Kategorien
Tagesmail

Sonntag, 30. September 2012 – Westliche Arroganz

Hello, Freunde von GG,

der SPIEGEL hat einen Stich. Weil GG einen neuen Gedichtband veröffentlicht hat, in dem er Israels „Atomverräter“ Vanunu würdigt, der in Israel zu langen Haftstrafen verurteilt wurde, schreibt das Blatt: „Grass stichelt erneut gegen Israel“. Dabei geht es dem Dichter nicht nur um Vanunu, er fordert generell zum militärischen Geheimnisverrat auf. „Drum, wer ein Vorbild sucht, versuche ihm zu gleichen, entkleide, werde mündig, spreche aus, was anderswo in Texas, Kiel, China, im Iran und Russlands Weite erklügelt wird und uns verborgen bleibt“.

Übrigens hat Grass sein viel gescholtenes früheres Gedicht gegen Israel revidiert. Es heißt jetzt nicht mehr, die „Atommacht Israel“ gefährde den Weltfrieden, sondern die „gegenwärtige Regierung der Atommacht Israel“. Kaum eine Gazette, die es für nötig hielt, ihr Urteil über einen starrsinnigen kritikresisten Greis zu revidieren.

 

Die TAZ bringt ein Interview mit einem Mitglied der Pussy Riots mit dem Pseudonym Schljapa, in dem die Künstlerin die politischen Prinzipien der Frauengruppe erklärt. Jede Aktion der Gruppe müsse eine Mutprobe sein, um sich von der Angst vor dem Staat zu befreien.

Die Frauen vertreten die Philosophie einer antikapitalistischen Gesichtslosigkeit. Kapitalismus basiere auf dem Prinzip „Kaufen und Verkaufen“ und das funktioniere nur mit offenem Gesicht. Ein Mensch ohne Gesicht könne nicht

als Händler auftreten. Der Kapitalismus dulde keine Anonymität.

Schljapa fühlt sich am meisten den Anarchoindividualisten verbunden, die Gewalt und Revolution ablehnen und auf Aufklärung setzen. Den Staat mit seinen starren Institutionen erkennt sie in keiner Weise an. Sich selbst bezeichnet sie als Atheistin und aktive Pessimistin.

Es fallen noch drei weitere Begriffe: Progressivismus, Aktionismus und Situationismus, die man deutschen Lesern erst mal erklären müsste.

 

Ein neujähriges muslimisches Mädchen muss am schulischen Schwimmen teilnehmen und darf aus religiösen Gründen nicht dem Sportunterricht fernbleiben. Entschied ein Gericht in Bremen.

Wichtiger als religiöse Sonderregeln sei es, in der Grundschule soziale und koedukative Regeln zu lernen. Es gehe darum, die Grundwerte der Gleichberechtigung und Gleichbehandlung von Mann und Frau zu vermitteln, so das Gericht.

Was wäre, wenn es sich um ein jüdisches Mädchen gehandelt hätte? Partielles religiöses Recht gegen allgemeines oder universelles Recht.

 

In der TAZ wird über die Frage gestritten, ob Mohammed-Karikaturen Ausdruck westlicher Arroganz sind. Das ist eine psychologische Frage, die eine menschenrechtliche oder völkerrechtliche Frage überdeckt. Insofern ist die Frage „falsch“ gestellt.

Es geht um die Kollision zweier Rechtssysteme. Welches Recht soll bei uns gelten, das universelle Menschenrecht oder ein partielles Religionsrecht? Und was soll geschehen, wenn beide Rechtssysteme aufeinander prallen?

Die jüngsten Beispiele zur Illustration dieses Problems sind der Streit um die Beschneidung, die Weigerung muslimischer Eltern, ihre Tochter zum Schwimmunterricht zu lassen, der Widerstand verschiedener Sektierer, ihre Kinder in eine weltliche Schule zu schicken oder ihnen bei Krankheit eine Bluttransfusion zu gestatten, und nun die Auseinandersetzung um Mohammed-Karikaturen oder die Frage, ob ein Schmäh-Video trotz Meinungsfreiheit verboten werden soll.

Abstrahieren wir von allen politischen, psychologischen oder opportunistischen Zusammenhängen, müsste die Antwort jedes Demokraten klar sein: das allgemeine und gleiche Recht muss im Kampf gegen rivalisierende Sonderrechte obsiegen.

Denn Demokratie lebt von der Trennung von Staat und Kirche. Die Kirchen mussten ihre Privilegien und übergeordneten Rechte bei der demokratischen Nationenbildung in der Neuzeit aufgeben. Dieser Prozess ist in Deutschland – das bislang noch keine Demokratiebildung aus eigener Kraft zustande gebracht hat (Weimar wäre ohne Krieg und faktische Niederlage nicht möglich gewesen) – bis zum heutigen Tage unvollständig geblieben.

Noch immer gibt es Sonderrechte der Kirchen, die generellen Gesetzen der „Welt“ widersprechen. Deutsche Eliten sind stolz auf diesen Sonderweg, der – im Gegensatz zum doktrinären Laizismus der Franzosen, ja sogar der wiedergeborenen Amerikaner – die enge deutsche Verflochtenheit aus Glauben und Vernunft zeigen würde.

Dürfen wir überhaupt von historischen Zusammenhängen abstrahieren, wenn wir ein Rechtsproblem erörtern?

Wir müssen. Sonst haben wir das Prinzip des allgemeinen Rechts nicht verstanden, das alle Eigenheiten und zufälligen Ungleichheiten eines konkreten Falls zu ignorieren hat. Gleichgültig, aus welchen Motiven das Recht gebrochen wird: immer liegt ein Rechtsbruch vor.

Gibt es aber nicht riesige Unterscheide bei der Rechtsverletzung, die man berücksichtigen muss, um dem einzelnen Fall gerecht zu werden? Ein Totschlag im Affekt ist kein kaltblütiger Mord eines bezahlten Killers.

In der Tat müssen die besonderen Verhältnisse einer Tat berücksichtigt werden – aber nur bei der Frage der Bestrafung der Tat. Ob jede Rechtsverletzung bestraft werden muss, ist eine sekundäre Frage, die keine Rolle spielen darf bei der Beurteilung, ob eine Tat Recht gebrochen hat oder nicht. Die Kunst des Richters besteht in dem Versuch, die Einzeltat mit dem Gesetz auszutarieren und sowohl dem Individuellen wie dem Generellen gerecht zu werden.

Nehmen wir die Abtreibung. Hier wird das Tötungsverbot nicht aufgehoben, aber aus Gründen des „höherwertigen“ Rechts der Mutter, das Kind anzunehmen oder nicht, nicht mit Strafe verbunden.

Nehmen wir den Bundeswehrsoldaten, der aus Gründen staatlicher Notwehr oder sonstiger höherwertiger Staatsraison einen anderen Menschen vorsätzlich töten darf. Der Satz: Soldaten sind Mörder, wurde vom BVG Karlsruhe als Meinungsfreiheit akzeptiert. Präziser müsste der Satz lauten: Soldaten sind staatlich anerkannte Mörder.

Auch eingeschleuste V-Leute dürfen in bestimmter Hinsicht gegen Gesetze verstoßen, um schwere Verbrechen aufzuklären, ohne selbst belangt zu werden.

Das sind schwierige Grauzonen, die aber das Grundprinzip nicht aufweichen dürfen.

Demokratisch gesonnene jüdische Beschneidungsbefürworter können kein Interesse daran haben, das allgemeine Recht zugunsten eines religiösen Sonderrechts aufzuweichen. Ob sie sich mit „Straflosigkeit“ begnügen wollen, stößt in ihren eigenen Reihen auf heftigen Widerstand.

Schon im Mittelalter führte die Einführung des Prinzips „Der Jude ist schuldig, aber er soll nicht betraft werden“ zur allmählichen antisemitischen Aufheizung gegenüber „privilegierten“ Juden, deren Zinsgeschäfte man zwar dringend benötigte, aber aus moralischen Zwecken für sich selbst ablehnte.

Wie würden jüdische Beschneidungsbefürworter reagieren, wenn alle Muslime mit ähnlicher Vehemenz den Schulunterricht ablehnten, um nicht von irreligiösen Lehrinhalten infiziert zu werden?

Die kategorische Bemerkung, das Prinzip Beschneidung sei uralt, heilig und unverhandelbar, ist selbstherrlich und antidemokratisch, zumal es sich auf keine echte Diskussion einlassen will. Echte Debatten kennen keine höherwertigen Argumente aus Gründen traditioneller Anciennität oder sonstiger Heiligkeitstabus.

Es ist nicht auszuschließen, dass in dieser heiklen Frage – gerade vor dem Hintergrund deutscher Verbrechen – auch antisemitische Gefühle die Debatte bewusst oder unbewusst mitprägen. Hier müssen wir nach wie vor wachsam sein, denn niemand kann behaupten, er habe an dieser Stelle keine tiefsitzenden Probleme.

Gleichwohl sind Vermutungen der Art: ganz unverhüllt spüre man bei dem Streit einen antihumanen Geist, sinnlos und ebenfalls gefährlich. Denn auch sie sind geeignet, das sachlich gebotene Streitklima – was nicht Emotionslosigkeit sein muss – insofern zu gefährden, dass man die eigene Argumentationslosigkeit mit wahllos streuenden Verdächtigungen zu kompensieren versucht.

Niemand hat ein eingebautes tiefenpsychologisches Radargerät, mit dem er die Motivationen anderer Leute irrtumsfrei diagnostizieren könnte. Wer am lautesten Antisemitismus schreit, könnte am meisten unter Druck stehen, unliebsame psychische Hassregungen zu übertönen. Im Bereich der Sachdebatte hat man von rationalen Argumenten auszugehen oder aber unsachliche mit Hilfe von Sachargumenten zu überführen.

Ob jemand falsch rechnet, kann man nicht mit vermuteten ödipalen Komplexen nachweisen, sondern mit Hilfe der Rechenregeln. Alles andere liefe auf die professionelle Deformation von Psychoanalytikern hinaus, eine Sachkritik ihrer Patienten mit unbewussten Vatermordsbegehren niederzubügeln, weshalb Popper dieses Immunisierungsverfahren der Analytiker streng verwarf.

Warum gibt es keine sinnvollen Debatten zwischen Juden und deutschen Nichtjuden? Weil das ganze Feld von unbearbeiteten Befürchtungen und Unterstellungen noch immer kontaminiert ist. Es wäre mit Gewissheit besser, das ganze pseudorationale Getue einmal sein zu lassen und über eigene, unterdrückte Gefühle zu sprechen.

Doch wer hier begönne, käme in ein Minenfeld. Von allen Seiten müsste er sich vorhalten lassen, dass es in dieser Gesellschaft keine Tabus gebe und jeder alles behaupten könne. Die Pose: „man müsse doch einmal dies oder jenes sagen können“ sei die reinste Heuchelei. Schließlich lebten wir in der tabulosesten Epoche der deutschen Geschichte.

Eine größere Fehleinschätzung deutscher Gefühle (nicht nur an der Basis) seitens dominanter Eliten ist nicht denkbar. Gefühle sind keine politisch korrekten Aussagen und bräuchten denselben Bonus wie Schriftsteller, die mit Hilfe von Krimis ihre eigenen Tötungstriebe ausagieren können, ohne reale Morde begehen zu müssen. Davon sind wir noch weltenweit entfernt.

Zu den Pro- und Contra-Argumenten in der Mohammed-Debatte. Ob hier eine eurozentrische Arroganz vorliegt, wenn man „mit Absicht“ die Gefühle anderer Religionen oder Kulturen „kränkt“, mag auf den ersten Blick so scheinen, ist jedoch für die Grundsatzdebatte belanglos. Ebenso belanglos, wie wenn ein Fußgänger den Autofahrern zu verstehen gäbe, dass sie bei Rot gefälligst stehen zu bleiben haben, wenn er bei Grün in arroganter Pose vorbei defiliert.

Zuerst muss die „knallharte“ Ebene einer sachgemäßen Rechtsdebatte eingenommen werden. In keiner wissenschaftlichen Debatte kann jemand aus Mitleid Recht erhalten, nur weil er bei der Widerlegung seiner Thesen bitterlich heulen musste.

Um welche Arroganz soll es denn gehen? Um die, Menschenrechte zu haben, die andere Kulturen nicht haben? Oder um die, Menschenrechte nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Realität zu beachten?

Ist es Arroganz, wenn Merkel in Peking die Menschenrechtsverletzungen anspricht? Oder ist es mangelndes Selbstbewusstsein, vielleicht sogar Heuchelei des Westens, aus ökonomischen Wettbewerbsgründen diese Themen auszuklammern?

Müssen wir Profi-Relativisten wie Scholl-Latour und Helmut Schmidt nicht Recht geben, wenn sie davor warnen, westliche Werte anderen Kulturen missionarisch überzustülpen, aufzunötigen oder aufzuzwingen? Woher nehmen wir das Recht, unsere Werte für besser zu halten als die Werte anders denkender Nationen?

Vernunft ist die Fähigkeit, allgemeine Gesetze zu entdecken oder festzulegen. Zu entdecken im Bereich der objektiven Wissenschaften, festzulegen im Bereich der Gesetze oder universeller Rechte.

Ist es von der Vernunft nicht anmaßend, solche Universalitäten aufzufinden? Im Bereich der Naturwissenschaften wird niemand diese Frage bejahen. Denn niemand wird davon ausgehen, dass in China die mathematischen oder physikalischen Gesetzmäßigkeiten anders sein werden als in Texas.

Doch wie steht‘s mit der Anmaßung, ein zeitloses Recht für alle Menschen zu entwerfen (das Grundgesetz ruht auf einer Ewigkeitsklausel)? Auch Gesetze sind Verkörperungen kollektiver Moral. Unsinn ist der oft geäußerte Eindruck, der Staat sei eine moralisch indifferente Maschine.

Viele Relativisten gehen von der Theorie aus, jede Kultur habe das ihr angemessene Rechtssystem, das man von außen nicht verändern dürfe und könne. Weshalb es sinnlos wäre, den Arabern ein demokratisches Recht aufzuschwatzen.

Lamya Kaddor ist zwar für Meinungsfreiheit, gleichwohl stellt sie die Frage, ob es nicht Ausdruck eines „antireligiösen Chauvinismus“ sei, wenn man „ohne sachlichen Anlass“ die Empfindlichkeiten der Muslime kränken muss. Also aus gottlos-hämischer Schadenfreude. Und sie fragt: „Ist einzig Atheismus legitim?“

Wie in der Beschneidungsdebatte geht es auch hier nicht um eine Kollision zwischen Glauben und Nichtglauben. Sondern um den Aufprall zwischen allgemeinen und besonderen Rechten.

In der Tat kann man sich fragen, ob es in brenzligen Situationen nicht klüger wäre, in brennendes Feuer nicht noch zusätzlich Öl zu schütten, wie Michael Lüders zu bedenken gibt. Allein, kann es in bestimmten Situationen nicht zwingend sein, die bedrohte Freiheit der eigenen Rechte energisch mit einer entschiedenen und furchtfreien Tat zu schützen?

Hatte der dänische Mohammed-Karikaturist nicht ein moralisches Recht auf solidarische Loyalität aller europäischen Demokraten? Gab es nicht viel zu viel uneingestandene Angst vor dem mörderischen Terror einiger fundamentalistischer Islamisten? Muss man in bestimmten Situationen nicht der Devise folgen: Wehret den Anfängen?

Welch unabsehbare Folgen kann es haben, wenn die „Gekränkten“ militant feststellen: „Ah, die Europäer knicken sofort ein, wenn wir ihnen einige Molotow-Cocktails als Liebesgrüße aus den Bora-Bora-Höhlen zusenden“. Dann haben wir sie schon in der Hand.

Wäre es langfristig nicht besser, sofort Flagge zu zeigen und sich als wehrhafte Demokratie darzustellen, als unter dem Vorzeichen der Toleranz – die in sonstigen Fällen absolut angebracht wäre – nur seine Feigheit zu verstecken?

Diese Punkte werden von Lüders nicht debattiert. Allzuschnell wird von Hetze gegen Gläubige gesprochen, ohne zu bedenken, dass ohne religionskritische „Hetze“ der Aufklärer gegen religiöse und absolutistische Ideologien es heute keine einzige Demokratie geben würde.

Wer bestimmt, was Hetze und was angemessene Kritik an der Religion ist? Etwa die Religiösen? Dann hätte es nie eine Aufklärung gegeben. Man wirft Voltaire gern vor, er habe den jüdischen Glauben mit antisemitischen Verzerrungen überzogen. Vergessen wir nicht: mit derselben ätzenden Spottlust hat er auch das Christentum angegriffen.

Mit welch wüsten Drohungen und Beschimpfungen attackieren die Religionen ihre Kritiker? Seltsamerweise spricht davon niemand. Verglichen mit den höllischen Verdammungen der Dogmatiker sind die Gegenattacken der Nichtgläubigen – die keine Atheisten sein müssen – nichts als harmlose Mückenstiche.

Den Relativisten muss man Recht geben, wenn sie militante Beglückungsversuche des Westens strikt verurteilen. Doch was würden dieselben Relativisten sagen, wenn die Alliierten vor acht Jahrzehnten genau so relativistisch behauptet hätten – was sie anfänglich auch taten –, dass man die Deutschen ihrem Furor überlassen müsse, sie seien für westliche Humanitätswerte weder geeignet noch geschaffen?

Im Reigen der Völker spielte Deutschland mit seinem Sonderweg denselben Part wie heute die religiösen Sonderrechte in ihrem Kampf gegen das allgemeine Gesetz.

Hat Hamed Abdel-Samad nicht Recht, wenn er schreibt: „Es ist kein Ausdruck westlicher Arroganz, dass man Mohammed satirisch unter die Lupe nimmt. Arrogant ist es, wenn man davon ausgeht, dass Muslime noch nicht so weit sind, Humor zu verkraften und deshalb eine Sonderbehandlung brauchen. Mit dieser Einstellung hätte damals in Europa weder eine Renaissance noch eine Aufklärung stattgefunden.“

Fortsetzung folgt demnächst: Über Herkunft und Begründung des Universalismus