Kategorien
Tagesmail

Alles hat keine Zeit XCVII

Tagesmail vom 29.03.2021

Alles hat keine Zeit XCVII,

„Will und Merkel sind nicht nur schon länger miteinander bekannt, sie schätzen sich offensichtlich auch gegenseitig. Anne Will – immerhin – legt diese Karte vergleichsweise früh auf den Tisch. Sie habe sich kein konfrontatives Interview vorgenommen, kündigt die Moderatorin an. Sie werde also nicht die Gegenposition zu ihrer Gesprächspartnerin beziehen und auf Lockerungen pochen, sondern „im Kosmos“ der Kanzlerin verbleiben.“ (WELT.de)

„Konfrontation … ist im Alltag eine Gegenüberstellung von sich gegenseitig störenden und vorerst unvereinbaren Aussagen, Behauptungen, Meinungen, Sachverhalten, Themen oder von Personen im Streit.“

Gipfeltreffen zweier führender Ladys. Die eine ist Talkfürstin in Deutschland, die andere nur die mächtigste Frau der Welt, die ihr Gegenüber zum Auftakt linkisch anlächelt. Sie schätzen sich, das Gesprächsklima wäre geklärt.

Kein Aufspüren unvereinbarer Aussagen. Keine Anwendung des Satzes vom Widerspruch: Entweder Ja oder Nein, ein Drittes gibt es nicht. Oder kurz: Kritik ist ausgeschlossen. Denn Kritik spürt unvereinbare Widersprüche auf.

Demokratischer Streit ist Kritik. Sie ist Suche nach der Wahrheit durch Eliminieren der Unwahrheit. Das Unwahre ist nicht das Böse; das Wahre wohl das Gute, aber nicht das Heilige.

Das Heilige und das Böse sind Eigenschaften eines (erfundenen) Gottes und seines (ebenfalls erfundenen) teuflischen Widersachers, der – im Falle des Christentums – zugleich Widersacher und Werkzeug des Gottes ist. Indem er widerspricht, heuchelt, lügt und betrügt, befördert er das Heilige.

Keine Unwahrheit ist das Werk des Bösen, denn Menschen, die das Böse um des Bösen willen tun, gibt es nur in den Phantasmagorien der Jenseitsreligionen.

Unwahrheit ist die Folge eines Irrtums, eines falschen Schlusses, eines unglücklichen Ressentiments, das sich für seine misslungene Erziehung an der Welt rächen muss. Glückliche Menschen leben in der Wahrheit des Einklangs mit Mensch und Natur. Unglückliche müssen das Erkennen der Welt so verfälschen, dass sie eine Erklärung erhalten, ihre Rachebedürfnisse als „Wahrheit“ auszugeben. Ihre Irrtümer, die sie als Waffen benutzen, sind „vorsätzliche“, aber unbewusste Verdrehungen der Wahrheit. Vorsätzlich bedeutet: mit einer bestimmten Folgerichtigkeit, aber mit der falschen Grundvoraussetzung, dass die Welt böse sei und mit bösen Mitteln bekämpft werden müsse. Unbewusst bedeutet, dass sie von ihren leitenden Gedanken und Triebbewegungen keine Ahnung haben, weshalb ihre bewusste Selbstdarstellung stets in die Irre führt.

Die Botschaft vom Bösen um des Bösen willen ist die Lehre der Erlöserreligion, in welcher das Böse vom Heiligen bestraft und vernichtet werden muss – durch Liebe zu den Guten, die von Gott auserwählt wurden. Gottes Liebe ist nicht universell, sondern partikular. Sie wählt diejenigen aus, die sich Seiner Macht unterwerfen, genauer, die von Ihm zum Heil vorherbestimmt wurden. Prädestination schließt jeden freien Willen aus.

Eliminieren des Unwahren ist keine Ausschaltung der Menschen, die das Unwahre vertreten. Im Streit appelliert es an die Irrenden, die Gründe ihres Irrens zu durchschauen und ihren Prozess des Erkennens von vorne zu beginnen.

Spätestens seit Hegel ist Kritik in Deutschland gestorben:

„Hegel steht genau auf der Scheide der Zeiten. Längst hat man sein Doppelantlitz zu fassen versucht; ihn den Philosophen der Aufklärung oder der Restauration, der Freiheit oder des göttlichen Schicksals, des Liberalismus oder der reaktionären Romantik genannt. Mit der Aufhebung des Satzes vom Widerspruch und mit dem Versuch der Vereinigung der Gegensätze, wonach Freiheit identisch ist mit Schicksal, hat er seine dialektische Versöhnung aller Widersprüche begründet.“ (Alois Dempf)

Widerspruch ist, nach Hegel, der logische Kern des notwendigen Bösen, ohne welches es keine Bewegung in der Geschichte, keinen Fortgang zur Versöhnung und Vollendung von allem mit allem geben könnte.

„Es ist dies eine zu große Zärtlichkeit für die Welt, von ihr den Widerspruch zu entfernen: in der Tat ist es der Geist, der so stark ist, den Widerspruch ertragen zu können. Der Satz des Widerspruchs ist die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit, das Prinzip aller Selbstbewegung. Was die Welt bewegt, ist der Widerspruch. Widerspruch und Lösung des Widerspruchs ist das höhere Vorrecht lebendiger Naturen.“ (Hegel)

Dies alles steht in scharfem Widerspruch zu Kant, für den

„Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend gemacht werden könnten als durch Krieg. Die Kritik dagegen, welche alle Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung hernimmt, deren Ansehen keiner bezweifeln kann, verschafft uns die Ruhe eines gesetzlichen Zustandes. Hier stiftet die „Sentenz“ einen „ewigen Frieden“.

Ohne Vernunft, welche Widersprüche entdecken und ausschalten kann, gibt es keinen Frieden. Die Herrschaft der Widersprüche ist die Herrschaft des Krieges. Kant war kein Demokrat, aber kategorischer Vertreter einer friedenstiftenden Monarchie. Seine Sätze gelten erst recht für Demokratien, die sich vertragen müssten, wenn sie die Welt nicht in den Abgrund stürzen wollen.

Die Deutschen sind stolz auf den weltberühmten Denker aus Königsberg, aber nicht auf den glühenden Vertreter der Vernunft und eines ewigen Friedens.

Demokratie ohne Kritik ist dem Untergang geweiht. Was für die Polis gilt, gilt erst recht für den Einzelnen: „Ein unüberprüftes Leben ist nicht lebenswert“ – das war eine Grunderkenntnis des Sokrates. Ein Leben in Irrtum, Heuchelei und Täuschung wäre für ihn undenkbar gewesen. Lieber akzeptierte er den Tod, als ein unwürdiges Leben in Widersprüchen zu führen.

„Merkel stellt sich den Fragen Anne Wills“: mit diesen verheißungsvollen Worten wurde die Aura eines außergewöhnlichen Dialogs angekündigt. Von einem Dialog war nichts zu bemerken. Denn unkritische Dialoge gibt es nicht. Es war ein perfekt inszeniertes Staatstheater. Wer nicht bereit ist, sich auf Herz und Nieren prüfen zu lassen und selber zu prüfen, sollte den Begriff „kritisches Gespräch“ aus seinem Wortschatz streichen.

Nach üblichen Anfangsmätzchen, um das Publikum anzuheizen, hielt Will es für richtig, ihre kritiklosen Absichten zu verkünden. Wer Konfrontationen scheut, verabscheut Kritik. Wer Kritik verabscheut, riskiert die Demontage einer lebendigen Polis.

Das Gespräch der Damen war ein demokratisches Talmi-Unternehmen. Wie in fast allen Dingen der geschenkten Nachkriegsdemokratie ging es um Schein, Blendwerk und Mechanismen der Staatsraison.

Nicht mal der Schein der Kritik wurde gewahrt: Konfrontation? Nein danke. Wie im Bundestag wurden Fragen gestellt, deren Antworten suggestiv mitgeliefert wurden:

Müssen Sie zurücktreten, Frau Bundeskanzlerin? Haben Sie versagt? Will stellte die Frage: Haben Sie den Stein der Weisen gefunden? Überraschende Antwort: „Den Stein des Weisen gibt es nicht.“ (SPIEGEL.de)

In postmoderner Wahrheitslosigkeit kann es keine Kritik geben. Wer sich anmaßt, etwas besser zu wissen, demokratisch-wehrhafter zu sein, die Unwahrheiten der Herrschenden zu durchschauen und zu widerlegen, ist ein besserwissender Wicht, ein aufgeblasener Schlumpf. Beklagt er Doppelmoral und Heuchelei, ist er ein eitler Tropf.

Alle Meinungen sind gleichwertig – oder von gleicher Wertlosigkeit. Wer Demokratie und Menschenrechte für besser hält als Despotie und Rechtlosigkeit, kann sich in einer Welt skrupelloser Erfolge begraben lassen. Wer sich für den Erhalt der Natur einsetzt und klimatische Untergangsszenerien beschwört, ist ein törichter Wissenschaftsgläubiger. Wer an eine friedliche Zukunft der Menschheit glaubt, sollte zum Psychiater. Wer an Vernunft glaubt, ist ein gottloser Feind des Heils.

Deutschland hat die heidnische Aversion gegen Widersprüche hinter sich gelassen und ist aufgestiegen in das Reich der Versöhnung, in dem Kritik überflüssig geworden ist.

Wie „Gott sich mit der Welt versöhnt hat“, so haben seine wackeren Deutschen sich zur „Einsicht“ durchgerungen, welche „Versöhnung mit der Wirklichkeit“ bedeutet. „Versöhnung ist das Reich des Geistes“.

Deutschland befand sich für Hegel bereits im Zustand der Versöhnung. Für seinen Schüler Marx wird Versöhnung mit Sicherheit in Zukunft eintreten – die sich inzwischen so verzieht wie die Wiederkehr Christi.

Wartet, wartet noch ein Weilchen, deutsche Versöhner! Rafft, schuftet, betet und hofft noch ein Weilchen. Die schönsten Plätze der Welt erwarten euch.

Aus der Ferne ruft ihr uns zu: wir sind dann mal weg.

Fortsetzung folgt.