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Tanz des Aufruhrs XXX

Tanz des Aufruhrs XXX,

Einige begreifen sofort: Der Mann im Mercedes muss ausgeschaltet werden, bevor er weiterfahren kann und noch mehr Menschen verletzt. Unter ihnen ist eine 16-Jährige, die zur Heldin wird! Sie berichtete, was sie in diesen dramatischen Sekunden am Tatort erlebte. Wie sie zuerst ihre Mutter, die auch vom Auto getroffen worden war und Prellungen erlitten hatte, von der Straße zog. Wie sie sich vergewisserte, dass ihre Schwester und deren Freundin in Sicherheit waren. Dann sei sie direkt zum Auto gelaufen, um den Fahrer zu stoppen: „Ich habe die Beifahrertür aufgerissen und wollte den Schlüssel rausziehen. Er packte mich an den Haaren, begann mich zu würgen, hat immer wieder versucht, das Auto zu starten, das aber nicht geschafft.“ Im nächsten Moment seien drei kräftige Männer von der anderen Seite gekommen. Sie hätten auf Maurice Pahler eingeschlagen. Unheimlich: Pahler habe dabei nicht ein Wort gesagt. Die mutige Helferin: „Der hat einen total leer und tot angeguckt und dabei so zufrieden gewirkt. Das war angsteinflößend, wie zufrieden er gewirkt hat.“ (BILD.de)

Mörder und Verbrecher haben Namen und Gesichter, die millionenfach verbreitet werden – Helden müssen anonym bleiben. Wenn‘s hoch kommt, dürfen sie ihre Heldentaten in ein Mikrofon erzählen. Nach ihren Gründen und Motiven wird nicht gefragt. Morgen hat man sie vergessen.

Das Gute versteht sich von selbst, das Diabolische muss den status mundi repräsentieren. Eine Gegen-BILD mit heldenhaften Gutmenschen unter Minimalisierung der Bösen wäre ein Rohrkrepierer.

Ist es kein gutes Zeichen, wenn das Gute die Norm ist, worüber nicht viel gesprochen werden muss – und das Böse die schreckliche Ausnahme, die in die Welt gebrüllt werden muss, um sie zu warnen und aufzurütteln?

Nichts geredet ist genug gelobt, ist das Motto einer Welt, in der das Gute als normal gilt: die notwendige Selbstüberprüfung der Normalität aber wird durch Schweigen erstickt. Vergeht aber kaum ein Tag, an dem nicht das Böse die Schlagzeilen beherrscht und das Gute von elitären Moralhassern verhöhnt …

… wird, trägt die Zurschaustellung des Bösen dazu bei, die Welt immer mehr zu infernalisieren.

Wer fürchtet, vom Guten befleckt zu werden, wenn er sich mit ihm gemein macht, befleckt sich automatisch mit dem Bösen, das er unbehelligt lässt. Das Böse wird zur mutigen Heldentat, das Gute kann vernachlässigt werden.

Das ist deutsche Gegenwart. Das Gute wird zur sauren Pflicht staatlicher Selbstdarstellung, das Böse zum Nonplusultra in der politischen Arena.

„Warum? Was wissen wir, was wissen wir nicht?“: die mediale Herausstellung des Bösen tut, als wolle man von ihm alles wissen. Wie konnte es entstehen, unter welchen Bedingungen konnte es aufwachsen? Warum bemerkte man es nicht früher?

Doch die Fragen sind nur Scheinfragen. In Wirklichkeit gibt es kein Interesse für das „Ist“. Das erwartbare Nichterklärenkönnen der Ursachen des Bösen soll zeigen: das Böse ist nicht erklärbar und nicht erfassbar. Wer tut, als könne er es durch Verstehen erklären, ist ein gefährlicher Aufschneider, der das Böse all seiner Verruchtheit entkleiden will. Durch Verharmlosen wird er zum Propagator des Verderblichen.

Das einzige Mittel, das Böse zu bekämpfen, ist, es in die religiöse Sphäre des tremendum und fascinosum, des Schrecklich-Faszinierenden, zu erheben. Hier genügt kein irdischer Verstand, kein lächerlicher Versuch der Vernunft, das Überirdische zu durchschauen.

Jedes Verbrechen wird zum willkommenen Ereignis für den Zeitgeist: Aufklärung und Vernunft taugen nicht zur Erklärung, der Mensch muss zurück in die Sphäre der Erleuchtung. Für die Kirchen ist es ein inneres Fest, wenn nicht nur Trauerfeiern ohne sakramentale Aura unmöglich sind, sondern die Erkenntnis der Welt sich wieder mal als Torheit vor Gott entlarvt hat.

Warum? Gibt es Gründe für die böse Tat? Sollte der Täter selbst ein Opfer sein? Diese Fragen sollen nicht beantwortet, sondern ad absurdum geführt werden. Ohnehin könnte man sie nur beantworten, wenn man mit dem Delinquenten lange Gespräche geführt hätte. Doch außer Sensationen will BILD nichts wissen. Sensationen müssen den Angeklagten noch mehr anklagen, nicht, ihn zum Opfer seiner Umgebung verharmlosen.

Psychologie und Soziologie sind die Geisteswissenschaften, die sich die Aufgabe stellten, den Menschen zu verstehen oder zu erklären. Erklären will objektiv sein, beim Verstehen kommt das subjektive Aha-Erlebnis hinzu.

Im Sog der triumphierenden Naturwissenschaften, die in fortschreitender Erkenntnis die Gesetze der Natur fanden, wollten die Geisteswissenschaften die objektive Erkenntnis auf das Gebiet des Menschlichen ausweiten.

Doch hier stock ich schon. Würde die subjekt-unabhängige Erkenntnis des Menschen nicht voraussetzen, dass in seinem Bereich dieselben objektiven Gesetze gelten wie in der Natur? Was bedeuten würde, der Mensch wäre nichts als ein Wesen der Natur – und kein Herr der Natur, der mit seinem Geist die Natur überragt?

Natur ist berechenbar und beherrschbar, weil sie unveränderbaren Gesetzen folgt. Der menschliche Geist hingegen ist frei. Freiheit untersteht keinen Gesetzen, sondern ist unberechenbarer Wille.

Wie Gott nicht seinen eigenen Gesetzen der Logik, Wissenschaft und Moral untersteht – deklarierten bereits die Mönche des Mittelalters –, so wenig untersteht die Krone der Schöpfung den Gesetzen der berechenbaren, dennoch minderwertigen und sündigen Natur.

Der göttliche Wille ist frei von allem, so frei, wie der Neoliberalismus sein will, wenn er sich von allen Gesetzen des „Staates“ (der Demokratie) löst. Mit Ausnahme der Gesetze der Polizei und der Müllordnung. Die absolute Freiheit des göttlichen Willens – den auch der Neoliberale für sich reklamiert – nennen die Gelehrten Voluntarismus.

Je mehr die Neuzeit voranschreitet, je voluntaristischer werden die Philosophien. Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht jenseits von Gut und Böse – also jenseits aller Moral – war der Höhepunkt des modernen Voluntarismus.

Die unüberbrückbare Kluft zwischen den Regeln der Moral und der Regelverachtung des Voluntarismus zerreißt den modernen Menschen. Im Privaten soll er moralisch sein, als Anhänger des Fortschritts sich aber von allen regelhaften Fesseln frei machen und die Natur durch Erkennen domestizieren.

Lerne herrschen durch Gehorchen: in der Devise Francis Bacons bezieht sich das Gehorchen auf die ehernen Gesetze der Natur, die man erkennen muss – und das Herrschen auf die technische Art und Weise, mit der die Natur in den Würgegriff genommen wird.

Hier ist der riesige Unterschied zwischen Griechen und Christen zu erkennen. Erkennen war für die Griechen kein Unterordnen unter eine sündige Natur, sondern Heimkehr in den Kosmos. Herrschen als tyrannischer Akt über die Natur lehnten sie ab, weshalb sie zwar die naturphilosophischen Grundlagen legten, aber keine Naturwissenschaft entwickelten.

Der Einschnitt war bei Sokrates, der sich, nach frühen Lehrjahren in der Naturphilosophie, von dieser abwandte – mit der Begründung, die Natur könne ihn nicht lehren, welches Tier er selber sei. Er holte, wie Cicero trefflich formulierte, die Philosophie vom Himmel auf die Erde.

Alles spricht dafür, dass dieser Prozess der Bescheidung in der Neuzeit wieder rückgängig gemacht wurde. Denn die Faszination der Naturwissenschaft bezieht sich ausschließlich auf die technische Macht ihrer Erkenntnisse.

Vieles spricht dafür, dass die Naturwissenschaft der Gegenwart mit ihrem ungeheuren Aufwand, der Natur Geheimnisse zu entlocken, in einer Sackgasse gelandet ist. Eine pseudoreligiöse Faszination dient ihr zu keinem anderen Zweck, als den erkenntnislosen Leerlauf ihrer Forschung zu überdecken. Heisenberg war der letzte, der noch eine Weltformel versuchte. Vergeblich. Seine Nachfolger bis zum heutigen Tag geben es zwar nicht zu: doch auch sie wollen eine Synthese ihrer unverträglichen Subsysteme. Bis heute ist es ihnen noch nicht gelungen, die Kausalität der Naturgesetze mit der Wahrscheinlichkeit der Quantenphysik in Übereinstimmung zu bringen.

Das Unbehagen der Moderne bezieht sich auf diesen Abgrund der Unzuverlässigkeit: kann man der Natur wirklich vertrauen, wenn sie in ihren kleinsten Elementen zu Kapriolen neigt?

Die krankhafte Fortschrittsbesessenheit könnte mit diesem unterschwelligen Misstrauen gegen die Natur zusammen hängen. Je schwankender der Boden, auf dem wir stehen, je zwanghafter der Reflex, durch Überwinden aller Grenzen sich diesem Boden zu entziehen. In der Hoffnung, durch neue Erkenntnisse die Mängel der alten zu überwinden.

Die vielfach gespaltene Naturwissenschaft muss sich den Vorwurf gefallen lassen, an die Stelle der schlechten Unendlichkeit der Religion getreten zu sein. Man kann endlos im Ungefähren schwimmen, nur um der Pflicht zu entgehen, sich mit den Plagen der Endlichkeit zu beschäftigen. In Geschlechtersprache: weil Vater unfähig ist, sich mit Kindern und Familie zu beschäftigen, muss er seine Unfähigkeit rechtfertigen durch seinen Beruf, als erfände er außer Haus die Schöpfung ein zweites Mal.

„Hegel definiert die “schlechte Unendlichkeit” als diejenige, bei der sich die Operation zur Überwindung der Endlichkeit immer gleichbleibend wiederholt und dabei nie zum Ziel kommt.“

Hegels gute Unendlichkeit war die Synthese aus Endlichem und Unendlichem. Dass ihm diese Synthese geglückt sei, darf man bezweifeln. Der Urwunsch nach einer solchen Synthese aber zeigt, dass der Mensch in seinem Unendlichkeitswahn sich zurücksehnt in das Vertraute und Heimatliche.

Hegels Synthese wollte den griechischen Glauben an den begrenzten Kosmos zusammenbringen mit dem Unbegrenzten des allmächtigen christlichen Gottes. Ein Akt der Unmöglichkeit. Hegel glaubte an ein finales Wunder. An eben dieses Wunder glaubt der rasende Fortschritt der Menschheit, der sich nicht die geringste Pause gönnt, um zu schauen, wo er steht, woher er kommt und wohin er will. Alle Bedenken werden geknebelt, damit die heiß laufenden Motoren nicht zur Ruhe kommen, um zu überschauen, was sie wollen.

Hayeks Glaube an den göttlichen Zufall, der die Dinge des Menschen besser leitet als dieser selbst, ist die Parallele zu Hegels Ziel, das Unendliche an das Endliche anzudocken. Der Mensch ist, nach Hayek, unfähig, die verborgene Logik des Zufalls aufzudecken. Dass dieser Zufall weitaus vernünftiger ist als die jämmerliche Vernunft des Menschen: daran hegt Hayek keinen Zweifel. Das ist keine sokratische Bescheidenheit, wie Popper seinen großen Gönner Hayek missverstand. Das ist Hybris im Modus der Hinfälligkeit.

Die Verunsicherung des Menschen ist nicht nur politischer Art. Sie wurzelt in den tiefsten Urgründen des Menschseins, durchdringt noch das Hurrageschrei bei der Flucht ins Unbegrenzte. Wir haben uns daran gewöhnt, durch schrille Sensationserkenntnisse die faulig modernden Uraltprobleme nicht mehr inhalieren zu müssen.

Doch eins ist klar. Und wenn die Fähigkeiten des Menschen, sich selbst zu betrügen, noch so groß wären: so groß sind sie nicht, dass er sich für alle Zeiten betrügen könnte. Nach langen Phasen des Selbstbetrugs wird es der Mensch nicht mehr aushalten und Remedur machen. Bleibt zu hoffen, dass er dann noch Zeit haben wird, seinen babylonischen Turm selbst zum Einsturz zu bringen – nachdem er sich zuvor in Sicherheit gebracht hat.

Weil wir unsere Hausaufgaben auf Erden nicht lösen, hoffen wir, uns dem Eingeständnis unseres Versagens zu entziehen durch Flucht ins Imaginäre. Der Jenseitsglaube der Religion wurde zum Jenseitsglauben der Wissenschaft.  

Liebe glaubet alles und hoffet alles. Doch es könnte des Guten zu viel sein, wenn man nur noch blind glauben und hoffen darf. Der tyrannische Fortschritt ähnelt den Amokläufern auf Erden, die mitten in die Menge steuern, koste es, was es wolle: Hauptsache, Zuckerberg und Elon Musk landen auf dem Mars – wo die Tragödie von vorne beginnt.

Alles spricht dafür, dass die sokratische Bescheidung, sich der Lösung der menschlichen Probleme zu widmen, der notwendige Wink sein könnte, die Unendlichkeit dem Himmel zu überlassen und sich der Therapie der irdischen Wunden zu widmen.

Der Mensch ist nicht nur Geist, er ist immer auch Fleisch. Fleisch ist berechenbare Natur, der geniale Geist ist nicht zu fassen. Da der Mensch ein Mischwesen aus Fleisch und Geist ist, wäre es notwendig, das berechenbar Fleischliche vom unberechenbaren Geist streng zu trennen. An diesem Punkt treffen wir auf die blutende Naht, an der das Abendland griechisches und christliches Denken miteinander vernähen wollte.

Insofern der Mensch verlässliches Naturwesen ist, ist er griechisch. Insofern er unberechenbares Geistwesen ist, ist er christlich. Wie das? Kannten die Griechen keinen Geist? Kannten die Christen kein Fleisch? Doch, die Griechen kannten den Geist, aber einen Geist, der sich nicht über die Natur erhob, um sie zu domestizieren. Die Christen legten Wert auf das Fleisch, welches aber durch den Glauben wirkungslos wird. Wie unsinnig es ist, die Natur als geistlos zu definieren, so unsinnig ist es, den Geist des Menschen als fleischlos zu charakterisieren.

Wenn der Mensch einerseits ein vollständiges Teilchen der Natur und also deren Gesetzen untertan ist, andererseits aber einen freien Willen haben soll: wie passt das zusammen?

Epikur war einer der ersten, der dieses Problem in aller Schärfe erkannt hatte. Wie versuchte er das Problem zu lösen? Auf keinen Fall durch Rekurs auf Wahnvorstellungen der Religion:

„Er leugnete die Allgemeinheit des Kausalgesetzes und subsumierte die Freiheit zusammen mit dem Zufall unter den Begriff des ursachlosen Geschehens. So ist, im Gegensatz zum stoischen Determinismus, jener meta-physische Freiheitsbegriff entstanden, vermöge dessen Epikur die ursachlose Willensfunktion des Menschen parallelisierte mit der ursachlosen Abweichung des Atoms von der eigentlich – notwendigen Falllinie. Mit dieser Freiheit des Indeterminismus als ursachlose Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten wollte Epikur die menschliche Verantwortlichkeit retten. Im Gegensatz zu Epikur hat die Stoa an der vollen Kausalität festgehalten.“ (Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie)

Man kann nicht sagen, Epikur habe den gordischen Knoten gelöst. Den freien Willen konnte er nur durch Beschädigen der Kausalität retten. Im Gegensatz zu Epikur hielt die Stoa an der Harmonie der Kausalität mit dem freien Willen fest. Kritisch könnte man sagen: die Stoa glaubte an den freien Willen – gegen allen natürlichen Augenschein.

Der Glaube der Griechen an die Geborgenheit in der Natur wurde gestört durch die Erkenntnis der Naturgesetze, die sie mit der neu erarbeiteten Freiheit der Demokratie nicht vereinbaren konnten. Während die Stoiker sich mit einem „blinden Glauben“ an die Vereinbarkeit begnügten, versuchte Epikur, eine Seite herunterzudimmen, um die andere zu retten. Er leugnete die Allgemeinheit der Kausalität und rettete den freien Willen durch die „ursachlose Wahl eines indeterminierten Willens“.

Mit anderen Worten: Epikur entzog den Menschen dem kausalen Mycel der Natur und machte ihn – zu Gott. Denn das war die Definition des Gottes als Wesen oberhalb der Natur. Dies war die Vorarbeit zum christlichen Schöpfer, der jenseits aller Natur stand. Die Stoa hingegen bereitete eine andere christliche Überzeugung vor:

„Es ist aber der Glaube eine Zuversicht auf das, was man hofft, eine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht.“

Nicht sieht und nicht erkennen kann. Gott lässt sich vom natürlichen Menschen nicht erkennen. Nur durch übernatürliche Offenbarung gibt er dem Menschen eine Chance, seine Existenz zu erahnen. Nicht nur Platon war ein Vorläufer des Christentums.

Wie aber löst das Christentum das Problem des freien Willens? Nun festhalten: wie Epikur und die Stoa. Wie Epikur, indem es die Natur dem unberechenbaren Willen Gottes unterwarf und die Kausalität nach Belieben einschränkte; wie die Stoa, indem es Glauben an das Unerkennbare forderte.

Der Katholizismus predigte den freien Willen wie Epikur – indem er das Problem einer determinierten Natur hintanstellte und an den „Zufall“ göttlicher Eingriffe glaubte.

Der Protestantismus mit Luther und Calvin leugnete den freien Willen des natürlichen Menschen. Nur durch Wiedergeburt erhielte der Mensch seinen freien Willen, identisch mit dem Willen Gottes. Während die Stoiker blind an den freien Willen glaubten, glaubten die Christen blind an den unfreien Willen, obgleich sie ihn mit der Botschaft: Christus hat euch frei gemacht, nicht vereinbaren konnten.

Wir stehen in vermintem Gelände. Hat die Moderne das Problem gelöst? Nicht im Geringsten.

Das zeigt sich an den nervösen Debatten um die Schuldfähigkeit der Verbrecher. Hätten diese einen freien Willen, müsste man sie wegen schrecklicher Taten schrecklich bestrafen. Die Fraktion derer, die sie schrecklich bestrafen wollen, muss an ihren freien Willen glauben. Die Fraktion derer, die ihre Schuldfähigkeit bezweifeln, muss an ihren unfreien Willen glauben.

„Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“

Leicht zu sehen, dass dieser Schuldbegriff kein rationaler, sondern ein theologischer ist. Aus welchem Grund sollte jemand, der das Unrecht seiner Tat erkennen könnte, diese Untat begehen? Das wäre eine unbegreifliche Schuld oder der Einbruch des satanisch Bösen in das menschliche Leben.

Noch schlimmer: der Einbruch jenes Bösen, das von Gott (als Strafe für eine denkfähige Frau) über alle Menschheit verhängt wurde. Der Gläubige kann das Böse seiner Tat erkennen, doch der böse unfreie Wille, von Gott verhängt, vom Teufel ausgeführt, zwingt ihn zum Bösen – ob er will oder nicht.

Hier sinkt alles unter sich. Just dieser mehrfach widersprüchliche, von Gott auferlegte böse Wille ist der Schuldbegriff des deutschen Rechts. Kein Zufall, dass die deutschen Richter in priesterlichen Talaren auftreten.

Thomas Fischer, Jurist, frotzelt über alle Versuche, die meisten Verbrecher in Kranke zu verwandeln:

„Wir können all diese Fragen hier nicht klären. Wir haben keine Ahnung. Wir stehen staunend da und betrachten einen Durchmarsch von Begriffen, Analysen, Urteilen und Schlussfolgerungen, die sich ohne jede Sachkenntnis aus sich selbst zeugen und fortzeugen und schon am dritten Tag zu Metaanalysen auftürmen.“ (SPIEGEL.de)

Anstatt sich mit den schwierigen Problemen auseinanderzusetzen, vermittelt der Fachmann die Arroganz des Wissenden, der es nicht nötig hat, sein Wissen vor dem nicht-juristischen Pöbel auszubreiten.

Um seine seelisch intakte Schuld zu retten, lässt er sich hinreißen, ein ganzes Volk für unschuldig zu erklären, um es zur Beute weniger Irrsinniger zu erklären:

„Schon die NS-Diktatur wurde von einigen wenigen Irren mittels teuflisch geschickter Gehirnwäsche an 60 Millionen Gutgläubigen verursacht.“

Was bedeutet: die Deutschen wurden nur schuldig, weil sie sich von einer Clique weniger Irrer verführen ließen. Das NS-Gift war nicht in ihnen. Wären sie nur nicht so gutmütig gewesen, hätten sie nur nicht einigen Irren geglaubt, wäre das Verbrechen des Jahrhunderts vermeidbar gewesen. Das ist Bewältigen deutscher Schuld durch einen juristischen Faustschlag.

Fischer konsultiert das Gewusel psychischer Symptombeschreibungen, um ihren Erkenntniswert zu bezweifeln. Doch das Wesentliche entging ihm: empirische Symptome an sich sagen nichts. Sie müssen von der Urteilskraft des Menschen bewertet werden. Die Kategorien der Seelenkenner aber wollen mit der politischen Realität selten zu tun haben.

Wenn Massenneurose vor Einzelneurose schützt, ist es sinnlos, individuelle Krankheitsphänomene zu isolieren und den gesellschaftlichen Zusammenhang zu ignorieren. Der Einzelne kann instrumentell hochrational sein in einer Gesellschaft, die sich in ein Kollektiv von Mördern verwandelt. Ergo muss die ganze Gesellschaft auf die Couch, um beschrieben und beurteilt zu werden. Psychiater haben keine poltischen Kriterien. Ihre Kunstsprache orientiert sich nicht an den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie produziert werden.

Nach welchen Kriterien urteilen wir? Nach den höchsten, nach den sokratischen. Nach Sokrates ist das Ziel des Lebens das Glück (eudamonie) durch gutes Handeln.

„Denn „die Philosophie sagt immer dasselbe“: nämlich die Wahrheit, dass es nur ein wirkliches Unglück gibt, schlecht oder ungerecht zu handeln, und nur ein wirkliches Glück, gut oder gerecht zu handeln. Diese Überzeugung ist nicht nur eine Erkenntnis, sondern auch eine Kraft: der gute Mensch ist stärker als der böse, dieser kann daher jenem keinen wirklichen Schaden zufügen, immer in der Voraussetzung, dass jene unerschütterliche seelische Haltung ein höherer Wert sei als alle äußeren Güter.“ (Nestle)

Wenn Glück durch gutes Handeln der höchste Wert des Lebens und das Zeichen höchster seelischer Gesundheit und Kraft ist, so muss alles, was von dieser Norm abweicht, als Krankheit betrachtet werden.

Für die ganze Menschheit gilt: solange es ihr nicht gelingt, für alle Menschen ein friedliches und erfülltes Leben zu schaffen, muss sie als krank bezeichnet werden. Eine Utopie wäre eine Menschheit in unerschütterlicher seelischer Gesundheit. Neurosen und Psychosen Einzelner wären so uninteressant wie ihre naturvernichtende, marode Leistungsfähigkeit, die so tut, als könne sie vor Kraft nicht laufen. Gesundheit hängt nicht vom Erfolg ab, Mensch und Natur zu unterjochen, sondern einzig von der Fähigkeit, als glücklicher Mensch unter glücklichen Menschen zu leben. Krankheit wäre alles, was diese Norm um ein Jota verfehlt.

Der abendländische Mensch wurde am Beginn der Neuzeit von Descartes gespalten: der Körper wurde zur Maschine, der Geist zum körperlos-freien gottähnlichen Ding.

Auf der einen Seite der Mensch als griechisches Naturwesen, das zur Strafe für seine Gottlosigkeit zur Maschine wurde, auf der anderen Seite das christliche Geistwesen, das durch Erleuchtung von aller sündigen Natur erlöst ward. In der Geschichte der Geisteswissenschaft prallen zwei unvereinbare Prinzipien aufeinander:

„Das eine sucht Gesetze, das andere individuelle Gestalten. In dem einen treibt das Denken von der Feststellung des Besonderen zum Allgemeinen, im anderen wird die liebevolle Ausprägung des Besonderen festgehalten. Hieraus folgt, dass im naturwissenschaftlichen Denken die Neigung zur Abstraktion überwiegt, im historischen dagegen diejenige der Anschaulichkeit.“ (Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft)

Das Wissen allgemeiner Gesetze ermöglicht den praktischen Wert, die Voraussicht künftiger Ereignisse und ein zweckmäßiges Eingreifen des Menschen in den Lauf der Dinge, wodurch die Herrschaft über die Natur erweitert werden kann.

Griechen waren die Vertreter der ehernen Naturgesetze. Wenn aber alles gleich bleibt, wiederholt sich alles. „Es kann nichts Neues geben. Wie schrecklich für die Griechen, dass sie alles in periodischer Wiederkehr aller Dinge erleben mussten. Wie schlimm entwertet ist das Leben, wenn es genau so, wer weiß, wie oft da gewesen sein und, wer wie oft noch wiederholen soll – wie entsetzlich der Gedanke, dass ich als derselbe schon einmal dasselbe gelebt und gelitten, gestrebt und gestritten, geliebt und gehasst, gedacht und gewollt haben soll. Was vom einzelnen Menschenleben gilt, gilt erst recht vom gesamten geschichtlichen Prozess: er hat nur Wert, wenn er einmalig ist. Dies ist das Prinzip, welches die christliche Philosophie gegen den Hellenismus behauptet. Im Mittelpunkt ihrer Weltsicht standen von vorneherein Fall und Erlösung des Menschen als einmalige Tatsachen. Das war zum ersten Mal das unveräußerliche Recht der Historik, das Vergangene in dieser einmaligen unwiederholbaren Wirklichkeit für die Erinnerung der Menschheit festzuhalten.“ (ebenda)

Auf der griechischen Seite die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Dinge, über allen Wechsel erhaben; auf der christlichen Seite die Unvergleichlichkeit wertvoller Einzelgestaltungen.

Für den Erlöser gibt es keine Menschheit, sondern nur den Einzelnen, den er bei seinem Namen ruft. Nicht der allgemeine Mensch wird erlöst, sondern der erwählte Einzelne. Geschichte ist keine ewige Wiederholung des Gleichen, sondern Zeitenfolge unvergleichlicher „Augenblicke“ (Kierkegaard) .

Die moderne Geschichtswissenschaft hat sich eindeutig auf die Seite der Christen gestellt, verleugnet jede Wiederholung und verhöhnt jedes Ansinnen, aus der Geschichte zu lernen. Denn Lernen kann man nur aus zuverlässigen Wiederholungen.

Sofern der Verbrecher ein griechisches Naturwesen ist, kann man ihn erklären, sofern er ein christliches Geistwesen ist, bleibt er ein ewiges Rätsel. CDU-Kanzlerkandidat Laschet hat diesen Zusammenhang noch nicht verstanden. Nicht alle seelisch Kranken hätten Verbrechen begangen, also könne der Täter von Hanau nicht freigesprochen werden. Das Allgemeine wird vom Besonderen in seiner generellen Wirkung eingeschränkt. Verbrecher sind keine Maschinen, die einander vollkommen ähnlich wären.

Hier stehen wir. Das deutsche Recht gibt zwar die Tatsache verminderter Schuldfähigkeit per seelischer Krankheiten zu, aber nur, um diese determinierte Schuldunfähigkeit sofort zu verwerfen. Würde das Recht den Menschen nur als determiniertes Wesen betrachten, könnte es seine dicken Wälzer mit unzähligen Schuldsophistereien einpacken.

Also lässt es Seelenkenner zu, die vor lauter Symptomen das Denken vergessen haben. Symptome sind das eine, ihre Bewertungen das andere. In dem, was empirisch vor Augen ist, liegt nicht zugleich die moralische Beurteilung – die im Kopfe des Menschen gefunden werden muss.

Und das ist das Vorrecht des Geistes – der in keiner Weise über der Natur schwebt, sondern, wie das Fleisch, Bestandteil der Natur ist. Welch eine Blasphemie, Mutter Natur geistlos zu nennen.

Der Mensch ist keine Maschine. In dem Maße aber, in dem er seine angeborenen Instinkte nicht zu kultivieren verstand, in dem Maße ist er berechenbar. Denn der freie Wille folgt seiner Einsicht, und die wechselt in hohem Maße. In seiner Erziehung, die ihn schädigte, wuchsen die irrationalen Reflexe seiner Rache, mit denen er die Gesellschaft heimsucht.

Den Fall eines Steines kann man berechnen, durch Berechnen erklären. Kein Mensch ist ein Stein, aber er hat stein-ähnliche Elemente. Die kann man durch Anamnese ans Licht bringen, um dem Verbrecher die Chance eines Neuanfangs zu geben.

Bleibt noch das Verstehen, das von BILD-Reichelt als „Verstehensideologie“ an den Pranger gestellt wird, um zu verhindern, dass die Bösen zu gut wegkommen. Wer nicht verstehen will, hasst den Menschen, der sich als Opfer der Gesellschaft aufspielt, um seiner „gerechten Strafe“ zu entkommen. Das ist eine moderne Variante der Inquisition, für die die Schuld des Angeklagten von vorne herein feststand – durch das Zeugnis der heiligen Schrift.

Wer den Verbrecher nicht verstehen will, will sich selbst nicht verstehen. Er verleugnet sein Menschsein, das in jedem Menschen seinen Bruder und seine Schwester erkennt.

Alles verstehen, heißt nicht alles verzeihen. Schon gar nicht das Nichtverstehen.

Fortsetzung folgt.