sind wir, wo stehen wir? Immer schneller drehen sich die Dinge – und nichts bewegt sich? Wird Deutschland zu einem lutherischen Gottesdienst, zu einer katholischen Messe mit Reue, Beichte, Buße und Vergebung?

„Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. Wie heiter konnte jedermann sein irdisches Tagewerk vollbringen, da ihm durch diese heilige Menschen eine sichere Zukunft bereitet, und jeder Fehltritt durch sie vergeben, jede mißfarbige Stelle des Lebens durch sie ausgelöscht, und geklärt wurde. Sie waren die erfahrnen Steuerleute auf dem großen unbekannten Meere, in deren Obhut man alle Stürme geringschätzen, und zuversichtlich auf eine sichre Gelangung und Landung an der Küste der eigentlichen vaterländischen Welt rechnen durfte. Die wildesten, gefräßigsten Neigungen mußten der Ehrfurcht und dem Gehorsam gegen ihre Worte weichen. Friede ging von ihnen aus. – Sie predigten nichts als Liebe zu der heiligen, wunderschönen Frau der Christenheit, die mit göttlichen Kräften versehen, jeden Gläubigen aus den schrecklichsten Gefahren zu retten bereit war. Sie erzählten von längst verstorbenen himmlischen Menschen, die durch Anhänglichkeit und Treue an jene selige Mutter und ihr himmlisches, freundliches Kind, die Versuchung der irdischen Welt bestanden, zu göttlichen Ehren gelangt und nun schützende, wohlthätige Mächte ihrer lebenden Brüder, willige Helfer in der Noth, Vertreter menschlicher Gebrechen und wirksame Freunde der Menschheit am himmlischen Throne geworden waren. Wie wohlthätig, wie angemessen, der innern Natur der Menschen, diese Regierung, diese Einrichtung war, zeigte das gewaltige Emporstreben, aller andern menschlichen Kräfte, die harmonische Entwicklung aller Anlagen; die ungeheure Höhe, die einzelne Menschen in allen Fächern der Wissenschaften des Lebens und der Künste erreichten und der überall blühende Handelsverkehr mit geistigen und irdischen Waaren, in dem Umkreis von Europa und bis in das fernste Indien hinaus.“ (Novalis, Die Christenheit oder Europa, 1799)

Heute gehen die Warenströme weit über das ferne Indien hinaus bis nach China – unter der milden Ägide einer seligen Mutter, in der alle menschlichen Kräfte der Deutschen gewaltig emporstrebten zur Höhe einer weltmeisterlichen Exportnation.

Freilich, inzwischen nicht mehr unerreicht in der Welt. Jenseits über dem Meer, im Neuen Kanaan, stehen Golems kurz vor der Unsterblichkeit, rüsten sich Wagemutige, das Weltall zu erobern. Da konnten sie nur staunen, die Zurückgebliebenen im alten Europa. Zeigten sich, bei näherem Hinsehen, nicht schon viele Risse, ja, krankhafte Flecken und eitrige Schadstellen im zerrütteten, ja vermoderten Heimatland der Deutschen?

Nur Geduld, ihr Lieben. Dennoch wird es, dennoch muss es werden: die Deutschen, als Anführer Europas, werden es der Welt zeigen:

„Soll der Protestantismus nicht endlich aufhören und einer neuen, dauerhafteren Kirche Platz machen? Die andern Welttheile warten auf Europas Versöhnung und Auferstehung, um sich anzuschließen und Mitbürger des Himmelreichs zu werden. Sollte es nicht in Europa bald eine Menge wahrhaft heiliger Gemüther wieder geben, sollten nicht alle wahrhafte Religionsverwandte voll Sehnsucht werden, den Himmel auf Erden zu erblicken? und gern zusammentreten und heilige Chöre anstimmen? Die Christenheit muß wieder lebendig und wirksam werden, und sich wieder ein[e] sichtbare Kirche ohne Rücksicht auf Landesgränzen bilden, die alle nach dem Ueberirdischen durstige Seelen in ihren Schooß aufnimmt und gern Vermittlerin, der alten und neuen Welt wird. Sie muß das alte Füllhorn des Seegens wieder über die Völker ausgießen. Aus dem heiligen Schooße eines ehrwürdigen europäischen Consiliums wird die Christenheit aufstehn, und das Geschäft der Religionserweckung, nach einem allumfassenden, göttlichen Plane betrieben werden. Keiner wird dann mehr protestiren gegen christlichen und weltlichen Zwang, denn das Wesen der Kirche wird ächte Freiheit seyn, und alle nöthigen Reformen werden unter der Leitung derselben, als friedliche und förmliche Staatsprozesse betrieben werden. Wann und wann eher? darnach ist nicht zu fragen. Nur Geduld, sie wird, sie muß kommen die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt seyn wird; und bis dahin seyd heiter und muthig in den Gefahren der Zeit, Genossen meines Glaubens, verkündigt mit Wort und That das göttliche Evangelium, und bleibt dem wahrhaften, unendlichen Glauben treu bis in den Tod.“ (ebenda)

Auf dem Pilgerpfad zum allumfassenden göttlichen Plan hat die liebe Mutter den nächsten Schritt getan: vor ihrem ganzen Volk hat sie ihre Sündhaftigkeit bekannt, reumütig ihre Unvollkommenheit gestanden:

„Das bedauere ich zutiefst und dafür bitte ich die Bürgerinnen und Bürger um Verzeihung.“ Die Idee eines Ostershutdowns sei „mit bester Absicht entstanden“, ergänzte sie. Dennoch sei sie ein Fehler gewesen. „Sie hatte ihre guten Gründe, war in der Kürze der Zeit aber nicht gut genug umsetzbar. Wenn sie überhaupt irgendwann so umsetzbar ist, dass Aufwand und Nutzen in einem angemessenen Verhältnis stehen.“

Das Volk, erstaunt und irritiert über ungewöhnliche Töne, wusste nicht, was es denken sollte. Solches gab es noch nie. War das die Fortsetzung ihres unerklärten Zitterns, das Eingeständnis der Schwäche kurz vor ihrem Amtsende? War das die List einer machtloser werdenden Kanzlerin, die einst die mächtigste Frau der Welt war – sich in ihren letzten Tagen eine perfekte Immunität zu verschaffen durch Sündengeständnis und Flehen um Verzeihung?

Vergebung? Nein. Vergeben kann nur Gott, der gebeten sein will, seinen Zorn in Gnade zu verwandeln: Herr, sei einer Sünderin gnädig, die Dein Erbarmen nicht verdient hat. Aus der Tiefe, Herr, schrei ich zu Dir, erhöre mein Flehen. Doch zuerst lass mich hingehen, damit ich mit meinem Volk ins Reine komme. Und siehe, das Volk zeigte sich wohlgesonnen. Solch eine öffentliche Beichte ist in deutschen Landen wie ein Wunder, das in die Geschichte eingehen wird. Amerikaner leben für die Zukunft, Deutsche für die Geschichte, die ihre Verdienste in goldenen Lettern bewahren soll. Eine Gegenwart, in der sich leben lässt, kennt die Moderne nicht.

Die Völker hatten der Deutschen bereits gespottet. Was ist los mit den Germans, die eben noch so perfekt schienen? Hat eine Tarantel der Überheblichkeit sie gestochen? Waren sie ihrer Sache wieder einmal so sicher, dass niemand ihnen gleich kommen könnte?

Hochmut kommt vor dem Fall! Lebten sie nicht schon lange in der Selbsttäuschung, niemand in der Welt käme ihnen gleich? Fielen sie nicht immer mehr zurück in die Sünden ihres bornierten Reglementierens – unter schwindenden Fähigkeiten ihrer Tüchtigkeit, ja ihres technischen Genies und ihrer gnadenlosen Perfektion? Waren sie verwöhnt durch ihre Erfolge? Durch ihr neues Leben aus Herstellen, Machen und die Welt mit Dingen überschwemmen? Waren sie wirklich davon überzeugt, sie hätten ihr altes Leben – das in schrecklichen Verbrechen endete – bewältigt, verstanden, erklärt und ad acta gelegt?

Ralph Brinkhaus, Parteikollege der Kanzlerin, hatte vom Staub der letzten 200 Jahre gesprochen, den Deutschland endlich abschütteln sollte. Kann Brinkhaus nicht unterscheiden zwischen Sand und Strömen von Blut? Wollen die Deutschen ihre Geschichte bewältigen, indem sie deren Schrecken verharmlosen?

Wo sind die üblichen Wächter gegen Antisemitismus, die sonst jede Mücke seihen, aber die Elefanten schlucken? Was für ein Aufstand gegen den Ausdruck „der ewige Netanjahu“, weil die Schergen einst vom ewigen Juden sprachen. In bloßen Wortwiederholungen versteckt sich kein Grauen. Und wenn doch – da er potentiell sich überall einnisten könnte –, in solch geringen Dosen, dass es besser wäre, die tatsächlichen Ursachen zu untersuchen: die religiöse Pandemie der Deutschen. Diese Ursachen drängen sich vor aller Augen, um sich unsichtbar zu machen. Der Teufel ist ein Tausendkünstiger.

Hat die Kanzlerin sich für ihr Versagen entschuldigt, die deutschen Beziehungen zu Israel sträflich in Unklarheit zu lassen? Für ihre Unfähigkeit , Hass zu unterscheiden von notwendiger Kritik einer menschenrechtsverletzenden Politik der Regierung?

„Es ist so ungeheuer banal, dennoch muss man es ständig wiederholen: Nicht jeder, der Israel kritisiert, ist ein Antisemit, und es gibt wahrlich gute Gründe, Israel für seine Besatzungspolitik zu kritisieren. Am schmerzlichsten und drängendsten ist dieses Thema naturgemäß für Juden, gerade weil von einem erfolgreichen und sicheren Israel für sie auch persönlich so viel abhängt. In den letzten Jahren hat sich – wie in den erwähnten anderen Zusammenhängen – auch hier quasireligiöses Eiferertum breit gemacht: Eine lange zurückliegende oder bloß angedichtete Sympathieerklärung für BDS reicht aus, um Menschen als „Antisemiten“ und „Israelhasser“ zu verunglimpfen und ihre Diskussionsbeiträge zu delegitimieren. In den allermeisten Fällen handelt es sich dabei allerdings um Netanjahu-kritische Juden, die nun von guten deutschen Antisemitismus-Bekämpfern mithilfe der BDS-Resolution des Bundestags am Sprechen gehindert werden sollen. Ich habe mit guten Freunden schon heftig darüber diskutiert – einige sind der Meinung, hier hätten sich nicht jüdische Deutsche herauszuhalten. Und hier kommen wir zu Susan Neiman. Die weltweit anerkannte deutschamerikanisch-jüdische Philosophin (sie war unter anderem Professorin an den Universitäten von Yale und Tel Aviv) und Direktorin des Einstein-Forums in Potsdam ist aus eigener Anschauung eine Kritikerin von Israels Besatzungspolitik – genau wie viele andere prominente Juden auch (allen voran die in Deutschland innig verehrten israelischen Schriftsteller David Grossman, Etgar Keret, Assaf Gavron sowie der verstorbene Amos Oz). Nach meinem Verständnis sollten Sie gegen die brutalen, lebensgefährlichen Manifestationen des Antisemitismus in Deutschland heute (Stichworte: Hass und Gewaltaufrufe im Netz, die fortgesetzte Schändung des Andenkens der ermordeten Juden auf den Querdenker-Demonstrationen) vorgehen und nicht gegen eine verdiente jüdische Geisteswissenschaftlerin, deren Sicht auf Israel sich von Ihrer unterscheidet.“ (Berliner-Zeitung.de)

Wieso erhält man den Eindruck, zwischen Menasse und Merkel liegen Welten? Die Kanzlerin versteckt sich hinter bombastischen Formeln („bedingungslose Loyalität“), die nur ihre Unfähigkeiten überdecken, Freundschaft und Kritik in eine völkerverbindende Synthese zu bringen.

Wofür hat sie um Verzeihung gebeten? Wegen ihrer totalen Inkompetenz in Klimafragen? Missbraucht sie nicht die Coronakrise, um alle anderen Probleme kaltblütig zu versenken? Mit Inzidenz und R-Werten eliminiert die Kanzlerin die gesamte lebensnotwendige Politik. Die Pandemie ist für sie ein Gottesgeschenk, um durch endlos-mitternächtliches „Ringen“ mit unliebsamen Kollegen sich aller Notwendigkeiten zu entledigen. Sie muss erschöpft erscheinen, damit niemand auf die Idee kommt, ihr fahrlässige Untätigkeit vorzuwerfen.

Der SPIEGEL veröffentlichte ein Interview mit dem amerikanischen Klimaexperten Michael Mann, das man nicht genug rühmen kann. Mann drängt zu radikalem und sofortigem Handeln, ohne in den gegenteiligen Fehler zu verfallen, der Menschheit jede Hoffnung zu nehmen:

„Ein Wissenschaftler, der sich mit keiner Seite gemeinmacht, das ist ein schönes Ideal, aber in der Klimaforschung schwer durchzuhalten. In den USA versuchen Kohle-, Öl- und Gaskonzerne – sogenannte fossile Unternehmen – seit Jahrzehnten, die Wissenschaft zu diskreditieren, unterstützt von erzkonservativen Politikern und rechten Medien. Sie entfachen einen Debatten-Kriegszustand. Meine Kollegen und ich haben uns diesen Konflikt weder ausgesucht, noch haben wir ihn angezettelt. Wir können den Kohlenstoffkreislauf im Ozean und der Atmosphäre mittlerweile extrem genau berechnen. So können wir belegen, dass es sehr wohl noch möglich ist, den Klimawandel aufzuhalten. Wenn wir heute damit aufhören, fossile Brennstoffe zu nutzen und kein menschengemaches CO² mehr in die Atmosphäre abgeben, könnten sich die Temperaturen innerhalb weniger Jahre stabilisieren. Wir dachten früher, dass dafür Jahrzehnte nötig seien.“ Ein hoffnungsvolles Zeichen, von dem ich noch nie gehört habe.

„BP und andere fossile Unternehmen wollen, dass wir uns auf unsere eigene Verantwortung fokussieren. Das stellt die Tatsachen aber auf den Kopf. Denn rund 100 fossile Unternehmen sind für 70 Prozent des menschengemachten CO²-Ausstoßes verantwortlich. Ich sehe da eine Menge Ablenkungsmanöver. Ich finde es gut, dass Gates auf die Klimakrise aufmerksam macht. Allerdings ist seine Vision sehr problematisch. Er spielt das Potenzial erneuerbarer Energien herunter und setzt auf Technologien wie die Atomkraft, die mit viel mehr Risiken verbunden sind. Die Deutschen haben die richtige Entscheidung getroffen, indem sie künftig weder auf Kohle noch auf Atom setzen. Ich ziehe meine Zuversicht aus der jungen Klimabewegung. Die Jugendlichen haben die Diskussion endlich auf eine andere Ebene gehoben. Es geht nicht mehr nur um Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, sondern auch um Ethik. Wir haben die Verantwortung, den nächsten Generationen eine lebenswerte Umwelt zu hinterlassen.“ (SPIEGEL.de)

Wir besitzen eine reelle Chance: ergreifen wir sie. Verstecken wir uns nicht hinter apokalyptischen Orgien, auch nicht hinter verantwortungsloser Gier nach Geld und Macht. Hier und jetzt heißt es den Klimawüstlingen die Masken herunterzureißen, aber auch vor fatalistischen Schwarzmalern zu warnen.

In seinem eindrucksvollen Buch „Propagandaschlacht ums Klima – Wie wir die Anstifter klimapolitischer Untätigkeit besiegen“ protokolliert Mann seine Erfahrungen mit skrupellosen Haien und Untergangspropheten:

„In diesem Buch werde ich falsche Narrative entlarven, die Versuche, den Klimawandel einzudämmen, zum Scheitern gebracht haben, und dem Leser einen echten Weg zur Erhaltung unseres Planeten aufzuzeigen. Unsere Zivilisation kann gerettet werden. Das gelingt jedoch nur, wenn wir lernen, die aktuelle Taktik der Klimafeinde – das heißt die Kräfte der Untätigkeit – zu durchschauen und zu bekämpfen.“

Manns Devisen lauten: a) Ignoriert die Untergangspropheten. b) Hört auf die Weisheit unserer Kinder. c) Aufklären, Aufklären, Aufklären. d) Systematischer Wandel ist notwendig.

Wen Merkel zum Gespräch lädt, ist schon abgeschrieben. Einmal sprach sie mit Vertretern der FFF. Seitdem schreibt sie deren Aufrufe zum Wandel in den Wind.

In wenigen Monaten scheidet sie aus dem Amt. Solange kann sie Corona vertrauen, die Gemüter der Menschen so zu dominieren, dass kein Mensch mehr den Begriff Klima in den Mund zu nehmen wagt. Nimm eine Krise, um alle andern zu erschlagen. Eine neurotische Meisterleistung.

Brinkhaus spielt den Part des Zornigen:

„… er schimpfte über »Häme und Schärfe«, über »eine Unkultur in diesem Land«, Fehler würden als Skandal oder Versagen mit Vorsatz dargestellt. »Wo sind wir denn?« Wenn es so weitergehe, übernehme irgendwann niemand mehr Verantwortung für Fehler. »Das Gift der Wut sickert ein.«“ (SPIEGEL.de)

Wut ist kein Gift, solange sie gewaltfrei bleibt. Warum stellt Brinkhaus nicht die Frage: woher all die Wut, wenn nicht als lang gärende, zur Stummheit verurteilte Empörung über eine verfehlte Politik? Scharfe Kritik ist notwendig, wenn die Kritisierten keine Sekunde daran denken, auf die Stimmen der Bevölkerung zu hören. Es ist ein Skandal, wenn in einer Volksherrschaft das Volk nichts mehr zu sagen hat – und die Mächtigen sich in einen abgedunkelten Glaspalast entrücken können.

Ob das Versagen mit oder ohne Vorsatz geschehen ist, entspricht der Logik des hiesigen Rechtssystems, das die Angeklagten streng trennen lässt zwischen vorsätzlichen und nicht-vorsätzlichen Tätern. Kein Übeltäter, und sei er instrumentell noch so kaltblütig, kennt die Abgründe seiner rächenden Psyche. Hat nicht der Erlöser am Kreuz seinen Vater gebeten: vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun? Das war eine Übernahme der sokratischen Devise: kein Mensch begeht Fehler freiwillig.

Eine Dreistigkeit ist es, das verantwortungslose Kleben an der Macht dem wütenden Plebs in die Schuhe zu schieben. Auch Merkel kann es nicht unterlassen, großartig die Verantwortung für ihr desaströses Versagen zu übernehmen. Ja, die alleinige Verantwortung. Damit degradiert sie ihre Politkollegen, die an allen Beschlüssen mitgewirkt haben, zu Nullen. Die Bitte um Verzeihung dient der Bittenden nicht als Geständnis ihrer Schwäche, sondern als Kastration ihrer Konkurrenten.

Wie sie mit Demut ihre Macht sicherte und erweiterte, so greift sie jetzt zur Methode der Bitte um Vergebung. Die Letzten werden die Ersten sein. Verantwortung übernehmen, heißt in Deutschland: weiterhin an der Macht kleben. Was antwortete Merkel auf die Frage, was ihre größte Stärke sei? Die Dinge laufen lassen bis an ihr Ende. Eine dezente Umschreibung ihres lutherischen Durchwurstelns in der civitas diaboli. Geht es noch entlarvender? Doch die Deutschen wollen nichts sehen, sie liegen im opiaten Koma. Sie fürchten die Nach-Merkel-Zeit. Kein männlicher Nachfolger wird das seelenberuhigende Charisma der Kanzlerin mitbringen.

Weshalb bat sie tatsächlich um Verzeihung? Wegen zweier Tage, die sie Ruhetage nannte, bei Nachfrage aber nicht erklären konnte, was sie zu bedeuten hätten. Tatsächlich wären die Ruhetage – Gefängnistage geworden: eingeschlossen in den eigenen vier Wänden.

Wie war ihr erster Auftritt nach der öffentlichen Beichte?

„Die muntere Ausstrahlung der Kanzlerin fiel gestern auch deswegen auf, weil viele der Gesichter im Bundestag, die von den Kameras eingefangen wurden, bemitleidenswert müde wirkten.“ (SPIEGEL.de)

Susanne Beyer sieht in der Munterkeit ein „wider Erwarten“. Wer sich mit der Psychologie der Erlösungsreligionen nur von weitem beschäftigt, weiß, dass die Befreiung ein Weil und kein Obwohl ist. Weil Merkel es gewagt hatte, um Verzeihung zu bitten – und das mit überraschendem Erfolg –, war sie befreit und gelöst. Ab jetzt ist sie noch immunisierter, als sie ohnehin schon war. Ihre Konkurrenten hat sie kalt gestellt, das Volk sich noch geneigter gemacht. Oberflächlich ging es nur um triviales Verzeihen und dennoch ging es um christliche Schuld und Sühne.

„So ihr den Menschen ihre Fehler vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben.“ „Vergebt, so wird euch vergeben.“

Wenn ihr mir vergebt, so die Kanzlerin, wird auch der Vater euch vergeben. In einem religiösen Volk (auch wenn es nur vage und „aufgeklärt“ gläubig sein will) kann es kein irreligiöses Verzeihen geben.

 Echte Demokraten zeichnen sich aus durch Fähigkeit zur Selbstkritik. Fehler erkennen, analysieren und korrektive Schlussfolgerungen ziehen: das ist der Stolz der selbstbewussten Vernunft. Lernen aus Versuch und Irrtum benötigt kein schwülstiges Vergeben, kein theatralisches Verzeihen. Es gibt keinen Menschen, der nicht irrtumsfähig wäre. Nur Machtgierige sind lernresistent und zur Selbstkritik unfähig.

Wer Sokrates folgt, weiß ohnehin, dass kein Mensch sich selbst geformt hat. Nur wer human erzogen wird, kann die Fähigkeit zur Selbstbestimmung lernen. Straftäter und schreckliche Verbrecher mussten auf dieses Glück verzichten. Ein angeborenes Böses gibt es nicht. Das ist eine Erfindung von Priestern, um Menschen irreversibel schuldig und erlösungsbedürftig zu machen. Welchen Sinn hätte eine Religion der Vergebung, wenn niemand vergebungsbedürftig wäre?

Wer der sokratischen Devise folgt: besser Unrecht erleiden als Unrecht tun, kann auf Vergeben und Verzeihen verzichten. Er versucht, das Verhalten des Anderen zu analysieren und dessen Irrtum als Folge seiner Erziehung zu verstehen. Er spricht mit dem Anderen, um jenem die Möglichkeit zu geben, sein Fehlverhalten selbst zu verstehen. Ohne Selbsterkenntnis kann es kein lebenslanges Lernen geben.

Demokratie ist der Versuch, durch soziale Regeln fremde, konkurrierende und hasserfüllte Wesen in solidarische zu verwandeln. Wie besiegt man Feinde? Indem man sie zu Freunden macht.

Ein zoon politicon zeichnet sich aus „durch Nachsicht gegen andere Menschen, durch die Fähigkeit des Mitleidens und Mitfreuens, durch Freundschaft, die sich im Unglück bewährt. Gegenseitige Hingabe schliesst Selbstsucht aus. Freundschaft ist wertvoller als Blutsverwandtschaft, ihr Kern ist Wahrhaftigkeit,“ schreibt Wilhelm Nestle über den griechischen Dramatiker Euripides.

Wie weit sind wir von einer Demokratie der Freundschaft und Wahrhaftigkeit entfernt? Lasset uns Menschen werden, damit wir unsere Krisen lösen lernen. Täglich wächst die Zahl der Menschen rund um den Globus, die sehnsüchtig den Friedensschluss mit Mensch und Natur suchen. Schließen wir uns zusammen. Hört ihr von weither die Kinder lachen?

Fortsetzung folgt.