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Gauck und die Erwählten

Hello, Freunde des Marktes,

nein, das kann er doch nicht wissen, der geistbegabte Hirte in Bellevue, dass der ursprünglich – deutsche – Sinn des Begriffs Neoliberalismus von den Amerikanern ins Gegenteil verkehrt wurde.

Darüber zerbrach die Mont Pelerin Society (MPS), da Alexander Rüstow, der potenteste deutsche Neoliberale, den regellosen Liberalismus Milton Friedmans als Paläoliberalismus – als Steinzeitliberalismus – attackiert hatte. Rüstow warf den Amerikanern vor, mit ihrem Liberalismus in die wildwüchsige Steinzeit des Laisser faire zurückzufallen. (laisser faire = alles ist erlaubt, alles ist möglich).

In der MPS trafen sich seit Kriegsende alle Alphatiere der Weltökonomie, um die philosophischen Grundlagen der Wirtschaft zu debattieren. Die MPS, angeregt von Hayek, der sie jahrelang leitete, war die Urmutter aller späteren Denkfabriken in der ganzen Welt.

(Auch Popper war oft Teilnehmer dieser illustren Runde am Fuß des Mont Pelerin – Berg des Pilgers –, bewunderte seinen großen Freund und Gönner Hayek, war aber unfähig, ihn aus seiner eigenen „sozialdemokratischen“ Sicht zu kritisieren.)

Es dauerte eine Weile, bis auch Deutsche zu dem exklusiven Zirkel zugelassen waren. Walter Eucken, der mit einer Jüdin verheiratete, Freiburger Ökonom, der eine Wirtschaftsordnung im Geiste der katholischen Soziallehre (Ordo-Kapitalismus) vertrat, war der erste, der

in die Schweiz eingeladen wurde. (In Freiburg hatte er während des Krieges einen Kreis von Menschen um sich gesammelt, die allesamt Gegner Hitlers waren, wenn auch nur in passivem Widerstand.)

Nach dem Kriege kehrte Rüstow aus seinem türkischen Exil zurück und schloss sich dem Freiburger Kreis an, obgleich er ein entschiedener Kritiker des Christentums war. Darüber hatte er im Exil ein monumentales Werk in drei Bänden geschrieben, das heute kein deutscher Ökonom kennt: „Die Ortsbestimmung der Gegenwart“.

Auf Anraten seines Freundes Röpke begann er seine scharfe Religionskritik zu mäßigen, um in der beginnenden Adenauerzeit nicht völlig tabuisiert zu werden. Vergebens, diese Tabuisierung dauert bis heute an.

Es war Rüstow, der den Begriff Neoliberalismus – heute würden wir von sozialer Marktwirtschaft reden – gegen die Wildwest-Amerikaner verteidigte. Die Grundsatzdebatten in der MPS zwischen den Freiburgern und den Chikago-Boys wurden so heftig, dass es zum Bruch kam. Die Protokolle dieser weltbewegenden Debatten – sie bestimmen bis heute die Grundsätze der globalisierten Wirtschaft – sind noch immer nicht vollständig veröffentlicht.

Der umfassend gebildete und scharfsinnige Rüstow war der eigentliche Sprecher der Eucken-Gruppe – (Eucken war durch den Krieg erschöpft und angeschlagen) –, obgleich er kein Freund des Katholizismus war. Seine Bedeutung als einer der wichtigsten Gründerväter der sozialen Marktwirtschaft – auch Rheinischer Kapitalismus genannt – wird heute systematisch unterdrückt.

(Geißler erwähnt so gut wie nie seinen Namen. Deutschland erlaubt sich das Skandalon, einen seiner vorbildlichsten Ökonomen tot zu schweigen. Wenn es keine Alternative zur herrschenden Beutemacherei gibt, liegt es daran, dass alternative Denker verdrängt und in Archiven begraben werden.)

Was heute unter dem Begriff Neoliberalismus die Welt in die Katastrophe führt, ist das absolute Gegenteil von dem, was Rüstow unter humaner Wirtschaft verstand: keine Monopole, keine Machtzusammenballungen, jeder ist nach Möglichkeit sein eigener Herr, keine naturverwüstende Mega-Industrie, keine entfremdeten Riesenstädte.

Aus heutiger Sicht mag das idyllisch klingen, weshalb es aber nicht falsch sein muss: Rüstows Vorbild waren Schweizer Verhältnisse. Selbstbewusste Bauern und Handwerker, in hohem Maße autark und unabhängig, sollten das Zentrum einer freien Wirtschaft sein.

Nur nebenbei: die katholische Soziallehre und die protestantische Sozialethik sind ad hoc konstruierte Notwehrmaßnahmen der Kirchen gegen die Fluten der gottlosen Marxisten und Sozialisten. Man nehme Einsichten des Heiden Aristoteles, vermische sie mit einlullenden Sprüchen der Nächstenliebe und erhalte windschiefe Machwerke der Frömmigkeit, die tun, als ob sie die Welt retten könnten, obgleich der Herr jede menschliche Lösung irdischer Probleme verfluchte und seine eigene Erlösung an deren Stelle setzte.

Es heißt nicht: nehmet dem Kaiser, sondern gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist. Denn er spielt keine Rolle mehr. Revolutionen gegen Kaiser und Mächte sind Sünden wider gottverordnete Obrigkeiten.

Merkels Gelassenheit – oder religiös bedingte Gleichgültigkeit – hängt mit ihrem Glauben zusammen, dessen Motto Luther so formulierte: Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren.

Ist Gauck ein Dummkopf um des Himmelreichs willen, weil er über Dinge spricht, die er sich von seinen Ohrenbläsern und Präsidentenflüsterern einreden lässt, ohne die geringste Ahnung zu haben? Wenn alles kracht und stürzt, muss im christogenen Neugermanien ein wackerer Gottesmann an die Front, der barhäuptig die Arme gen Himmel streckt, bis die Sintfluten zurückweichen und die Geretteten zum Dank auf die Knie fallen.

Aus Merkels Lieblingschoral:

„Aus tiefer Not schrei ich zu dir,

Herr Gott, erhör mein Rufen …

Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gonst,

Die Sünden zu vergeben.

Es ist doch unser Tun umsonst

Auch in dem besten Leben.

Vor dir niemand sich rühmen kann,

Des muß dich fürchten jedermann

Und deiner Gnaden leben.

Darum auf Gott will hoffen ich

Auf mein Verdienst nicht bauen; …“

Das ist die religiöse Wurstelideologie der Kanzlerin, sich selbst nichts zuzutrauen und alle Dinge Gott zu überlassen. Wer Probleme lösen will, macht sich der Ursünde wider den Geist schuldig und landet im Feuer der Überheblichen.

Gauck ist nicht irgendein Narr, sondern ein Narr um Christi willen. „Wir sind Narren um Christi willen“, schrieb Paulus dem Bundespräsidenten vor 2000 Jahren seine heutige Rolle vor. Es gibt eine Weisheit der Welt und eine Weisheit Gottes. Die Weisheit der Welt ist vor Gott eine Torheit. Was auf Gegenseitigkeit beruht: die Weisheit Gottes ist für die Welt Narretei.

Der Gläubige ist vor der Welt ein Narr in Christo. Gott erwählt nicht die Klugen und Weisen dieser Welt, sondern die Unverständigen und Unmündigen. Jesus dankte seinem Vater im Himmel, „dass du dies vor Weisen und Verständigen verborgen und es den Unmündigen geoffenbart hast“.

Das sind jene, die sich ihres Verstandes nicht bedienen, um ihre Mündigkeit nicht beweisen zu müssen. Sie benutzen nicht ihren Mund und Verstand und überlassen das Denken und Reden dem irdischen Personal ihres himmlischen Vaters.

Wäre ein Mensch auf Erden ein vollendeter Christ, so wäre er für die Welt ein kompletter Narr. In diesem Sinne schrieb Dostojewski seinen Roman „Der Narr“ (oder: „Der Idiot“). Auch Franz von Assisi zählt zu den Urbildern des frommen Narren, der sich in der Welt ob seiner reinen Naivität als Narr verhöhnen lassen musste. Umso erstaunlicher, dass sein Nachfolger in Narrheit, der Argentinier Franziskus, sich darüber beklagt, dass seine arme Kirche zum Gespött der Welt geworden sei. (BILD)

Da die Weisheit der Welt Torheit vor Gott ist, muss Gauck sich nicht um die Vorgeschichte des Neoliberalismus kümmern. Das hält ihn aber nicht davon ab, sich vor den Karren der Neoliberalen spannen zu lassen.

Als ein vom Sozialismus befreiter Christ weiß er intuitiv, was Freiheit, Wettbewerb und Wirtschaftswachstum ist. Von antikapitalistischen Freiheitsverächtern muss er sich das nicht sagen lassen. Die waren seit Kriegsende frei und können diese Freiheit gar nicht mehr schätzen. Die legen nur Wert auf kollektive und erniedrigende Sicherheit, weil sie den frischen Wind freier Konkurrenz nicht ertragen.

Den Grünen leuchtet dies seit ihrer Wahlschlappe so ein, dass sie die FDP beerben wollen, indem sie Freiheit über Gerechtigkeit stellen. Demokratische Tugenden gegeneinander auszuspielen, ist ein uralter Trick der Reichen, um die moralische Front ihrer Gegner zu spalten.

Schon Edmund Burke, der englische Gegner der Französischen Revolution, erklärte die Freiheit für das Gegenteil der Gleichheit und Gerechtigkeit. (So Pierre Rosanvallon in seinem bedeutenden Werk über „Die Gesellschaft der Gleichen“)

Gleichheit sei eine Feindin der Freiheit, weil diese „verallgemeinerbar“ sei, während Gleichheit, die Reichtum umverteilen wolle, „parteilich“ sei und damit mit Klassenkampfparolen die Gesellschaft spalten würde.

Heute wird weniger die Gleichheit angegriffen – die gilt ohnehin als mausetot –, als das Sicherheitsdenken der Menschen. Zwar sollen sie ein ganzes Leben lang malochen, damit sie eine sichere Rente erhalten, sollen Kasko- und Vollkaskoversicherungen abschließen, sollen ihr Gespartes in sicheren Staatsanleihen anlegen – dennoch sollen sie nicht dem Götzen Sicherheit verfallen und ein Leben voller riskanter Unsicherheiten führen.

Offenbar vergisst man, dass die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg per Inflation fast alles verloren, dass sie froh sein mussten, im Zweiten Weltkrieg lebend nach Hause zurückzukehren. Als Erwählte der Letzten Tage der Geschichte hatten sie alles Sicherheitsdenken aufgegeben und waren das riskante Spiel eingegangen, mal kurz die Welt zu erlösen. „Wir haben verspielt“, mussten sie ihren Kindern gestehen, als sie gedemütigt heimkehrten.

Ausgerechnet im Eucken-Institut in Freiburg – Eucken war kein Freund des allmächtigen Marktes, sonst hätte er keine staatliche Ordo gefordert, um einen ausufernden Markt zu kontrollieren – behauptet der Bundespräsident, „freier Markt und freier Wettbewerb seien die Eckpfeiler der Demokratie. Freiheit in der Gesellschaft und Freiheit in der Wirtschaft gehörten zusammen.“ (Gauck-Rede in der ZEIT)

In einer freien Gesellschaft muss alles frei sein. Sonst wäre sie Despotie und keine Demokratie. Doch in einer Gesellschaft leben viele Individuen auf engstem Raume zusammen und brauchen Spielregeln der gegenseitigen Rücksichtnahme. Die Freiheit der Starken darf nicht zur Unfreiheit der Schwachen führen. Ein Muskelmann darf seine Mitmenschen nicht nach Belieben mit überlegener Körperstärke tyrannisieren.

Gesetzlose Freiheit würde ein friedliches Gemeinwesen in ein Schlachtfeld marodierender Horden verwandeln. Wirtschaftskompetenz ist zu einer Superwaffe geworden. Der ursprüngliche Sinn, mit Wirtschaft sein Leben zu fristen, ist längst über Bord gegangen. Je mächtiger ein Unternehmen, je reicher ein Tycoon, umso mehr bedrohen beide die Freiheit der ökonomisch Schwächeren.

Der Markt soll ein „Eckpfeiler der Demokratie sein“? Wo hat Gauck diesen verfassungsfeindlichen Aberwitz her? Die Grundlage unserer Demokratie steht – mit Verlaub, Euer Gnaden – noch immer in Artikel 1 des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Urfreiheit ist die Garantie der menschlichen Würde jedes Einzelnen. Auch des Arbeitslosen, des Faulenzers, der Hartz4-Leute, der Verkommenen und Verbrecher.

Wer seine Freiheit nutzt, um die Würde seines Nachbarn zu verletzen, der hat keine Freiheit, sondern seine Menschenverachtung walten lassen. Wer Reichtum scheffelt auf dem Rücken vieler Schwacher, der hat seine Freiheit missbraucht und die Grundlagen der Verfassung angegriffen.

Zur Würde des Menschen gehört eine Grundsicherung, die es dem Menschen gestattet, am Leben der Gesellschaft unbehindert teilzunehmen. Ein Superreicher lebt auf Kosten seiner Mitmenschen und müsste als Feind der Menschenwürde vor einem Gericht zur Verantwortung gezogen werden.

Jede würdebedrohende Freiheit ist keine Freiheit, sondern Gewalt unter dem trügerischen Vorzeichen der Freiheit. Freiheit ist ein reziproker Maß-Begriff und muss sich daran messen lassen, ob maßlose Freiheit des Einen die Freiheit des Anderen missachtet.

Ich kann nicht frei sein, wenn der Rest der Gesellschaft – ja, der Welt – in Fesseln der Armut und des Elends liegt. Ich kann kein Mensch sein, wenn meine MitbürgerInnen keine Menschen sein dürfen. Ich kann keine Würde haben, wenn meine Mitmenschen ein würdeloses Leben fristen müssen.

Freiheit ist ein gesellschaftlicher, kein solipsistischer Begriff. Der Individualismus des liberalen Westens ist ein atomistisches Ungeheuer, wenn Individuum X dem Individuum Y nicht dieselbe Freiheit einräumt wie umgekehrt. Wer grenzenlose Freiheit will, soll als Robinson Crusoe für immer auf einer Insel verschwinden. Halt, in Zeiten einer globalen Klimakatastrophe ist selbst die einsamste Insel Teil unseres gemeinsamen Wetters.

Nichts auf Erden, nichts am Menschen ist grenzenlos – außer jenen Tugenden, die andere Menschen – selbst im Übermaß – nicht schädigen können. Alles andere sind Maßbegriffe, die gegenseitig Rücksicht zu üben haben. Ich kann nicht maseratischnell durch die Stadt rasen und alle Menschen überfahren, die meinen grenzenlosen Geschwindigkeitsrausch behindern.

Natürlich werden Sie, Herr Bundespräsident, solche Maßlosigkeiten verurteilen, doch Sie bemerken nicht, dass Ihre undurchdachten Grundannahmen zu solchen Verbrechen verleiten. Und nicht nur das: solche Verbrechen im Namen der Freiheit passieren im heutigen Neoliberalismus, den Sie als Geschenk des Himmels preisen, vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang.

Woher haben Sie eigentlich Ihre fulminanten Erkenntnisse, Herr Gauck? Der perfekte Markt mit grenzenlosem Wettbewerb garantiere die geringste Ungerechtigkeit? Ist Wettbewerb nicht selbst eine hinterlistige Form der größten Ungerechtigkeit?

Wie können Beinamputierte an einem Laufwettbewerb teilnehmen, ohne sich zu blamieren? Sind nicht alle Menschen ungleich in Talenten, Fähigkeiten und Neigungen? Wie soll ein künftiger Ägyptologe mit einem Zocker des BlackRock-Giganten mithalten können im wahllosen Erbeuten ungeheurer Gelder?

Chancengleichheit ist Lug und Trug, denn die meisten Menschen sind nicht auf Konkurrenz eingerichtet. Ja, sie lehnen sie zu Recht als dumm und gefährlich ab. Es gibt nur einen sinnvollen Wettbewerb und das ist der Eifer um Wahrheit und Menschlichkeit. In diesem Wettbewerb profitieren alle Beteiligten.

Ein sokratischer Dialog ist ein Wettbewerb um das schärfste Argument, die hartnäckigste Suche nach der Wahrheit. Hier profitiert jeder, der sich an diesem Streitgespräch beteiligt.

Herr Gauck, Sie verwechseln Wettbewerb mit gegenseitiger Akzeptanz und anfeuernder Unterstützung. Große Leistungen werden nur durch Menschen erbracht, die eine große Leidenschaft zu einer Sache aufbringen. Lust und Liebe sind die Fittiche zu großen Taten, nicht die außengeleitete Eitelkeit, stets der Erste zu sein.

Die Großen des Geistes konkurrierten nicht gegeneinander, um auf Kosten der Unterlegenen zu brillieren. Einstein war kein Konkurrent von Niels Bohr mit dem Ziel ihn auszustechen. Sie stritten um die Sache.

Schon für Hesiod war Eris, die Göttin des Streites, eine zänkische wie eine gute. Die zänkische führte zur Zwietracht, die gute spornte den anderen an. Sie, Herr Gauck, kennen nur die zänkische Eris, die auf Kosten des Anderen triumphiert. Jeder staatliche Eingriff in den Markt ist für Sie nichts anderes als „Protektionismus, Korruption oder staatlich verfügte Rücksichtnahme auf Einzelinteressen“.

Hier erkennt man den augustinischen Staatsbegriff, der Sie noch immer leitet. Der Staat – im Gegensatz zur Kirche – ist eine Räuberhorde und muss als weltliche Erfindung geschmäht werden. Doch Demokratie ist eine Erfindung der bösen Welt. Ihre Heilige Schrift verflucht jede Fähigkeit des Menschen, seine Dinge selbständig zu lösen. Aus Ihren Worten spürt man noch immer den Hass gegen etwas, was nicht auf dem Boden des Heiligen gewachsen und dennoch menschenfreundlich ist.

Ihr Volk verstehen Sie nicht im Geringsten, wenn Sie beklagen: „Viele Deutsche hielten die Marktwirtschaft nicht für gerecht, sondern beklagten Gier und Rücksichtslosigkeit, sagte Gauck. Ebenso klinge das Wort Freiheit für manche bedrohlich, viele fänden Wettbewerb eher unbequem. Ich kenne viele, die einst fürchteten, eingesperrt zu werden, und jetzt fürchten, abgehängt zu werden. Darum sei es wichtig, dafür zu sorgen, dass Wettbewerb nicht einigen wenigen Mächtigen nutze, sondern vielen Menschen Chancen biete.“

Konkurrenz ist eine Auslese der Besten und schädigt eo ipso die Schwachen. Wer nur die Besten will, verachtet die Zweitbesten bis Schlechtesten. Und Sie behaupten, dass Wettbewerb vielen nützt? Schauen Sie sich die Gesellschaft an: wie viele Abgehängte gehen vor die Hunde? Wie viele Loser sind ausgebrannt und unglücklich? Gibt es nicht ungeheuer viele empirische Belege für die krankmachenden Wirkungen Ihres gerühmten Konkurrenzsystems?

Ein Konkurrenzsystem ist die Selektion der wenigen Besten auf Kosten der vielen anderen. Chancengleichheit ist eine Chimäre. Nicht Freiheit finden die Deutschen bedrohlich, sondern den Vernichtungskampf aller gegen alle, die Freiheit zum Bankrott.

„Politik müsse auch verhindern, dass die wirtschaftliche Macht Einzelner zu groß werde. Fairen Wettbewerb gebe es nur, wenn Einzelne nicht bevorzugt würden“?

Wie viele Einzelne müssen noch superreich und übermächtig werden, um die Ungerechtigkeit des jetzigen Wettbewerbs zu zeigen? Jeden Monat hören wir den bedrohlichen Refrain einer auseinanderklaffenden Gesellschaft: die Reichen sind wieder reicher, die Armen ärmer geworden?

Wie lange noch soll diese absurd schiefe Verteilung weiter gehen, bis die einen alles und die anderen nichts mehr haben? Eine „aktivierende Sozialpolitik“ ist eine Illusion, wenn die Unterstützten einem Dauerklima der Beschämung ausgesetzt sind.

Kein Markt kann etwas regeln. Er ist das Fantasiegebilde derer, die unter Freiheit individuelle Maßlosigkeit verstehen. Der nachcalvinistische Individualismus ist Freiheit der Erwählten: viele sind berufen, wenige auserwählt.

Wer immer nur die Besten selektiert und die große Mehrheit der Menschen in die Mülltonne wirft, der befindet sich in der Religion der Erwählung. In der Freiheit der Gleichen und Brüderlichen ist er noch nicht angekommen.