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Welt retten! Aber subito! LVI

Tagesmail vom 03.03.2023

Welt retten! Aber subito! LVI,

gibt es noch gemeinsame Ziele für die Menschheit?

Gäbe es keine mehr: hätten die Völker noch eine Überlebenschance?

Wenn sie keine mehr hätten, wüssten wir dann nicht genau, welche Zukunft uns allen blüht?

Antwort: das weltweite Grauen aus globalen Bürgerkriegen, Klimaschrecken und sozialen Verwerfungen.

Oder wissen wir das etwa nicht? Ist das ein Geheimnis der Regierungen?

Antwort: gewiss wissen wir es, wollen es aber nicht wissen.

Wie nennen wir den Zustand: etwas zu wissen, was wir nicht wissen wollen?

Hoffen und glauben. Wir erhoffen, was wir glauben; was wir glauben, das erhoffen wir.

Befinden wir uns in einer Epoche des Hoffens und Glaubens?

In dieser Epoche befinden wir uns schon seit 2000 Jahren – seitdem die Religion des Glaubens und Hoffens die Römer, Germanen und später fast die ganze Welt im himmlischen Polizeigriff abführt. Angeblich ins Helle. Heute wissen wir: ins Rabenschwarze.

In welchem Griff? Im Griff des Hoffens, das noch nicht ist, und des Glaubens, das noch nie gesehen, gehört oder sonstwie empfunden oder gefühlt wurde.

Ernst Bloch sprach vom Prinzip Hoffnung.

Wir sollen im Zeitalter der Hoffnung leben? Kann gar nicht sein. Denn das wäre ja eine Zeit frohgemuten Aufbrechens. Wir aber entwickeln uns immer mehr zu Kollektivdepressiven.

Woran erkennen wir diese in allen Raffinessen auftretenden Depressionen? Etwa daran, dass wir immer schneller sprechen. Wir wollen nicht, dass andere uns genauer zuhören als wir uns selbst. Wer rasend daher schwadroniert, will nicht verstanden werden. Grund? Er versteht sich selbst nicht.

Schnellsprechen verschiebt den Zeitpunkt des Verstandenwerdens in die Zukunft, in eine Zeit, in der wir eines Tages vom Himmel vollständig durchschaut werden – so hoffen wir wenigstens.

Am Hoffen und Harren erkennt man den Narren – sagen nüchterne Großmütter.

Wenn man hofft und harrt, ohne zu wissen, warum, dann ist man – fortschrittsgläubig.

Der Fortschritt wird es schon bringen. Habt keine Angst vor der Zukunft.

Es ist wichtig, zu wissen, an welchem Zeitpunkt der Geschichte wir stehen. Nur wer weiß, wieviel Zeit ihm noch bleibt, kann seine Kräfte bündeln und seinen Pessimismus an die Leine nehmen.

Zukunftssüchtige sind Gegenwartsüberdrüssige. Die Gegenwart ertragen wir immer weniger, es sei, wir können sie hoffend und glaubend in Zukunft verwandeln. Können wir aber nicht.

Wie war das früher? Da war der Mensch noch vollkommen – das darf man nur flüstern, denn die Zukünftigen von heute können die Vergangenheitslobreden von früher nicht mehr ertragen.

Wer an das Prinzip Hoffnung glaubt: bitte das folgende Zitat ignorieren:

„Darum sagt der vollkommene Mensch: ich liebe die Stille und habe keine Wünsche. Wenn auch Panzer und Waffen da wären, gäbe es keinen Anlass, sie zu benutzen.“

Stille kann nur eintreten, wenn der vollkommene Augenblick den Menschen erfüllt und er weder in die Vergangenheit noch in die Zukunft fliehen muss.

Der Mensch sucht das Zeitalter der erfüllten Augenblicke oder der vollendeten Momente. Dazu aber müsste er die Uhren anhalten. Das würde ihn aber in Verzweiflung stürzen, denn Stille kann er nicht mehr ertragen. Das sieht aussichtslos aus. Das Gefühl der Aussichtslosigkeit ist die Quelle aller Depressionen und Hoffnungslosigkeiten.

Versuchen wir’s noch mal von der anderen Seite:

„Das Kennzeichen des vollkommenen Menschen auf jedem Gebiet ist die Stille; es ist eine Art philosophischen Nichthandelns, die Weigerung, in den natürlichen Ablauf der Dinge einzugreifen. Befindet sich der Staat in Unordnung, so soll man ihn nicht reformieren, sondern sein eigenes Leben zu einer wahren Erfüllung der Pflicht machen. Stößt man auf Widerstand, so ist es weiser, nicht zu streiten, zu kämpfen oder Krieg zu führen, sondern sich schweigend zurückzuziehen und – wenn überhaupt – durch Nachgiebigkeit und Geduld zu siegen. Nicht-Handeln feiert öfter Siege als Handeln.“

Ist das nicht jener Pazifismus, den wir in der Natur walten lassen sollten? Mal drüber nachdenken! Auf keinen Fall aber könnten wir ihn anderen vorschreiben.

Nein, still sind sie nicht, unsere Politiker, oft aber stumm. Deshalb sollte man annehmen, sie müssten auch handeln können. Doch potzblitz, sie handeln nicht, obwohl sie nie still sein können. Ein tiefes metaphysisches Rätsel. Gehören Politiker jetzt zu den Weisen, die es vorzogen, nicht ins Geschehen der Welt einzugreifen?

Bevor die Hochkultur ausbrach, gab es tatsächlich Weise, die den Menschen empfahlen: lasst eure Pfoten weg von der Natur, damit sie ungehindert machen kann, was sie für richtig hält. Wo immer ihr euch einmischt, macht ihr alles falsch.

Solche Sätze versteht man heute nicht mehr, seitdem die Weisheit auf den Kopf gestellt wurde:

Wer nicht ins Geschehen der Natur eingreift, um ihr alle Köstlichkeiten zu entreißen, ist ein Narr. Natur ist dazu da, um gemolken zu werden. Merkt ihr nicht, wie sie mit ihren Früchten und Schätzen reizt und paradiert, um die Menschen anzulocken und zu verführen?

Die urchinesische Auffassung vom Weisen ist das Gegenteil von den Offenbarungsempfängern der Erlöser. Diese müssen reden, um mit erleuchteten Worten die Menschen zu Gott zu bringen.

Der chinesische Weise, der die „Offenbarung“ der Natur zum Sprechen bringen will, bevorzugt die Stille. Entweder lernt der natürliche Mensch, die Stille der Natur zum lautlosen Sprechen zu bringen oder er sieht sich gezwungen, die Natur zum Aufschrei zu nötigen.

Die Kulturen der Offenbarung sind voll des Schreiens der Natur, die vom Himmel in den Würgegriff genommen wurde, damit sie ihr Bestes herausrückt – ob sie will oder nicht.

Am Anfang war alles bestens in der Natur der Schöpfung. Doch dann sollten die Menschen reinpfuschen – und plötzlich war alles malade und schrie wie am Spieß. Die Erde ertrank im Wasser, alles von vorne nochmal.

Ganz anders im Volk der Philosophen, das mehr als 1000 Jahre in sich selbst ruhte, so gut wie keine Kriege führte, wunderbare Dinge hervorbrachte und zum vorbildlichsten Staat der Welt wurde.

Erst, als die westlichen Nationen die Stille und Genügsamkeit des Reiches der Mitte mit blutigen Stiefeln zerstörten, mussten sie ihr vorbildliches Insichruhen ins Gegenteil verkehren und sich den Grausamkeiten des Westens unterordnen.

Ernst Bloch war nicht geeignet, die stillen Denker Chinas durch das Prinzip Hoffnung zu ersetzen. Denn wer hoffen muss, muss warten. Auf Natur aber muss man nicht warten: sie ist stets präsent.

Bloch musste revolutionär in die Zukunft hoffen, die Vergangenheit aber völlig abschreiben: Das wahre Leben beginnt erst morgen. Vergesst, was dahinten liegt. Blochs marxistische Hoffnung ist christliche Hoffnung. Hoffen heißt warten für ihn. Wer vorlaut und dreist zupackt, verliert alle Zukunft, die sich vorbehält, anzukommen, wann sie es selbst für richtig hält.

Blochs marxistisches Hoffnungsprinzip ist identisch mit der Hoffnung der Christen: warte nur, balde – steht die vollkommene Natur vor dir. Du kannst nur warten und zuschauen. Marxisten und Christen sind Zuschauer der Geschichte.

Es ist wie mit dem Herrn, der da kommen soll. Er kommt, wann er es für richtig hält. Die Hoffnung auf die Revolution ist dieselbe wie die auf das Wiederkommen des Herrn. Proleten müssen wachen und auf die Signale warten, die von ihren Auguren gesehen werden. Solange bleibt ihr Hoffen passiv und abwartend. Nicht anders als die Frommen, die wachen und beten müssen, bis der Herr an die Tür klopft. Erst dann dürfen sie sich rühren.

Dann ist Mitte der Zeit. Vergesst die Vergangenheit, sie ist nichts als lästige Vorgeschichte, die man abstreifen muss:

„Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (Bloch)

Ein schreckliches Zitat, das die mütterliche Urheimat der Menschen vernichtet, um die zukünftige Heimat der männerdominierten technischen Welt zur Geltung zu bringen.

Alles, was kommen wird, ist gut und vollkommen; alles, was war, ist Schrott von gestern. Streift ihn ab und beginnt die Schöpfung von vorne. Im Vergleich mit Bloch bleibt Silicon Valley eine hinterwäldlerische Bruchbude.

Das Neue von Bloch ist wie eine Genesis II, ein Marxist ist wie ein Christ, ein Gläubiger wie ein Atheist. Versteht man allmählich die Große Koalition atheistischer Frommer und gläubiger Marxisten in Berlin?

Um diese unheilige Liaison zu lösen, müsste man die schamanische Dialektik entfernen, um die unreinen Begriffe zu separieren und nur jene zusammenlassen, die zusammengehören: Welt ist Welt und Gott ist das ganz andere.

Da hört sich die Weisheit der alten Chinesen ganz anders an:

„Für das chinesische Denken ist kennzeichnend, dass es nicht von Heiligen, sondern von Weisen, nicht so sehr von gnädiger Güte, sondern von Weisheit spricht. Das Ideal für den Chinesen ist nicht der fromme Gläubige, sondern der reife und abgeklärte Geist, der Mensch, der zu Einfachheit und Schweigen zurückkehrt, obwohl er fähig wäre, eine bedeutende Stellung in der Welt einzunehmen. Schweigen ist der Weisheit Anfang. Der vollkommene Mensch ist bescheiden, falls er mehr als andere weiß, sucht er es zu verbergen. Der Einfältige steht ihm näher als der Gelehrte, und er ist frei vom Widerspruchsgeist des Neulings. Reichtum oder Macht misst er keine Bedeutung bei, seine Wünsche beschränkt er auf ein Minimum. »Der vollkommene Mensch wünscht, nicht zu wünschen. Schaffen wir höchste Leere, wahren wir feste Stille!«“

Reden wir nicht drum herum: hätte die Moderne die Fähigkeiten der chinesischen Philosophen der Stille und Genügsamkeit, wären wir nie in die Klimakatastrophe geschliddert.

Doch welche Zumutung: Heute müsste die Welt nichts weniger als weise werden, um knapp davonzukommen.

Der Kapitalismus wird mittlerweilen verflucht, doch noch immer gilt er als Beglücker, der die Menschheit mit Gütern überflutet.

Niemand stellt die Frage: werden Menschen wirklich friedliebender und humaner, wenn sie mit Luxus überschwemmt werden?

Wenn das so ist: wie wäre der folgende Artikel zu verstehen? Er beginnt traditionell:

„Menschen in reichen Ländern sind zufriedener als Menschen in armen Ländern. Da ist sich die Wissenschaft einig, mehrere Studien haben diesen Zusammenhang festgestellt. Doch nun kommen zwei Ökonomen zu einem überraschenden Befund: Je reicher ein Land, desto unglücklicher ist seine Jugend. Die beiden Autoren führen das Ergebnis darauf zurück, dass für die Jugendlichen der Stress zunimmt, je wohlhabender ihr Land ist. Das sei ein Paradox, das wissenschaftlich bislang noch nicht bekannt gewesen sei. »Die Investitionen der Eltern in die Bildung ihrer Kinder ist in Ländern mit hohem Einkommen am höchsten, ebenso wie die Erwartungen der Lehrer und Eltern an die kognitiven Anstrengungen der Kinder«, schreiben die Autoren. In Ländern mit mittlerem Einkommen seien die Bildungsanforderungen »tendenziell gering«, Jugendliche erlebten dort »ein hohes Maß an Wohlbefinden«.“ (SPIEGEL.de)

Ein absurder Artikel. Für Jugendliche nimmt der Stress zu, je wohlhabender ihr Land ist? Das soll ein Paradox sein. (Alles ist ein Paradox, was Wissenschaftler nicht erklären können.) Wird es für Jugendliche nicht immer mühsamer und stressiger, je mehr sie unter Druck geraten, in die höheren Ränge aufzusteigen, um immer mehr Reichtum und Macht zu schaufeln?

Ist Wissenschaftlern nicht bekannt, dass die Karriere-Bildung der Kinder mit wahrer Bildung nicht das Geringste zu tun hat? Dass sie nur Kniffe einüben müssen, um die Konkurrenz abzuhängen?

„In Ländern mit mittlerem Einkommen seien die Bildungsanforderungen tendenziell gering, Jugendliche erlebten dort ein hohes Maß an Wohlbefinden?“ Was an dieser Tatsache ist verwunderlich, wenn die Früchte der Anstrengung gar nicht so hoch hängen wie in jenen Ländern, wo man ein Genie sein muss, um mit Elon Musk zu konkurrieren?

Ist man weise, wenn man Testfragen quantitativ erfolgreich beantwortet – oder ist man nur ein Fachidiot? Können quantitative Methoden qualitative Weisheit erfassen? Vor allem: wie können unglückliche Jugendliche zu glücklichen Erwachsenen heranreifen?

Könnten sie vielleicht, wenn sie zu einer berufsmäßigen Psychotherapie verpflichtet werden? Vielleicht kommt das ja noch, um die Depressionsgesichter von der Straße zu kriegen.

Wie können die Jugendlichen von heute mit sich und der Welt zufrieden sein, wenn sie sich vom naturfressenden Kapitalismus um ihre Zukunft betrogen fühlen? Wenn sie nie mit sich zufrieden sein dürfen, es sei, sie konkurrieren gegeneinander in allen Dingen? Zufriedenheit ist nämlich ein Laster des dummen Pöbels?

Wie können die Superreichen mit sich zufrieden sein, wenn sie die Zukunft des Planeten gefährden – kaltblütig und ohne mit der Wimper zu zucken? Haben diese Giganten noch einen einzigen Funken Mitgefühl mit der Gattung? Ihre Einstellung scheint gnadenlos zu sein: uns doch egal, was geschieht. Wir werden immer das Schlupfloch finden, durch das wir ins Unendliche schlüpfen.

Unterdessen sind unsere bewundernswerten Jugendlichen schon wieder dabei, für die Rettung der Welt zu trommeln. Die Medien sitzen in ihren neutralen Logen und kommentieren überheblich wie einst die Gladiatorenspiele im Alten Rom:

„Im Vergleich mit ihren Kombattanten von der »Letzten Generation« wirken die FFFlerinnen und FFFler wie eine Messdienergruppe auf Pilgerfahrt nach Altötting. Allerdings hat diese Bewegung bislang politisch deutlich mehr erreicht als die nach krawalliger Aufmerksamkeit heischende »Letzte Generation«. Schon Angela Merkel hatte eingeräumt, dass die Klimagesetzgebung unter ihrer Kanzlerschaft wohl ohne den Druck der Straße nicht so weit vorangeschritten wäre. Und Ikonen wie Greta Thunberg gehören bei Institutionen wie den Vereinten Nationen, dem Weltwirtschaftsforum oder anderen internationalen Konferenzen längt zum festen Inventar an Rednerinnen und Rednern.“ (SPIEGEL.de)

Gibt es noch gemeinsame Ziele für die Menschheit? Ein Kommentator des Guardian sieht schwarz:

„Die ganze Idee, dass der Westen erfolgreich einen universellen, modernen Kreuzzug für die Demokratie – oder einen zweiten Kalten Krieg – führt, ist geschichtsvergessen, blind für Veränderungen und heimlich neoimperialistisch. Mehr noch, es ist ein aussichtsloses Unterfangen.“ (der-Freitag.de)

In der Tat, mit Gewalt und globalisierter Ausbeutungswirtschaft lässt sich keine Werbung für Demokratie betreiben. Doch haben wir vergessen, wofür Demokratie eigentlich steht? Für die Würde des Menschen in Freiheit und Gleichheit?

Wie können wir globalen Frieden herstellen, wenn wir Demokratie auf den Misthaufen der Geschichte werfen?

Fortsetzung folgt.