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Alles hat keine Zeit XCV

Tagesmail vom 24.03.2021

Alles hat keine Zeit XCV,

Deutschlands Fortschritt in politischer Kommunikation sucht seinesgleichen.

Staatliche Anordnungen werden bereits im Modus erwartungsvoller Ungenauigkeit erteilt. Die Zukunft wird endgültig zum staatlich verordneten Projektionsraum, in dem jede(r) die Anordnungen nach seinem Gefühl deuten und umsetzen kann.

Was aber sind Ruhetage? Niemand weiß es:

„Die CDU-Politikerin Jana Schimke (41) beklagte in der gestrigen Fraktionssitzung, das Kanzleramt könne keine detaillierten Auskünfte geben: Was bedeuten die zusätzlichen „Ruhetage“ z.B. für die Schlachtbetriebe in ihrer Region? Im Kanzleramt habe man ihr geantwortet: Das wisse man noch nicht. „Ich blicke fassungslos auf die sach- und lebensfremde Beschlusslage“, so Schimke.“ (BILD.de)

Die Regierung schenkt dem Volk zwei komplette Ruhetage. Die exponentielle Wut der Leidtragenden und Isolierten – deren Inzidenzwert kaum noch zu messen ist – soll wieder zur Ruhe kommen. Ruhe ist der Sonntag der Geschichte, der Ort endgültigen Ausruhens der Erschöpften und Ermatteten. Ruhe ist das Ziel der Sehnsucht aller getriebenen und gehetzten Gottessucher:

„Der Herr schafft euch Ruhe.“

Für die Gottlosen freilich gilt das Gegenteil:
„So schwur ich denn in meinem Zorn: Sie sollen nicht eingehen zu meiner Ruhestatt.“

Das Versprechen der Ruhe ist somit ein verborgener Test der Regierung, das Unkraut vom Weizen zu trennen und ihre wahren Schäfchen ins Trockene zu bringen. Denn die Tage werden böse.

Ruhe ist Ankommen bei Gott, Werden wie Gott. Oder, wie Deutschlands größter Dichter schrieb, „ein Gott der Erde“ zu werden. (Wilhelm Meisters Lehrjahre)

Klassik und Romantik sind einmütig davon überzeugt:

„Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung und der Anfang der modernen Geschichte.“ (F. Schlegel)

Ruhe ist die Goldene Stadt, der alle Unruhigen und Flüchtigen zustreben. Alle religiösen Nationen sind wandernde Völker Gottes in die Ruhe der Vollkommenheit.

Für Deutsche, die ihre Heimat schon früh als eng, gedrückt und unfrei erlebten, war alles besser, was draußen in der Welt und nicht heimisch war:

Frau Meisterin, leb sie wohl!
Ich sag ihr grad frei ins Gesicht,
Ihr Speck und Kraut das schmeckt mir nicht.
Ich will mein Glück probieren …
Herr Vater, leb er wohl!
Hätt er die Kreide nicht doppelt geschrieb’n,
So wär ich noch länger dageblieb’n …
Ihr Jungfern lebet wohl!
Ich wünsche euch zu guter Letzt
Ein Andern, der meine Stell ersetzt.

Das Glück war in der Ferne. Zu Hause war patriarchalische Herrschaft, Krieg und Not. Heimatliebe? Mussten sie mühsam lernen – durch Verzicht auf die verlockende Ferne.

Zu Hause galt die Losung; Entsagen sollst du, sollst entsagen. Kaum öffnete sich eine Tür ins Freie, war es um graue Städtemauern geschehen:

„Aus grauer Städte Mauern ziehn wir durch Wald und Feld. Wer bleibt, der mag versauern, wir fahren in die Welt.“

„Mit Seil und Hacken, den Tod im Nacken, hängen wir an der steilen Wand. Wir kommen wieder, denn wir sind Brüder, Brüder auf Leben und Tod.“

„Wolln wir ferne Lande sehen, fällt der Abschied uns nicht schwer. Immer vorwärts, ohne Zagen, bald sind wir dem Ziel genaht.“

„Wir treiben die Beute mit fliegenden Segeln. Wir stürzen an Deck und wir kämpfen wie Löwen, hei, unser der Sieg, viel Feinde, viel Ehr.“ (Lieblingslied der sanftmütigen Kanzlerin)

Dem hei fehlte nur noch das kleine l, um Wanderschaft in die Welt in Eroberung der Welt zu verwandeln. Durften sie nicht mehr in die Welt, musste die Heimat zur Welt erweitert werden – mit Gewalt.

Die Chose begann – nicht mit den Aufklärern. Die Selbstdenker begnügten sich mit der gedanklichen Eroberung der Welt: zuerst Rom, dann Griechenland. Später Orient und China. Die Romantiker waren vielsprachige Übersetzer fremder Poesie, Märchen und Literaturen.

Der Königsberger blieb sein ganzes Leben lang in seiner Stadt – und hielt Vorlesungen über Geographie und die Welt.

Es war Herder, sein abtrünniger Schüler, der einen ersten Reisebericht veröffentlichte: „Journal meiner Reise im Jahre 1769“. Die Enge seiner Heimat bedrückte seine hochgespannten Ambitionen.

„Er will alles in seine Gewalt bringen, dazu „reise ich jetzt“. Die Bildungsreise war das Mittel, sein Ich mit der Welt zu verknüpfen, sich die Welt anzueignen.“

Sich die Welt anzueignen, was anfänglich geistig gemeint war, wurde später total oder totalitär. Als sie die Welt militärisch zu erobern begannen, raubten sie den Völkern ihre kostbarsten Kunstschätze. Noch heute sind sie nicht bereit, ihr koloniales Unrecht anzuerkennen, zu entschädigen und – im Gegensatz zu Macron, der die französischen Sünden bekennt – die Schätze reumütig zurückzugeben:

„Ein neues, vor wenigen Tagen erschienenes Buch der Kunsthistorikerin Savoy zeigt, dass in den Museen vor allem viel gelogen und getrickst wurde, um Rückgabeforderungen aus Afrika abzuwehren. Eine Ausstellung beispielsweise der legendären Benin-Bronzen im Schloss sei nicht mehr denkbar, sagte Savoy.“ (SPIEGEL.de)

Was war der wesentliche Grund der Ablehnung ihrer Heimat bei angeblichen deutschen Heimatfreunden?

a) Die Religion: die Welt war ihnen eine Fremde, der sie eiligst entfliehen mussten ins jenseitige Himmelreich:

„Im Glauben sind diese alle gestorben und haben die Verheißungen nicht erlangt, sondern sie nur von fern geschaut und gegrüßt und sie haben bekannt, dass sie Fremde und Gäste auf Erden sind. Und die, die solches sagen, geben zu erkennen, dass sie eine Heimat suchen. Hätten sie dabei an die Heimat gedacht, aus der sie weggezogen waren, so wäre ihnen Zeit geblieben zurückzukehren; nun aber streben sie nach einer besseren Heimat, nämlich der himmlischen.“

b) Die Politik: die feudale und klerikale Herrschaft hatte Freiheit und wirtschaftliche Unabhängigkeit der einfachen, naturnah lebenden Menschen zerstört und sie gezwungen, ihre Despoten zu ernähren und ihnen ein Leben in kostbar ausgestatteten Palästen und Schlössern zu ermöglichen.

Im Mittelalter waren sie noch relativ frei. Je mehr sie aber die Lehre von der göttlichen Obrigkeit verinnerlichten, umso desaströser wurden ihre Verhältnisse. Die Lehensverhältnisse wurden erst durch Napoleon aufgehoben, der zur Hälfte Ideen der Französischen Revolution, zur andern Hälfte die Unterdrückung brachte.

Die Lehnbauern hatten zuvörderst ihren Herren zu dienen, deren Ernte einzufahren, für deren endlosen Bedürfnisse da zu sein. Das Jus primae noctis war das Privileg dauergeiler Fürsten, jede junge Frau vor deren Heirat zu entjungfern.

In kaum abgewandelter Form gilt das Lehenswesen noch heute. Arbeitnehmer sind lebenslang abhängig von Arbeitgebern. Welch tückische Bezeichnung: die am meisten geben müssen, werden zu Nehmern, die Profit-Nehmer erhöhen sich zu Gebern. Arbeitnehmer sollen keinen Pfennig mehr als den ehernen Lohn verdienen.

„Das eherne Lohngesetz ist eine Lohntheorie aus dem 19. Jahrhundert, die besagt, dass der durchschnittliche Arbeitslohn sich stets auf das Existenzminimum einpendelt. Steigt der Arbeitslohn über das Existenzminimum, steigt durch Vermehrung der Arbeiterbevölkerung das Arbeitsangebot, sodass der Lohn wieder sinkt.“

Lehnbauern sollten nur verdienen, was sie sich mit jener Plackerei erarbeiten konnten, die ihnen zeitlich blieb, nachdem sie für ihre Herren geschuftet hatten. Manchmal verreckten sie dabei ein wenig. Nicht weiter schlimm, meinte Pfarrer Malthus, das sei das Gesetz der Natur als konkretes Gesetz Gottes. Für seine Erwählten wird der Herr schon sorgen; wer drauf geht, kann nicht zu den Erwählten gehören. Malthus war der theologische Mentor Darwins, den Marx & Engels bewunderten. Schließlich ist Marxismus auch nichts anderes als ökonomischer Darwinismus. Die Erwählten sind die Proleten, anfänglich die Schwachen und Abgehängten. Doch am Ende werden sie die jetzt Triumphierenden in den Staub treten: ecclesia patiens und triumphans in ökonomisch. Die Leidenden werden Sieger der Geschichte sein.

Auch bei Marx die Flucht vor der „Heimat“, den bestehenden Ausbeutungsverhältnissen, die erst „im Himmel“, im Reich der Freiheit, das Paradies auf Erden betreten. Ihre Ausbeuter verschwinden im Dunkel der Geschichte, dem Synonym für die Hölle.

Die irdischen Verhältnisse sind keine Heimat für die Proleten, sondern eine feindliche Fremde, weshalb Marx von Entfremdung spricht. Die Menschen sind sich fremd, traktieren sich wie Feinde. Kapitalismus ist das „Böse“, das notwendig ist, um die materiellen Wunderwerke und den technischen Fortschritt voranzubringen. Wenn er die Erde in ein Paradies verwandelt haben wird, hat das Böse seine Schuldigkeit getan, es kann gehen.

Marxismus ist christlich-jüdischer Glaube, erzählt in ent-fremdeter ökonomischer Sprache. Die geniale Mischung aus Bibel und moderner Wirtschaftstheorie war das Geheimnis der internationalen Anziehungskraft der Marx’schen Lehre. Die ausgebeuteten Völker, eben dem Diktat ihrer Kanzelprediger entronnen, begrüßten begeistert die neue Erlösungslehre, die ihnen mit Heller und Pfennig vorrechnete, wann sie ihr Joch abwerfen und ins nicht entfremdete Reich der Freiheit eintreten werden.

Warum floh Ernst Bloch, der aus der Proletenstadt Ludwigshafen stammende Glaube-, Liebe- und Hoffnungsmarxist, aus der DDR nach Tübingen? Weil sein „Atheismus im Christentum“ ein christlicher Atheismus war. Christentum und Sozialismus stritten sich in der DDR, ob das Christentum nichts als Sozialismus oder Sozialismus nur ein missratenes Christentum war. Merkels Vater spielte den christlichen Part in diesem Match entfremdeter Brüder.

Die Politik der feudalen, später kapitalistischen Entfremdung war die Hauptursache für die Aversion gegen die Heimat. Noch lange mussten die Entfremdeten in die Zukunft ziehen, um eines fernen Tages durch die Pforten des Paradieses zu schreiten.

Die Entfremdung der Menschen von Natur und Mitmensch begann mit der gewaltsamen Beraubung der wirtschaftlichen und politischen Unabhängigkeit der Bauern und Handwerker. Hier waren Leben und Arbeiten in der Großfamilie noch keine geschiedenen Sphären. Eben deshalb musste hier der Fortschritt erfunden werden, um diese selbstgenügsame, schlichte Simplizität zu sprengen. Fabriken und Fabrikanten mussten aus dem Boden gestampft werden, die das Land der Bauern raubten, sie in Hunger stürzten, um sie endlich in ihre hässlichen und stinkenden Fabriken zu zwingen.

Heute können die meisten Menschen von ihren Löhnen und Gehältern irgendwie leben, aber auf wessen Kosten? Auf Kosten ihrer familiären Zusammengehörigkeit oder dem sozialen Mycel ihrer Geborgenheit. Nur wer sich in seinem „Dorf“ zu Hause fühlt, öffnet sich neugierig der Welt.

Zuerst mussten die Väter sich von ihren Familien entfremden, dann die Frauen in den Kapitalismus verlockt werden, „um Anerkennung zu gewinnen“. Inzwischen müssen die Kinder sich kurz nach der Entbindung von der Familie losreißen, um sich nicht von Verweichlichung und Überbehütung abhängig zu machen. Bei pädagogischen Mietlingen lernen sie im Handumdrehen, was das Nest – der Kern der Heimat – den Kindern missgünstig verweigert. Was ist der meistgehörte Affekt-Satz in deutschen TV-Filmen? Ich muss los.

Indigene Völker leben noch heute in intakten Großfamilien, Sippen und Dörfern. Hier muss sich niemand von niemandem lösen, um heranzuwachsen und sich ein humanes Verhältnis zu Natur und Mensch zu erarbeiten. Wie selbstverständlich wachsen Kinder in die Welt der Erwachsenen, ohne Repression, ohne scharfen Tadel und narzisstisches Lob.

„Dazu kommt, dass wir unsere Kinder ständig völlig übertrieben loben. Während ich mein Buch schrieb, habe ich mich einmal selbst beobachtet und dokumentiert, um festzustellen, wie oft ich meine Tochter am Tag lobe. Das Ergebnis: Ich tat es ständig für die absurdesten Kleinigkeiten. Die Blume, die sie gemalt hatte, zum Beispiel. Aber wenn man auf die Weltgeschichte und andere Kulturen als die westliche schaut, wurden Kinder dort selten in den Mittelpunkt gestellt und schon für die geringste Leistung gelobt. Und so wurden aus ihnen genau die Persönlichkeiten, die wir uns als Eltern wünschen. Genügsame, höfliche Menschen, die sich nicht ständig die Aufmerksamkeit und die Anerkennung der anderen suchen. Ich habe festgestellt, dass die Kinder in den indigenen Gemeinden viel weniger Lob erfahren. Die Eltern dort lächeln oder nicken nur leicht, wenn ihr Kind etwas gut gemacht hat.“ (ZEIT.de)

Die Coronakrise komplettiert den Irrsinn. Er warnt vor Kontakten. Der innere Kontakt ist längst gestört. Jeder stiert auf sein Handy. Nun komplettiert die äußere Isolierung die Bestimmung der Deutschen zu Leibniz‘schen Monaden: jeder eine vollständig isolierte Kugel. Wie kommen die Kugeln miteinander in Kontakt? Durch eine göttliche Hand, die bei Adam Smith zur unsichtbaren wurde, um das wirtschaftliche Chaos (Poschardt würde von Freiheit sprechen) von Oben zu lenken.

Das Scheitern des Staates in der Coronakrise hat für Poschardt den endgültigen Beweis der Unfähigkeit des Staates ans Licht gebracht. Sein Fazit: Der Staat muss schrumpfen, die Industrie ist die einzig kreative und lebenserhaltende Instanz:

„Es bräuchte jetzt eine liberale Partei mit 20 Prozent, um den Staat schlanker, agiler, hungriger zu machen. Das Problem bei dieser aktuellen Regierung ist: eine bis auf die FDP noch hüftsteifere Opposition. SPD und Linke wollen noch mehr Staat, noch mehr Umverteilung, noch mehr lähmende Gleichheit. Der Staat muss kleiner werden. Es müssen ihm Mittel entzogen werden. Die Steuersätze müssen sinken, Bürgerämter ebenso privatisiert werden wie das Gesundheitssystem. Die staatlichen Überbaulyriker im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie in den Kulturinstitutionen, die den Etatismus in die kulturelle DNA der Republik hineinideologisiert haben, sollten beschnitten werden.“ (WELT.de)

Gibt es in dem amerika-hörigen Springerverlag niemanden mehr, der dem Chef erklären könnte, was eine Demokratie ist? In keiner vitalen Demokratie gibt es einen erwähnenswerten Staat. Auch die Industrie ist kein autonomer Verein, sondern Teil der Herrschaft des Volkes. Kein Staat bestimmt und keine Industrie, sondern das Volk mit Hilfe ihrer gewählten Repräsentanten. Begriffe, die Poschardt nicht zu kennen scheint. Gleichheit ist für ihn lähmend, soziale Gerechtigkeit die Erfindung des Teufels. Klingt das nicht wie die Nachäffung eines gewissen Trump: die Reichen und Mächtigen sollen noch reicher und einflussreicher, der Staat zur bloßen Polizei- und Müllentsorgungsorganisation erniedrigt werden? Der Springerverlag wird zur Gefahr für die Demokratie. Macht nichts. Zum Ausgleich lockt Döpfner futuristische Milliardäre nach Deutschland, um ihnen eine glänzende Bühne zu bieten. Die Zukunft muss gesichert werden, auch wenn die Gegenwart kollabiert.

Heute wird betont, Bildung sei die eherne Voraussetzung, um den Aufstieg zu schaffen. Geschickt haben es die Mächtigen geschafft, die klassenmäßige Phalanx zu sprengen, um jedem Einzelnen ein besseres Leben zu versprechen. Was aus dem Rest des Pöbels wird, soll niemanden interessieren. Das ist die Lehre der SPD, die einst von Solidarität sprach und heute nur noch den Aufstieg des Einzelnen kennt.

„Dass das Bürgertum, welches die Bildung als Emanzipationsprogramm gewählt hatte, von der Gestaltung der politischen Ordnung ausgeschlossen blieb, war auch selbstverschuldet. Warum? Bildung blieb auf die Sphäre der Innerlichkeit beschränkt.“ (Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland)

An der unpolitischen Innerlichkeit hat sich bis heute nicht viel verändert. Was der Jugend in Schulen und Universitäten eingebläut wird, dient keiner politischen Selbstbestimmung, sondern, ganz im Gegenteil, der idiotischen Karrierechance. Idiotisch war das griechische Wort für unpolitisches privates Verhalten. Divide et impera, ist noch immer die wirksame uralte Herrschaftsmethode. Corona entlarvt die unpolitische Funktion der Bildung, wenn „Bildungsökonomen“, ohne rot zu werden, den Ausfall der Bildung durch Schulschließung auf Punkt und Komma genau berechnen. Obszöner geht es nicht. Sie sprechen von Bildung und meinen Karriere und Mammon.

Als klassischer Bildungsexperte der Gegenwart gilt noch immer Wilhelm von Humboldt. Eben der ältere Bruder des berühmten Naturforschers war der energischste Vertreter der Bildung als Innerlichkeit.

„Diese innere Bildung, die eine innere Verbesserung und Veredlung bewirken und zur inneren Freiheit führen sollte, betrachtete die Teilnahme am politischen Leben nicht nur als sekundär, sondern als Hindernis für die individuelle Selbstverwirklichung: Der Mensch darf dem Bürger nicht geopfert werden.“ (ebenda)

Humboldts Innerlichkeit war eine Übernahme von Schiller, der, anfänglich ein Bewunderer der Französischen Revolution, später zum Gegner derselben wurde und die Deutschen aufforderte, sich erst durch Kunst zu Menschen zu bilden, bevor sie ihre Fürsten aus den Schlössern jagten.

Was machten die Deutschen? Weder bildeten sie sich zu Menschen, noch zu politischen Wesen. Das Theater, besonders das musikalische, wurde zum Gegenteil einer politischen Schule. Bei Wagner wurde sie zu einem mythischen Gebräu aus christlicher Erlösung, germanischen Legenden und Verehrung einer messianischen Führerfigur namens Rienzi, die – warum nur? – zur Lieblingsoper des deutschen Führers wurde.

Bis zum heutigen Tag mogelt sich das deutsche Theater durch das Feuilleton mit dem Versprechen, politisch zu sein. Eine staatlich subventionierte Farce, um das Publikum durch „falsches Bewusstsein“ von jeder politischen Betätigung abzuhalten. Warum nur ist das Theater zu Amusement-Tempeln der „Gebildeten und Betuchten“ geworden? Warum nur denkt der ungebildete Plebs keine Sekunde daran, nach Bayreuth zu pilgern?

Die deutsche Bühne schwankt zwischen gelegentlich politischem Kindertheater und „radikal-genialer ästhetischer Aseität (= Selbstbefriedigung)“.Hier können wildgewordene Regisseure Goethes Devise: Gott auf Erden zu werden, in handgreifliche Tat umsetzen.

Die deutsche Kulturszenerie gilt weltweit als vorbildlich. Eine weitere Vorbildlichkeit, die nur darauf wartet, über Nacht ins Gegenteil umzukippen. Heilige Corona, hilf, dass die Entzauberung bald geschieht. Die subventionierten Riesengelder könnten sinnvoller eingesetzt werden.

Wie immer spielen die Kirchen eine Sonderrolle. Sie denken nicht daran, sich den Anordnungen der civitas diaboli zu fügen. Sie wollen konsultiert werden, bevor sie reglementiert werden. Offensichtlich wollte die christliche Regierung nicht in den Verdacht geraten, die Kirchen zu privilegieren. Wohl wissend, dass diese sich ohnehin dem „Staat“ nicht unterordnen müssen. Welch ausgetüftelte Inszenierung!

Auch die harten Erlasse der Regierung waren – wie sich nun herausstellt – nur ein Probelauf, um Empfindsamkeit und Resistenz der Bevölkerung zu testen. Von vorneherein war geplant, dass bei allzu großer Empörung Berlin einräumen wird: kein Getümmel, liebe Christen, waren doch nur Empfehlungen. Nun haben wir euch gehört, wir ziehen die Zumutungen zurück und vertrauen eurer Mündigkeit. Sind wir keine empathische Obrigkeit?

Karfreitag steht vor der Tür, damit Tod und Absturz der Geliebten Gottes. Danach Auferstehung und Auffahrt zum endgültigen Triumph. Die Kanzlerin hat die „Bürgerinnen und Bürger um Verzeihung gebeten.“ Alle Schuld nahm sie freiwillig auf sich. Auch so kann man die Ministerpräsidenten zur Bedeutungslosigkeit degradieren. Und wie sie verzeihen werden, die Bürgerinnen und Bürger: Die Umfragewerte des Kabinetts befinden sich in freiem Fall, die der Kanzlerin steigen in den Himmel.

Die Magd des Herrn wird die Corona-Passionsspiele glanzvoll überstehen.

Fortsetzung folgt.